Читать книгу Einführung in die Religionsphilosophie - Winfried Löffler - Страница 11
2.3 Das Spektrum erhältlicher Religionsphilosophien
ОглавлениеWelche zusätzliche Rolle könnte der Religionsphilosophie angesichts dieser Vielzahl von Disziplinen noch zukommen? Und wie kann sich die Religionsphilosophie insbesondere folgendem Dilemma entziehen: Einerseits darf sie weder eine Religionswissenschaft im engeren Sinne sein (dann wäre sie in irgendeinem Sinne beschreibend und keine Philosophie), andererseits darf sie aber auch nicht in dem Sinne normativ sein, dass sie bestimmten Religionen verpflichtet ist (denn sonst wäre sie Theologie)? Angesichts der vielen Auffassungsunterschiede, die wir bezüglich der Religion und der anderen Religions-Wissenschaften kennen gelernt haben, ist mit einer unumstrittenen Antwort auf diese Frage nicht zu rechnen. Und tatsächlich – wer in einer größeren Bibliothek die unter „Religionsphilosophie“ eingereihten Bücher auch nur querliest, der wird schnell Zweifel bekommen, ob er es denn wirklich mit einer einheitlichen und abgrenzbaren Disziplin zu tun hat. Um die Unübersichtlichkeit zu reduzieren, sei als erste Orientierung eine Klassifikation von fünf Grundtypen von Religionsphilosophien vorgeschlagen. Freilich werden faktisch bei vielen Autoren Motive aus zwei oder mehreren Typen zusammenfließen. Die Liste ist dabei nach folgendem Gesichtspunkt angeordnet: vom Typ A bis zum Typ E tritt der Aspekt zunehmend deutlicher in Erscheinung, dass es um die Vernünftigkeit oder zumindest die vernünftige Rekonstruierbarkeit von Bestandteilen der Religion gehen soll. (Gegenüber einer ähnlichen Klassifikation in (19) ist diese Liste allgemeiner und lässt speziell einige neuere Strömungen der analytischen Religionsphilosophie besser einordnen.)
Typ A: Religionsphilosophie als Analyse und Artikulation der religiösen Befindlichkeit
Wir haben gesehen, dass eine allgemeine Definition der Religion bzw. auch nur eine Beschreibung des Religiösen nicht einfach ist – sogar dann, wenn man sich auf einigermaßen vertraute Religionen als Beispiele beschränkt. Nach einer verbreiteten Auffassung ist es nun die primäre Aufgabe der Religionsphilosophie, die „religiöse Befindlichkeit“, d.h. die besondere Art von Lebens- oder Weltgefühl bzw. die grundlegende Einstellung zur Wirklichkeit, die für Religionen prägend ist, zu analysieren und zu artikulieren. Als Paradebeispiel für eine solche Position wird häufig auf Friedrich Schleiermacher und seine Charakterisierung der Religion als „Gefühl schlechthinniger Abhängigkeit“ verwiesen (77). Historisch betrachtet ist dies eine inkorrekte Engführung, die etliche andere Aspekte von Schleiermachers Religionsphilosophie ausblendet ((18), Kapitel F). Religionsphilosophie bewegt sich nach dieser Auffassung im Grenzbereich zu religionsphänomenologischen Ansätzen, aber auch zur Religionspsychologie. Auch die Religionsphilosophie Ludwig Wittgensteins, soweit sie aus seinen verstreuten Stellungnahmen erhebbar ist, gehört in manchen ihrer Aspekte hierher (239).
Typ B: Religionsphilosophie als Frage nach dem Wesen der Religion
Andere Autoren setzen bei der erwähnten Vielaspektigkeit der Religionen an und verstehen unter „Religionsphilosophie“ den Versuch, die Komplexität dieses Phänomens zu verstehen und evtl. sogar eine Art „Wesen“ der Religion herauszuarbeiten. Die Grenzen zur Religionswissenschaft im engeren Sinne, also zur eher empirischen Beschreibung religiöser Phänomene, und insbesondere zu religionsphänomenologischen Ansätzen darin sind hier in vielen Fällen freilich fließend. Der erwähnte Rudolf Otto (90) wird beispielsweise ebenso oft als Religionswissenschaftler wie als Religionsphilosoph eingereiht. Deutliche Züge einer Typ B-Religionsphilosophie finden sich aber z.B. auch in den Werken von G. W. F. Hegel (62) und Martin Heidegger (113).
Typ C: Religionsphilosophie als Analyse der religiösen Sprache
Die Philosophie des 20. Jahrhunderts ist u.a. durch eine verstärkte Hinwendung zur Sprache gekennzeichnet (den sogenannten „linguistic turn“). Dahinter steckt die Einsicht, dass philosophische Untersuchungen ihren verlässlichsten (da öffentlich zugänglichen!) Ausgangspunkt in unserem sprachlichen Verhalten zur Wirklichkeit haben. Einen sprach-unabhängigen, direkten Zugriff auf die Wirklichkeit, sei es durch die Analyse unserer Gedankenwelt oder sonst irgendwie, gibt es nach dieser Auffassung also nicht. Nun ist gerade das religiöse Sprechen (im weitesten Sinne, von Beschwörungen über das Gebet, das Predigen, das Lossprechen bei der Beichte bis hin zum Theorien-Bilden in der Theologie) durch eine Reihe von Eigenarten gekennzeichnet. Mit dem Beschreiben irgendwelcher Fakten (das Jahrhunderte lang als die zentrale Funktion unserer Sprache angesehen wurde) haben die meisten dieser Sprachverwendungen wenig zu tun. Dementsprechend fassen viele Philosophen die Analyse der Eigenart der religiösen Sprache (und ihre Unterschiede zu anderen Sprachverwendungsweisen) als zentrale Aufgabe der Religionsphilosophie auf, und speziell aus den 1930er bis 1970er Jahren gibt es dazu eine reichhaltige Literatur ((237), (217)). Die inhaltlichen Ergebnisse der einzelnen Autoren differieren freilich beträchtlich, teils sind sie ausdrücklich religionskritisch (siehe unten Abschnitt 4.1).
Typ D: Religionsphilosophie als Verhältnisklärung zwischen religiösen und anderen Erklärungen
Allerdings gibt es neben vielen Unterschieden auch interessante Ähnlichkeiten zwischen der Religion und anderen Lebensbereichen. Eine Ähnlichkeit zwischen Religion und Wissenschaft besteht darin, dass in beiden Bereichen Behauptungen gemacht werden und dass beide Bereiche irgendwie mit „Erklärungen“ zu tun haben. So meinen etwa Gläubige vieler Religionen, dass sie über eine Erklärung für unser Herkommen, für das Zustandekommen und für den Sinn des Übels in der Welt verfügen. Nun gibt es zwischen religiösen und wissenschaftlichen Erklärungen sicher große Unterschiede (etwa taugen religiöse Erklärungen nicht für Prognosen und technische Verwertungen, man kann damit weder Vulkanausbrüche vorhersagen noch Brücken bauen), andererseits scheint es doch auch Ähnlichkeiten zu geben, die die Verwendung desselben Wortes „Erklärung“ rechtfertigen. So etwa müssen wissenschaftliche ebenso wie religiöse Erklärungen irgendeinen Erfahrungsbezug haben und bestimmten Mindeststandards logischer Stimmigkeit gehorchen (siehe Teil 5). Auch scheint es wissenschaftliche Erklärungen zu geben, die in Bezug auf Prognosen und technische Verwertbarkeit zwar ähnlich wenig leisten wie religiöse Erklärungen, die uns andererseits aber doch einen Wirklichkeitsbereich besser verstehen lassen. Die Erklärungen, die die Evolutionstheorie bietet, wären ein Beispiel dafür: Sie sagt uns, woher die biologische Vielfalt kommt, gestattet aber kaum gehaltvolle Voraussagen künftiger Entwicklungen. Viele Autoren betrachten es als zentrale Aufgabe der Religionsphilosophie, die Eigenart religiöser Erklärungen und die angedeuteten Ähnlichkeiten und Unterschiede zu anderen Erklärungsweisen näher herauszuarbeiten. Ein prominentes Beispiel aus der Gegenwart ist Richard Swinburne (der aber auch unter Typ E gehört, (196), (199)). Das Verhältnis religiöser zu anderen Erklärungen war aber auch ein wichtiges Thema bei Wittgenstein (239).
Typ E: Religionsphilosophie als Verteidigung der (Un-)Vernünftigkeit der Religion, oder sogar einer bestimmten Religion
Damit ist noch die Frage offen, ob religiöse Erklärungen etwas Vernünftiges oder Unvernünftiges sind. Viele Autoren betrachten den Antwortversuch auf diese Frage als zentrale Aufgabe der Religionsphilosophie, und sie erachten daher diese Frage als eine sinnvoll stellbare Frage. Freilich fallen die Antworten auf diese Frage durchaus unterschiedlich aus: Es gibt hier Positionen, die die Vernünftigkeit des religiösen Glaubens, oder sogar einer bestimmten Religion, philosophisch verteidigen wollen, ebenso wie Positionen, die die Unvernünftigkeit der Religion begründen wollen (letztere Positionen fasst man häufig unter dem Stichwort „Religionskritik“ zusammen). Religionsphilosophien vom Typ E können dabei inhaltlich gesehen sehr unterschiedliche Formen annehmen. Hierher gehört die traditionelle philosophische Gotteslehre, hierher gehören aber auch verschiedene Argumente aus religiöser Erfahrung und andere Begründungen mehr. Eine Übersicht über diese Begründungsformen findet sich in Abschnitt 3.1, und die nähere Analyse ihrer jeweiligen Hauptargumente bildet den Schwerpunkt dieses Buches.
Religionsphilosophie und Religionskritik
Zur Religionsphilosophie gehören keineswegs nur die Untersuchungen von Autoren, die der Religion insgesamt freundlich bis verteidigend gegenüberstehen. Religionsphilosophie grenzt sich durch ihr Thema und nicht durch die genauen Inhalte der jeweiligen Stellungnahmen ab. Ein wesentlicher Teil der neuzeitlichen Religionsphilosophie (wenngleich mit Vorläufern bis in die Antike) ist die sogenannte Religionskritik, die die Inhalte und sozial-kulturellen Auswirkungen der Religion argumentativ kritisiert (siehe unten Abschnitt 3.1 und (ausführlich) Teil 4).
Eine Sonderform: Ablösung von Religion durch Philosophie oder Wissenschaft
Eine Sonderform von Religionsphilosophien vom Typ E sind jene Positionen, die der Religion zwar eine relative, vorübergehende Berechtigung zusprechen, die aber von einer längerfristigen Ablösung der Religion durch philosophische oder wissenschaftliche Theorien ausgehen. Solche Positionen kommen in eher religionsfreundlichen wie auch religionskritischen Varianten vor. Für Auguste Comte etwa vollzieht sich die Geschichte der Menschheit als Übergang von einem religiös-magischen über ein pseudowissenschaftlich-metaphysisches hin zu einem wissenschaftlichen Stadium. Dieses Deutungsmuster wurde von vielen Philosophen im 19. Jahrhundert übernommen, etwa von Franz Brentano. Georg Wilhelm Friedrich Hegel und andere Vertreter des „Deutschen Idealismus“ gingen noch weiter und versahen die Welt- und Menschheitsgeschichte mit einer spekulativen, geschichtsphilosophischen Deutung (zur Geschichtsphilosophie siehe (283)). Diese Geschichte sei insgesamt ein Prozess, in dem sich der göttliche „absolute Geist“ zu sich selbst entwickelt. Die Religionen, vorzugsweise das Christentum als Offenbarungsreligion, seien ein Weg, auf dem der endliche, menschliche Geist in einen vorblickhaften Kontakt mit dem unendlichen Geist treten könne ((19), S. 37–44).
Zusammenhänge zwischen diesen Typen
Wie gesagt, kommen die vorstehenden Typen meist nicht rein vor, und die Arbeiten vieler Autoren wären mehreren Typen zuordenbar. Weitergehende Überlegungen könnten das gegenseitige Verhältnis von Religionsphilosophien der Typen A bis E betreffen: Etwa wäre es interessant zu fragen, inwieweit sich Religionsphilosophien vom Typ B in der Regel auch das Anliegen jener vom Typ A zu eigen machen, diejenigen vom Typ C auch das Anliegen jener der Typen A und B, oder umgekehrt, usw. Diese Fragen seien dem Leser zur eigenen Überlegung überlassen.