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2.1 „Religion“: Versuch einer Abgrenzung

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Die Gegenwart religiöser Denkformen

Bis vor einigen Jahren galt die „Säkularisierungsthese“, derzufolge Religionen und als religiös einzustufende Denkweisen, Ideen und Verhaltensformen langsam an Bedeutung verlieren würden, beinahe als Gemeinplatz. Heute dagegen scheint Religion – wenn schon nicht als gelebte Praxis, so doch zumindest als Thema der öffentlichen Diskussion – präsenter als kaum je zuvor; beispielsweise gibt es kaum eine größere nationale und internationale politische Krise, die nicht irgendwelche religiöse Nebenaspekte hat oder der man solche Aspekte zumindest zuzuschreiben versucht. Ob Religion heute insgesamt auf dem Rückzug oder auf dem Vormarsch ist, wird unterschiedlich eingeschätzt ((82a), (87)), und Indizien deuten in verschiedene Richtungen. Ein hoher Prozentsatz der Bevölkerung bekennt in Umfragen ein Naheverhältnis zu einer Religion oder stimmt zumindest manchen Behauptungen über die Existenz überirdischer Mächte, über ein Weiterleben nach dem biologischen Tod etc. zu. In Westeuropa scheinen dabei die etablierten Religionen (primär sind das die großen christlichen Konfessionen) an Mitgliedern und Einfluss zu verlieren. Für Osteuropa, die beiden Amerikas, Südostasien und die islamisch dominierten Gebiete der Welt kann dies schon nicht mehr mit selber Einheitlichkeit gesagt werden. Und der Befund würde noch viel differenzierter ausfallen müssen, wenn man die ganze Welt und die verschiedensten Religionsgemeinschaften mit einbezieht. Parallel dazu deuten empirische Untersuchungen auf einen Zuwachs von nicht-konfessionell gebundener Religiosität hin, also auf religiöse Praktiken, Meinungen und Denkformen jenseits der relativ festen Formen, wie sie in traditionellen Religionsgemeinschaften herrschen. Als Stichwörter seien etwa der Esoterik-Boom der letzten Jahre und die vielfach beobachtbare sogenannte Auswahlreligiosität genannt (d.h. persönlich gelebte Mischformen, z.B. von westlicher und östlicher Religiosität). In eine wiederum andere Richtung deutet das Phänomen religiöser Erneuerungsbewegungen, die sich zwar innerhalb der etablierten Religionsgemeinschaften entwickeln, aber für einen kleineren Personenkreis einen intensiver religiös geprägten Lebensstil propagieren. Zuweilen kehrt auch das Phänomen wieder, dass politische Gruppen und Akteure ihr Handeln ausdrücklich religiös begründen. Dies gilt nicht nur für religiös verfasste Staaten wie etwa den Iran, sondern ist auch in den USA und vereinzelt in Europa zu beobachten. Neuere vehement religions kritische Strömungen wie der „Neue Atheismus“ wenden sich u.a. gegen solche Einflussnahmen.

Religiöse Prägungen auch der „säkularen“ Kultur

Unabhängig von diesen neueren Entwicklungen sind in unseren westlichen, oft als aufgeklärt und säkularisiert (d.h. religionsfern, verweltlicht) bezeichneten Gesellschaften zahlreiche Verhaltensweisen, Ideen, soziale Institutionen etc. zu beobachten, die man in einem weiteren Sinne als religiös bezeichnen kann. Etwa sind unser Kalender und das öffentliche sowie das private Leben nach wie vor stark von den jüdisch-christlichen Ruhe- und Festzeiten bestimmt. Offizielle Vertreter der Religionen genießen bei öffentlichen Anlässen nach wie vor besondere Aufmerksamkeit, und ihre Stellungnahme zu bestimmten Themen hat hohes politisches und moralisches Gewicht. Allein durch Tradition ist das wohl nicht erklärbar, wie etwa der Vergleich mit dem Adel oder dem Militär als heute weitgehend bedeutungslos gewordenen traditionellen Autoritäten zeigt. Besonders an einschneidenden Lebenswenden (etwa Geburt, Familiengründung, Tod) werden die rituellen Angebote der Religionen auch von jenen Personen gerne nachgefragt, die sonst nicht aktiv an den besonderen Lebensvollzügen der Religionen teilnehmen. Daneben prägen religiöse Ideen auch unser Denken in anderen Bereichen auf mannigfaltige Weise, ohne dass dies vielen Menschen bewusst wäre. Etwa hat das für moderne Rechtsordnungen kennzeichnende Menschenrechtsdenken unter anderem eine religiöse Wurzel, nämlich den jüdisch-christlichen Gedanken der allen Menschen von Gott gleichermaßen verliehenen Bedeutung und Würde.

Religionen als komplexe Phänomene

Religionen sind äußerst komplexe Phänomene. Zu ihnen gehören rituellkultische Handlungsformen, besonders bedeutsame Zeiten und Orte (wie etwa Festzeiten, Abstinenzzeiten, Heiligtümer, Tabuzonen, etc.), gebets- und meditationsartige Verhaltensformen, eine Gemeinschaft von Anhängern bzw. Mitgliedern, die in aller Regel irgendwie sozial strukturiert ist (so gibt es häufig verschiedene Rollen der Mitglieder, als Amtsträger, religiöse „Experten“ und normale Mitglieder, damit verbundene unterschiedliche Kenntnisse und Befugnisse, verschiedene Klassen von Mitgliedern und Ähnliches mehr). Religionen sind weiters mit einem Bündel kognitiver, theorieähnlicher Gehalte verbunden. Dies sind etwa Meinungen über die Existenz von einem oder mehreren göttlichen Wesen oder anderen „transzendenten“ (von lat. transcendere, überschreiten) d.h. nicht zur vordergründigen, allgemein zugänglichen Wirklichkeit gehörenden Gegenständen, wie Göttern, Geistern, Engeln und geheimen Kräften. Häufig gehören dazu auch Meinungen über die Herkunft der Welt und das Schicksal der Menschen nach ihrem biologischen Tod. Viele Religionen erfüllen dabei sogar eine sehr umfassende Orientierungsfunktion, weil sie so etwas wie ein Weltbild anbieten, das auf viele tiefgehende Fragen des Menschen eine Antwort bereithält. Die meisten Religionen rechnen außerdem mit der Möglichkeit spezieller Formen religiöser Erfahrungen. Solche Erfahrungen können persönlich oder gemeinschaftlich erlebt werden und unterschiedlich spektakulär ausfallen, von Gemeinschafts- und Vereinigungserlebnissen bis hin zu Heilungs- und Offenbarungserlebnissen. Religionen sind darüber hinaus meist mit einer religiösen Moral verbunden, d.h. mit einem Bündel von speziellen Verhaltensnormen (Geboten, Verboten, Tabus etc.) und Vorstellungen vom vollkommenen, geglückten, anzustrebenden Lebensstil. Die Kontrolle und Sanktion bei Normverstößen kann dabei durchaus unterschiedlich gedacht sein, von innerweltlichen Sanktionen seitens der Gruppe oder ihrer Amtsträger (Bestrafung, Ausschluss, etc.) bis hin zu transzendenten Sanktionen durch Gottheiten u.a.

Vielfalt der Religionen und der „religiösen“ Phänomene

Diese hier allgemein und schablonenhaft beschriebenen Bestandteile werden bei den einzelnen Religionen natürlich mit sehr unterschiedlichen Inhalten gefüllt. Auch die Gewichtung der einzelnen Faktoren fällt sehr unterschiedlich aus. Es gibt etwa Religionen mit sehr starken theorieähnlichen Bestandteilen, die dafür sogar so etwas wie eine wissenschaftliche Theologie entwickelt haben (wie z.B. Christentum und Islam), während in anderen Religionen die soziale Struktur und die rituellen Verrichtungen im Zentrum der Aufmerksamkeit stehen. Wieder andere Religionen stellen die religiöse Moral und das rechte Handeln am Mitmenschen in den Vordergrund.

Es würde den Rahmen dieses Buches sprengen, näher auf einzelne Religionen einzugehen; wer das Gefühl hat, diesbezüglich über kein ausreichendes Basiswissen zu verfügen, sei auf (95), (91) und andere Übersichtswerke verwiesen. Hervorragende allgemeine Einführungen in die Religionswissenschaft bieten (84), (92), (97) und (98).

Warum es keine allgemein akzeptierte Religionsdefinition gibt

Es gibt gegenwärtig keine allgemein akzeptierte Definition für Religion. Dies hat mehrere Gründe. Der wichtigste Grund ist schlicht die immense Vielfalt an faktisch existierenden Religionen und sonstigen als religiös anzusprechenden Phänomenen. Der zweite Grund ist, dass auch die Etymologie (Lehre von den Wortherkünften, die mitunter Aufschluss über die ursprüngliche Bedeutung und Funktion eines Wortes gibt) im Falle der Religion keine Hilfe ist. Die Wortherkunft ist nämlich völlig unklar, es ist heute nicht mehr entscheidbar, ob das Wort „Religion“ vom lateinischen „religare“ (rückbinden, wieder binden), von „relegere“ (sorgsam beachten) oder von einer anderen Wurzel her kommt. Ein dritter Grund liegt noch tiefer: Es ist nicht einmal problemlos abzugrenzen, was denn hier eigentlich der zu definierende Gegenstand ist, und anhand welcher Phänomene man ihn studieren kann. Die lateinischen und deutschen Wörter „religio“ / „Religion“ bezeichnen nämlich einen Bereich des Religiösen, der vom sonstigen Denken und Handeln der Menschen sowie von sonstigen sozialen Ordnungen relativ klar abgrenzbar ist. Dies war in der römischen Welt der Fall, und diese Abtrennbarkeit prägt seither unser westliches Denken. Dabei sollte aber nicht vergessen werden, dass schon in vielen anderen Sprachen nicht einmal ein Wort für einen solchen abgrenzbaren Bereich des Religiösen existiert. Dies gilt z.B. für das Altgriechische (also die Sprache einer Welt, die der römischen eigentlich kulturell sehr ähnlich war). Es gilt auch für das Arabische, wo das Wort „din“, das oft als Übersetzung von „Religion“ vorgeschlagen wird, eher den ganzen Komplex von Religion / Glaube / Wille Gottes / Überlieferung / Sitte / Brauch / Lebensform bedeutet. Überhaupt gilt folgender Zusammenhang: Je stärker eine Kultur religiös geprägt ist, umso schwerer ist die Abgrenzung von „Religion“ (in unserem abendländischen Sinne) und sonstigen Bestandteilen der Kultur möglich. Wer sich aufmacht, eine allgemeine Definition von „Religion“ zu finden, der steht also vor folgendem Dilemma: entweder man wird mit einer „weiten Optik“ vorgehen – aber dann versucht man etwas zu finden, was es so, als eigenständigen Gegenstand, vermutlich gar nicht gibt, weil die religiösen Phänomene eben so verschieden sind. Oder man wird mit einer „engen Optik“ vorgehen und seine Definition von „Religion“ anhand von Phänomenen suchen, die man eben durch die Brille seines abendländischen Religionsbegriffs als „religiöse“ Phänomene einordnet. Damit aber dreht man sich gewissermaßen im Kreis, denn eine so gefundene „allgemeine Religionsdefinition“ wird dann im Ergebnis wieder sehr am abendländischen Verständnis von Religion orientiert sein.

Verschiedene Vorschläge für Definitionen

Aufgrund der eben besprochenen Probleme herrscht in den Religionswissenschaften weitgehende Einigkeit darüber, dass es keine allgemein akzeptierte Definition dessen gibt, was eine „Religion“ ist, und dass auch die weitere Suche danach nicht sehr aussichtsreich ist. Allerdings ist es für einen Wissenschaftsbereich beunruhigend, wenn sein Untersuchungsobjekt nicht klar abzugrenzen ist. Daher wurden verschiedene Auswege aus dieser Situation versucht.

Substantialistische / essentialistische Definitionen

Einige Wissenschaftler streben danach, letztlich doch so etwas wie eine Definition des Wesens (lat. essentia) oder der Substanz jedweder Religion anzugeben. Besonders ältere Vertreter sogenannter „phänomenologischer“ Zugänge sind (trotz der erwähnten Probleme) optimistisch, dass dies gelingen könnte. Das Mittel hierzu sei unsere Fähigkeit zu einem verstehenden Erleben, zu einer Art Wesensschau bei der Betrachtung von Phänomenen. Als ein solches Wesen der Religion wurde u.a. vorgeschlagen:

– der Bezug auf und die existenzielle Wechselbeziehung mit einem Gott oder mehreren göttlichen Wesen (so etwa Günter Lanczkowski (88)), oder etwas allgemeiner,

– der Glaube an irgendwelche geistige, übermenschliche oder außernatürliche Wesen (so etwa Edward Burnett Tylor im späten 19. Jh. und Melford E. Spiro im 20. Jh.),

– die Einteilung der Wirklichkeit in eine heilige / sakrale und eine profane Sphäre, wobei das Heilige auch in irgendeiner Form erfahrungsmäßig zugänglich ist (Nathan Söderblom, Rudolf Otto, Gustav Mensching u.a.). Besonders einflussreich wurde dabei Rudolf Ottos Begrifflichkeit (Das Heilige, 1917 (90)). Otto bezeichnete das „Numinose“ als den zentralen Gegenstand des Heiligen (also seinen eigentlichen Inhalt, unter Absehung von seinen moralischen und theoretischen Aspekten). Der Charakter des Numinosen wiederum könne als mysterium tremendum et fascinosum (etwa: „gleichzeitig furchterregendes und faszinierendes Geheimnis“) beschrieben werden. Schließlich gibt es auch

– Kombinationen mehrerer dieser Aspekte, wie etwa den Vorschlag, Religion sei die gemeinschaftliche Antwort des Menschen auf Transzendenzerfahrung, die sich in Ritus und Ethik Ausdruck gibt (Theo Sundermeier (93)).

Drei Engpässe essentialistischer Definitionen

Die Probleme solcher essentialistischer Definitionen liegen auf der Hand (und sie überraschen nach dem oben Gesagten nicht): Etliche dieser Vorschläge sind offenkundig an abendländische Religionsvorstellungen angelehnt (wo es einen transzendenten Gott oder einige solcher Wesen gibt, also jedenfalls so etwas wie ein „transzendentes Gegenüber“). Es ist aber nicht klar, ob damit wirklich alle „Religionen“ erfasst sind. Immer wieder genannte Gegenbeispiele sind etwa der frühe Buddhismus und der Konfuzianismus. Man klassifiziert sie gewöhnlich als Religionen, obwohl es in ihnen (zumindest nach verbreiteter Ansicht) keine Götter oder sonstige Transzendenzbezüge gibt.

Ein weiteres Problem essentialistischer Definitionen ist die Gefahr des Reduktionismus (von lat. reducere, zurückführen: engführende Betrachtung eines komplexen Phänomens). Wer das Wesen einer Religion an einigen entscheidenden Eigenschaften festmachen zu können glaubt, der läuft Gefahr, andere, möglicherweise ebenfalls wichtige Aspekte zu übersehen. So etwa wurden im 19. und frühen 20. Jh. häufig die moralischen oder auch die kognitiv-theoretischen Aspekte der Religion überbetont, was u.a. dazu geführt hat, dass die Bedeutung und Funktion von Ritualen für die Religionen lange Zeit unterschätzt wurde.

Ein drittes Problem ist, dass essentialistische Definitionen für die Abgrenzung zwischen religiösen und nicht-religiösen Phänomenen weniger leistungsfähig sind, als man zunächst glauben möchte. (Religionsdefinitionen sollen ja auch den Nutzen haben, dass man mit ihrer Hilfe solche Abgrenzungen vornehmen kann.) Man kann dies anhand simpler Beispiele erläutern:

Sind etwa Erntedank- und Winzerfeste, die Sonntagsruhe, Weihnachtspost oder die Einhaltung von Osterbräuchen auch in ansonsten nicht-religiösen Familien, sind die Verwendung von Weihnachtsmännern und Engeln als Werbeträger nun religiöse oder nicht-religiöse Phänomene? (Noch schwerer fällt die Abgrenzung in Gesellschaften, deren Kultur stärker religiös geprägt ist.) Essentialistische Religionsdefinitionen tragen zu einer solchen Abgrenzung nun wenig bei: Wer der Meinung ist, das Wesen der Religion sei ihr Transzendenzbezug, der weiß damit im konkret vorliegenden Einzelfall noch nicht, ob dieser Transzendenzbezug nun auch gegeben ist, ob man es also mit einem religiösen Phänomen zu tun hat oder nicht. Genau dasselbe Problem besteht für die anderen aufgelisteten essentialistischen Definitionen.

Funktionalistische Definitionen

Funktionalistische Definitionen der Religion versuchen den genannten Problemen auszuweichen. Die funktionalistische Betrachtungsweise fragt nicht, was Religionen „ihrem Wesen nach“ sind, sondern was sie im Leben des einzelnen und der menschlichen Gemeinschaften leisten und bewirken, welche Funktionen sie haben. Diese Betrachtungsweise ist näher an den empirisch fassbaren Seiten der Religion. Sie wird häufig von Autoren gewählt, die ihren Hintergrund in der Soziologie oder in der Ethnologie haben.

Einen Vorläufer funktionalistischer Definitionen findet man bereits in der Religionskritik des 19. Jahrhunderts. Karl Marx etwa sah in der Religion das „Opium des Volkes“ (73). Er meinte damit einen Bereich, in den die geknechteten Menschen ihre unerfüllten Ideale vom glückenden Leben projizieren konnten, und der gleichzeitig eine Quelle der Beruhigung war (denn im geglaubten Jenseits werde alles besser, es werde Vergeltung für die Leiden, Verzichte und Ungerechtigkeiten auf dieser Welt geben). Insgesamt hat die Religion nach Marx also die Funktion, psychisch und politisch stabilisierend zu wirken. Da sie damit aber den herrschenden (ausbeutenden) politischen und wirtschaftlichen Verhältnissen zuarbeitet, war die Religion (insbesondere das Christentum) nach Marx auch negativ zu bewerten und daher zurückzudrängen (Lenin sprach später vom „Opium für das Volk“ (72), siehe später Abschnitte 4.45). Ohne eine solche wertende Perspektive sehen auch Soziologen und Ethnologen wie Emile Durkheim, Bronislaw Malinowski und Talcott Parsons das Wesen der Religion in ihrer stabilisierenden und harmonisierenden Funktion. Religionen trügen zur Stabilisierung sozialer Systeme bei, insofern sie Menschen in die Gesellschaft integrieren und gemeinschaftsförderndes Verhalten motivieren, indem sie geltende soziale Normen auf einen letzten Grund zurückführen, indem sie Krisenerfahrungen des Einzelnen und der Gruppe, insbesondere die Erfahrung des Todes und des Leidens, durch Rituale und Sinndeutungen bewältigen helfen, und anderes mehr.

Probleme funktionalistischer Definitionen

Ein Problem solcher Konzeptionen ist ihre fragliche empirische Adäquatheit. Die Erfahrung scheint doch zu zeigen, dass Religionen auch ausgesprochen destabilisierende und harmoniestörende Wirkung haben können (man denke etwa an religiös motivierten Terrorismus oder an manche gewalttätige und organisiert-kriminelle Facetten der Voodoo-Religion auf Haiti). Der Funktionalist kann auf diesen Einwand vermutlich nur mit Auswegen reagieren, die allesamt nicht sehr attraktiv erscheinen: Entweder werden solche Phänomene als „gar nicht wirklich religiös“ bzw. eine Art „Verirrung des Religiösen“ weginterpretiert, oder es wird gesagt, solche Verhaltensweisen würden letztlich doch zur Stützung irgendwelcher kultureller Systeme beitragen – vielleicht eben anderer. Beide Auswege erinnern jedoch stark an sogenannte Immunisierungsstrategien (d.h. vorsorgliche Absicherungen einer Position gegen Einwände jedweder Art).

Weitere Probleme hängen mit dem Harmonieideal zusammen, das diese Definitionen offenbar stillschweigend voraussetzen. Kulturen scheinen dann ideal zu funktionieren, wenn ihre Teilsysteme (z.B. Wirtschaft, Recht, politische Entscheidungsfindung, Religion, sonstige Wertvorstellungen) miteinander in Harmonie stehen. Man könnte sich aber erstens fragen, ob und wie dieses Harmoniemodell überhaupt begründbar ist (schwierig daran ist sein normativer Charakter, denn es setzt ja anscheinend voraus, dass es Maßstäbe für „funktionierende“ und „weniger gut funktionierende“ Kulturen gibt). Zweitens ist fraglich, wie weit das Modell anwendbar ist. Vermutlich ist das Modell anhand kulturell und religiös sehr homogener Gesellschaften geprägt worden, wie sie von Religions-Ethnologen gern studiert werden. Es ist aber nicht sicher, ob es auch auf moderne, multikulturelle und multireligiöse Gesellschaften passt. Denn was hieße es etwa genau, von der Gesellschaft eines Staates wie Deutschland zu sagen, dass die einzelnen Teilsysteme ihrer Kultur in Harmonie miteinander sind? Und erst recht, worin bestünde die Stützungsfunktion der verschiedenen Religionen dafür?

Weitere funktionalistische Definitionsversuche: Religion als Transzendenzbewältigung, Komplexitätsreduktion und Kontingenzbewältigung

Die eben erwähnten Probleme machen verständlich, dass es auch funktionalistische Definitionen gibt, die nicht nur bei der Stabilisierung der Gesellschaft und der Kultur ansetzen, sondern mindestens ebenso stark auch die Orientierungsfunktion der Religion für das Individuum betonen. So etwa ist nach den Religionssoziologen Peter L. Berger und Thomas Luckmann unser gesamtes Leben von kleineren und größeren „Transzendenzen“, d.h. vereinfachend gesagt Wissenslücken und Unsicherheiten gekennzeichnet, deren größte der Tod und die Frage nach dem letzten Sinn der Wirklichkeit ist (siehe etwa (89) und (86) sowie die Texte von Berger und Luckmann in (82)). Religionen bieten hinsichtlich dieser großen Transzendenzen Orientierung. (Um Missverständnisse zu vermeiden: Dieser Begriff der Transzendenz ist nicht derselbe wie die in 2.6 zu besprechende Transzendenz Gottes.)

Im Grunde in eine ähnliche Richtung geht Niklas Luhmanns Religionsdeutung im Rahmen seiner Systemtheorie. Nach Luhmann hat die Religion die Funktion der „Komplexitätsreduktion“ und „Kontingenzbewältigung“. Um uns in der unübersehbaren und unendlich komplexen Umwelt orientieren zu können, müssen wir Teile davon herausgreifen, ihnen einen Sinn zuschreiben und sie durch Verhaltensregeln erschließen. Dadurch erfolgt „Komplexitätsreduktion“. Dieser Prozess der Orientierungssystemfindung bleibt allerdings immer unabgeschlossen, jedes so gebildete Orientierungssystem ist „kontingent“ (d.h. „zufällig“ in dem Sinne, dass es auch ganz anders aussehen und jederzeit wieder geändert werden könnte; von lat. contingere, zutreffen, sich zutragen). Es verbleibt also immer noch ein Übermaß an Komplexität. Die Religion hat nun die Funktion, diese Komplexität weiter zu reduzieren, indem sie manche Orientierungssysteme gleichsam als unausweichlich hervorhebt (81).

Probleme dieser Definitionen

Bergers/Luckmanns und Luhmanns Definitionen scheinen zunächst den Engpässen der vorher besprochenen Definitionen ausweichen zu können.

Insbesondere scheinen sie tatsächlich das angestrebte weite Anwendbarkeitsfeld zu haben, das essentialistischen Definitionen fehlt. Bei näherer Betrachtung dürfte sich dieser Vorteil allerdings als Nachteil erweisen. Die Definitionen sind nämlich derart weit, dass auch allerlei Phänomene darunter fallen, die kaum jemand als religiös einordnen würde. Zur Transzendenzbewältigung und Komplexitätsreduktion dienen nämlich auch Wertsetzungen und Ideologien verschiedenster Art, politische Programme, einige philosophische Systeme wie der Marxismus, psychologische Theorien und Techniken, Traditionen, Vorurteile, starke persönliche Anhänglichkeiten an Hobbies sowie Musik- und Sportidole, an Markenprodukte, usw. Ganz ähnliche Einwände der Trivialisierung und Inhaltsleere betreffen die erwähnte weite Definition von Transzendenz(en): Nicht jede Unsicherheit, jede Wissens- und Erklärungslücke, und sei sie auch bedrückend und gravierend, ist schon Transzendenz im religiösen Sinn.

Warum die Definitionsfrage gar nicht so entscheidend ist

Es gibt also beachtenswerte Definitionsversuche aus verschiedenen Richtungen, aber keine allgemein akzeptierte Definition der Religion bzw. religiöser Phänomene. Das mag auf den ersten Blick als fatale Situation erscheinen, sowohl für die Religionswissenschaften im weiteren Sinne als auch für die Religionsphilosophie im Besonderen.

Bei näherer Betrachtung sind diese Unklarheiten allerdings weit weniger bedeutsam. Zunächst relativieren sie sich schon, wenn man einige andere Wissenschaften vergleichsweise heranzieht. Auch z.B. in der Psychologie, der Soziologie oder manchen Kulturwissenschaften ist ja nicht ganz klar und unstrittig, was genau ihr Gegenstand ist. Dennoch würde kaum jemand bestreiten, dass diese Wissenschaften grundsätzlich möglich sind. Für die Religionswissenschaften müsste dann zumindest dasselbe gelten.

Allerdings gibt es hier noch einen Einwand: Kann man nämlich Religionsphilosophie betreiben, ohne über eine allgemeine Definition der Religion zu verfügen? Schließlich hat es Philosophie immer mit sehr allgemeinen Überlegungen zu tun, und man könnte daher meinen, dass sie vom Mangel einer allgemeinen Definition besonders betroffen sein müsste. Dagegen spricht jedoch folgende Überlegung: Eine ganz allgemeine Definition der Religion, die auf alle faktischen Religionen passt, wäre notwendigerweise ein sehr inhaltsarmes, abstraktes Konstrukt. Manche religionsphilosophisch durchaus interessanten Aspekte würden ihm vielleicht schon wieder fehlen (Religionen sind ja, wie weiter oben erläutert, äußerst komplexe Phänomene). Zum Beispiel wäre das Gebet ein religionsphilosophisch zweifellos interessantes Phänomen: Glauben betende Menschen irgendwie auf die Welt einzuwirken, wollen sie in Kontakt mit einer außerweltlichen Wirklichkeit treten, wollen sie primär sich selbst und ihre eigene Weltsicht verändern, oder etwas anderes? Nun hat das Gebet in den einzelnen Religionen aber einen sehr unterschiedlichen Stellenwert, z.T. gar keinen. In einer wirklich ganz allgemeinen Religionsdefinition würde das Gebet also nicht erwähnt werden. Das Gebet scheint also ein solcher Fall eines religionsphilosophisch interessanten Phänomens zu sein, das von einer allgemeinen Religionsdefinition nicht erfasst würde. Insgesamt scheint also das Fehlen einer allgemeinen Religionsdefinition die Religionsphilosophie nicht schlimmer zu treffen als die anderen Religionswissenschaften.

Religionen als komplexe Phänomene mit „Familienähnlichkeiten“ untereinander

Damit scheinen wir uns jedoch in ein Problem hineinzumanövrieren. Wie kann man einerseits von komplexen, nicht genau definierbaren Phänomenen sprechen, sie andererseits aber doch mit dem gemeinsamen Wort „Religion“ zusammenfassen? Die Antwort auf diese Frage baut auf eine Überlegung von Ludwig Wittgenstein auf. Er hat bezüglich eines viel einfacheren Phänomens eine ähnliche Situation diagnostiziert, nämlich bezüglich des Spiels ((250), Philosophische Untersuchungen §§ 66f.). Es erscheint kaum möglich, eine allgemeine Definition aller Spiele zu finden, die so unterschiedliche Spiele wie z.B. Fußball, Schach, Patiencenlegen, Computerspiele und Tanzspiele abdeckt. Daraus folgt allerdings noch nicht, dass man gar keine allgemeinen philosophischen Betrachtungen über Spiele anstellen könnte. Dazu genügt es nämlich durchaus, wenn es eine Menge an größeren und kleineren Ähnlichkeiten zwischen verschiedenen Spielen gibt. Wittgenstein nannte sie „Familienähnlichkeiten“ (weil sich auch Familienmitglieder in diversen Merkmalen gleichen, ohne dass jedes Mitglied jedes dieser Merkmale haben müsste).

Auf solche Familienähnlichkeiten wird man anhand besonders einprägsamer, zweifelsfreier Beispielfälle aufmerksam. Dann fällt es leichter, die Ähnlichkeiten auch der weniger klaren Fälle zu erkennen. Umgelegt auf unsere Frage hieße das: Man kann Religionsphilosophie auch ohne eine klare allgemeine Definition von Religion betreiben, wenn man sich auf einige eindeutige Beispielsfälle von Religionen stützen kann. Dabei wählt man am besten solche Beispielsfälle aus, die man selbst gut kennt. Der Grund dafür ist, dass Religionen aus der Außenperspektive weniger gut verstanden werden können als aus der Innenperspektive (18, S. 15f.).

Das Christentum als Beispielfall

Auch der vorliegende Text beschreitet diesen Weg. Als Beispielfälle von Religionen dienen ihm das Christentum und (mit einigem einzuräumendem Abstand) das Judentum und der Islam. Was hier entwickelt werden soll, ist also eine Religionsphilosophie, die sich ihrer Prägung durch die Auseinandersetzung besonders mit dem Christentum durchaus bewusst ist. Diese Beispielsauswahl erscheint aber insofern günstig, als sich die (abendländische) Religionsphilosophie ganz deutlich vor dem Hintergrund der Gegenwart dieser drei Religionen, insbesondere des Christentums, entwickelt hat.

Wir brauchen die Frage einer allgemeinen Definition der Religion also nicht weiter zu verfolgen. Die bereits weiter oben gegebene Umschreibung von Religionen als komplexe Phänomene mit verschiedenen theoretisch-kognitiven, sozialen, traditionellen, rituellen, moralischen und anderen Aspekten genügt für unsere Zwecke (natürlich könnte man diese Aspekte jeweils noch beliebig genauer beschreiben). Ganz ähnliche Umschreibungen finden sich auch in der religionswissenschaftlichen Literatur ((84), (97), (92) u.a.). Dass diese Umschreibungen auf das Christentum, das Judentum und den Islam passen, dass diese also Religionen im Sinne dieser Umschreibung sind, dürfte auch dem oberflächlichen Kenner offensichtlich sein.

Einige terminologische Klärungen

Ohne den Anspruch tiefergehender Analyse sollen hier abschließend einige Termini eingeführt werden (ein Terminus ist ein Ausdruck mit klar geregelter Bedeutung). Sie sind Bestandteil der Bildungssprache geworden und werden in der Religionsphilosophie häufig zur Kennzeichnung von religiösen und religionsphilosophischen Positionen benutzt. Auch im Text dieses Buches wird ab und zu auf sie zurückgegriffen. (In den Religionswissenschaften sind sie heute dagegen kaum mehr in Gebrauch: teils weil sie offenkundig vom Christentum her entwickelt wurden, teils weil es sich um Produkte philosophischer Überlegungen handelt.)

Theismus

Theismus (von griech. theos, Gott) ist die Meinung, dass ein Gott existiert, der die wesentlichen Eigenschaften des jüdisch-islamisch-christlichen Gottesbildes hat: er ist eine Person, allerdings ohne einen räumlichen Körper, allmächtig, allwissend, allgütig, er nimmt am Weltgeschehen Anteil und auch irgendwie Einfluss darauf. Mitunter wird auch zum Theismus gerechnet, dass Gott die Welt geschaffen hat. Die spezifisch christliche Lehre von der Dreifaltigkeit bzw. Dreipersönlichkeit Gottes (Vater-Sohn-Heiliger Geist) gehört dagegen nicht mehr zum allgemein verstandenen Theismus. Wir kommen auf die Eigenschaften Gottes nochmals ausführlich in Abschnitt 2.6 zu sprechen.

Atheismus

Atheismus ist die Meinung, dass kein Gott im Sinne des Theismus (oder des Pantheismus, Panentheismus oder Deismus, siehe unten) existiert. Zu verschiedenen Formen des Atheismus siehe (242a).

Agnostizismus

Agnostizismus (von griech. a-, nicht-, und gignoskein, erkennen) ist (in seiner stärkeren Form) die Meinung, dass es für die Entscheidung zwischen Theismus und Atheismus (und für andere wichtige religiöse Fragen) keinerlei gute Erkenntnisgründe gibt, dass diese Entscheidung einer rationalen Diskussion also nicht zugänglich ist. (Ein Erkenntnisgrund gibt an, dass etwas der Fall ist, während ein Sachgrund angibt, warum etwas der Fall ist.) Eine schwächere, d.h. weniger inhaltsreiche und damit schwerer angreifbare Form des Agnostizismus wäre die Meinung, dass es für diese Entscheidung bloß keine starken Erkenntnisgründe gibt (keine starken Gründe haben ist etwas anderes als überhaupt keine guten Gründe zu haben!).

Negative Theologie

Negative Theologie ist die Meinung, dass Gott zwar existiere, dass man von ihm aber berechtigterweise nur aussagen kann, dass er bestimmte Eigenschaften nicht hat (etwa die Eigenschaften, einen Körper zu haben, nach menschlichen Nutzenmaßstäben zu kalkulieren, etc.). Dagegen könne man aber keine inhaltlich gehaltvollen Aussagen darüber machen, welche Eigenschaften Gott hat. (Zum Begriff Theologie siehe Abschnitte 2.2 und 2.5.)

Pantheismus

Pantheismus (von griech. pan = alles, ganz) ist die Meinung, dass Gott mit der gesamten Wirklichkeit identisch sei, dass es also, grob gesprochen, keinen Unterschied zwischen Welt und Gott gibt, bzw. dass Bestandteile der Welt auch Bestandteile Gottes sind. Eine schwächere Version des Pantheismus wäre die Meinung, dass die Welt ein echter Teil Gottes sei.

Panentheismus

Panentheismus (von griech. en = in) ist die Meinung, dass die Welt zwar „in Gott“ sei, ohne dass dies jedoch schon mit Pantheismus gleichbedeutend sei. Es ist allerdings fraglich, ob diese Meinung wirklich präzisierbar ist und nicht doch wieder dem Theismus, Deismus oder schwachen Pantheismus gleichkommt.

Deismus

Deismus (von lat. Deus = Gott) ist die Meinung, dass ein Gott existiert, der am Weltgeschehen keinen Anteil und keinen Einfluss darauf nimmt, aber ansonsten die theistischen Eigenschaften hat.

Monotheismus

Monotheismus (von griech. monos = einzig) ist die Meinung, dass genau ein Gott im Sinne des Theismus existiert.

Polytheismus

Polytheismus (von griech. poly-, viel und theos, Gott) ist die Meinung, dass mehr als ein Gott existiert. Die theistischen Eigenschaften werden hierbei meist etwas abgeschwächt gedacht (mehrere Götter können z.B. kaum allmächtig sein, ohne sich in ihrer Allmacht zu begrenzen, oder nicht jeder für sich die Welt geschaffen haben). Bekannte Beispiele für Polytheismen sind der griechische und römische Götterglaube.

Offenbarung

Offenbarung ist die von Gott initiierte Mitteilung von Wahrheiten aus der göttlichen Sphäre an die Menschen.

Offenbarungsreligionen

Offenbarungsreligionen sind Religionen, die sich ihrem Selbstverständnis nach auf ein Offenbarungsgeschehen zurückführen. Judentum, Christentum und Islam sind Offenbarungsreligionen, bei denen Heilige Schriften eine wichtige Rolle spielen. Es kann aber auch noch andere sogenannte Offenbarungsquellen geben. Im katholischen Christentum etwa wird die eindeutige Tradition der Kirche als Offenbarungsquelle anerkannt. In verschiedenen Religionen spielen Offenbarungen an Einzelpersonen eine Rolle.

Einführung in die Religionsphilosophie

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