Читать книгу Einführung in die Religionsphilosophie - Winfried Löffler - Страница 12
2.4 Das Kernproblem der Religionsphilosophie: Die Frage nach der (Un-)Vernünftigkeit religiöser Überzeugungen
ОглавлениеAuch der vorliegende Text beansprucht nicht, völlig jenseits der angeführten Typologie zu stehen. Er versteht sich als eine Religionsphilosophie vom Typ E, die jedoch auch Motive der Typen D und C übernimmt. Als Kernproblem der Religionsphilosophie wird die Frage betrachtet, welche Argumente für und wider die Vernünftigkeit religiöser Überzeugungen es gibt (das ist die „Typ E-Komponente“, mit Schwerpunkt in den Teilen 3 und 4). Diese Frage führt aber zur Anschlussfrage hin, welche Art von Erklärungen Religionen eigentlich anbieten, was eine „religiöse Weltanschauung“ ist und welchen Sinn Argumente in diesem Zusammenhang überhaupt haben (das ist die „Typ D und C-Komponente“, mit Schwerpunkt in Teil 5). Damit diese Entscheidung nicht einfach als unbegründete Option erscheint, sei sie im Folgenden etwas erläutert.
Ein weiterer wichtiger Grund für die Unübersichtlichkeit in Sachen Religionsphilosophie wurde bisher noch nicht erwähnt: Nicht nur für Religion gibt es nämlich keine allgemein anerkannte Definition, dasselbe gilt auch für Philosophie. Die Erwartungshaltungen, was Philosophie leisten sollte und wie sie vorzugehen hat, unterscheiden sich deutlicher als in anderen Disziplinen.
Philosopie als Integrativwissenschaft
Nach der hier vertretenen Auffassung ist Philosophie eine Art Integrativwissenschaft. Sie hat die Zusammenhänge von allem, womit sich der Mensch auseinander zu setzen hat, aus eigener Einsicht zu klären, d.h. nicht durch Verweis auf irgendein vorgegebenes Weltbild, sei es das einer Religion, eines politischen Programms oder dergleichen. Hinter dieser Philosophieauffassung steht folgende Überlegung: Wir Menschen machen in unserem Leben sehr vielfältige Erfahrungen, etwa die Erfahrungen eigener körperlicher und geistiger Vorgänge, Naturerfahrungen und die Erfahrung des Umgangs mit allerlei technischen Hilfsmitteln, die Erfahrung des Zusammenlebens, die Teilhabe an sozialen, politischen und ökonomischen Prozessen, die Konfrontation mit Kunst und Kulturschaffen, die Erfahrung von Glück und Erfolg, Begrenzung und Scheitern bis hin zur Erfahrung von Leid, Sinnlosigkeit und Tod, und eben auch die Begegnung mit Religionen, ihren Inhalten und ihren sozialen Erscheinungsformen. Für manche dieser Bereiche haben wir mehr oder minder weit reichende Orientierungshilfen entwickelt, etwa in Form natur- und sozialwissenschaftlicher Theorien. Wer z.B. eine Kaffeemaschine bedienen und den Politik und Wirtschaftsteil einer Zeitung einigermaßen richtig verstehen kann, der verfügt über (zumindest ansatzweise) naturwissenschaftliche und sozialwissenschaftliche Theorien. Zur Orientierung im Leben dienen allerdings auch unsere außerwissenschaftlichen, alltäglichen „Theorien“ und Verallgemeinerungen, etwa über die moralische Zulässigkeit von Handlungsweisen, über die durchschnittlichen Emotionen, die Menschen in bestimmten Situationen zu haben pflegen, und über den erfahrungsgemäßen Verlauf von alltäglichen Handlungsabfolgen. Auch die Religionen mit ihrer Vorstellungswelt, mit ihren Handlungsregeln und anderem gehören für manche Menschen zu diesen Orientierungshilfen, die unser Leben strukturieren.
Innerhalb dieser Teil-Orientierungssysteme gibt es auch Begründungen und andere vernünftig nachkonstruierbare Zusammenhänge. Dass es z.B. zwischen Wärmelehre und Mechanik Zusammenhänge gibt und welche es ungefähr sind, ist ebenso bekannt wie die Zusammenhänge zwischen Ernährungsmedizin und Herz-/Kreislaufmedizin oder zwischen Emotionspsychologie und Wirtschaftspsychologie. Solange eine Problemstellung die Grenzen solcher überschaubarer Lebensbereiche nicht überschreitet, funktioniert unsere Orientierung auch weitgehend reibungslos. Wir beanspruchen, vieles zu wissen und viele der Zusammenhänge zu überschauen. Dieses Bild ändert sich, sobald bereichsübergreifende Probleme und Fragestellungen auftauchen.
Ein Beispiel für Philosophie als bereichsüberschreitendes Fragen
Ein anschauliches Beispiel bietet etwa die Frage, ob die Organentnahme bei gehirntoten Menschen zulässig ist. Hier sagt uns unser medizinisches Wissen als Orientierungssystem, dass bei einem gehirntoten Menschen kein Schmerz und auch keine Rückkehr des Bewusstseins möglich ist, sodass eine Organentnahme medizinisch völlig problemlos erscheint (von den technischen Problemen sei hier einmal abgesehen). Zur Hilfe für andere Patienten ist sie sogar angezeigt. Allerdings ist auch unsere emotionale und wertende Zugangsweise zum Körper des Menschen ein Orientierungssystem, und viele Menschen haben aus Pietät auch noch gegenüber einem Körper ohne Bewusstsein Vorbehalte gegen Organentnahmen. Ebenso verstehen Rechtsordnungen, die ebenfalls Orientierungssysteme sind, unter menschlichen Körpern mehr als eine bloße Sache, sodass die Organentnahme auch aus rechtlicher Sicht nicht unproblematisch ist. In unseren westlichen Kulturen wird dieses Problem nun meist ungefähr so gelöst, dass der Gesichtspunkt der Hilfe für andere Patienten höher gewichtet wird und die Organentnahme zulässig ist (sofern damit dem Willen des betroffenen Menschen oder seiner Angehörigen einigermaßen Genüge getan wird). Dazu werden dann entsprechende Sonderregelungen in die jeweiligen Rechtsordnungen aufgenommen. Der entscheidende Punkt hinter diesem Beispiel ist, dass eine solche Regelung weder das Resultat allein einer medizinischen, noch allein einer emotionalen, noch allein einer juristischen Überlegung sein kann. Es muss hier vielmehr so etwas stattgefunden haben wie eine bereichsübergreifende, philosophische Überlegung, die begründete Abwägung zwischen unterschiedlichen Gesichtspunkten. Es ist also kein Zufall, dass im Vorfeld der rechtlichen Regelung Rechtsphilosophen, Medizinethiker u.a. beigezogen werden, denn Philosophie zeigt gerade an solchen konkreten Beispielen ihren Charakter als übergreifende Integrativwissenschaft.
Philosophie ist aus dieser Sicht eher eine Tätigkeit und nicht eine fertige, vielleicht aus irgendwelchen Büchern einfach übernehmbare Theorie. Philosophie lässt insbesondere den einzelnen Lebensbereichen ihr Eigenrecht. Sie kann und will weder Ersatz für Forschungen im Gebiet der einzelnen Wissenschaften sein, sie kann auch das konkrete, praktische Engagement des Menschen in Beruf, Familie, Religion, Politik u.a. nicht ersetzen, und sie erspart es dem Einzelnen insbesondere nicht, sich selbst eine Meinung und einen Standpunkt in wichtigen Fragen zu bilden. Philosophie ist also kein Weltanschauungs-Ersatz. Sie bietet eher Hilfsmittel an, die eigene Weltanschauung in kritischer Auseinandersetzung mit anderen Standpunkten weiterzuentwickeln.
Die Aufgabe der Religionsphilosophie aus dieser Sicht
Für die philosophische Betrachtung der Religion folgt aus dieser Auffassung, dass die Frage nach den Ähnlichkeiten, nach den Unterschieden und nach den Zusammenhängen der Religion mit anderen Lebensbereichen von vorrangigem Interesse ist. Ein markanter solcher Zusammenhang scheint nun eben darin zu bestehen, dass die Religionen ebenso wie die Naturwissenschaften und die Geschichtswissenschaften in einem gewissen Sinne Erklärungen anbieten, warum die Welt so ist, wie sie ist. Manche Menschen stellen diesen Zusammenhang in Abrede und meinen, das Wort „Erklärung“ werde hier ganz einfach mehrdeutig benutzt. In manchen Gegenden der Welt, etwa einigen US-Bundesstaaten, wird umgekehrt so ein deutlicher Zusammenhang gesehen, dass man z.B. in der Schule zwischen dem Unterricht in Evolutionsbiologie und biblischer Schöpfungslehre wählen kann. Solche und andere Beobachtungen sind ein naheliegender Ansatzpunkt philosophischer Überlegungen, und deshalb greift der vorliegende Text auch Fragen einer Religionsphilosophie vom Typ D auf. Man kann solche Probleme allerdings kaum sinnvoll erörtern, ohne die Frage nach verschiedenen Sprachverwendungsweisen zu stellen. Schon der Hinweis, dass ein Wort wie „Erklärung“ möglicherweise mehrdeutig funktioniert, macht das nur allzu deutlich. Außerdem spielen verschiedenste spezielle Sprachverwendungsweisen (siehe oben) gerade in den Religionen eine auffällige Rolle. Religionsphilosophie wird also kaum ohne Fragen vom Typ C auskommen. Und insgesamt soll es – im Sinne von Typ E – um die Vernünftigkeit religiöser Überzeugungen gehen.
Andere Philosophieauffassungen: Philosophie als Weltbild-Angebot
Die eben skizzierte Auffassung von der Philosophie ist keineswegs selbstverständlich. Als Philosophie treten nämlich auch Positionen und Texte auf, die ein möglichst umfassendes, abgerundetes Bild, eine Art zusammenfassende Gesamtvision der Wirklichkeit anbieten und verteidigen wollen. Gerade im Bereich der Religionsphilosophie ist dies mitunter zu beobachten, wenn Philosophen gleichzeitig stark vom Hintergrund einer Religion geprägt sind. Philosophie kann in solchen Fällen deutliche Züge eines Weltanschauungs-Ersatzes annehmen, und mitunter sind die Grenzen zur Theologie unklar. Wir kommen darauf nochmals in Abschnitt 2.5 zurück. Weltanschauungs-Philosophien stammen aber auch häufig von Autoren, die ihren denkerischen Hintergrund in der (Astro-)Physik oder der Evolutionsbiologie haben. Menschliches Verhalten und Kultur, Geschichte und Politik, Religion und Moral werden dann z.B. in einem evolutionären Deutungsrahmen betrachtet ((219), (220); eine Textsammlung bietet (259)). So werden etwa menschliche Verhaltensmuster wie Kooperation, kulturelle Errungenschaften wie die Schrift oder moralische Überzeugungen auf ihre evolutionäre Vorteilhaftigkeit hin untersucht, teils im Sinne einer evolutionären Erklärung, teils auch im Sinne einer wertenden Betrachtung. Insgesamt wird also versucht, von einem naturwissenschaftlichen Theorienbereich her eine umfassende Weltanschauung zu entwickeln (zum Begriff Weltanschauung siehe unten Abschnitt 5.2). Offenbar kommen Theorien wie die Astrophysik und Evolutionsbiologie, die an sich schon relativ großräumige Erklärungsbereiche abdecken, solchen Tendenzen nach weltanschaulichem Ausbau besonders entgegen.
Der vorliegende Text hält sich von solchen Ansätzen einer Gesamtvisions-Philosophie bewusst fern. Religionsphilosophie soll hier weder im Sinne eines religiösen (oder antireligiösen) Gesamtbildes der Wirklichkeit entwickelt werden, noch unter Zugrundelegung der Naturwissenschaften als Leittheorie, noch aus sonst einer dominanten Perspektive. Dahinter steht die Überzeugung, dass es verschiedenste Felder gibt, auf denen wir vernünftige Überlegungen anstellen, Begründungen erwägen und Argumente vorbringen. Man sollte also nicht von vornherein ein spezielles solches Feld als primäre Form der Rationalität betrachten und dann versuchen, alle anderen Bereiche aus dessen Perspektive zu sehen. Im Falle der Naturwissenschaften ist es z.B. so, dass man sie nicht gegen unsere Standards von Vernünftigkeit im Alltagsleben ausspielen sollte. Im Gegenteil, es ließe sich sogar zeigen, dass der naturwissenschaftliche Zugang zur Wirklichkeit nur ein ganz spezieller und abgeleiteter ist. Er funktioniert und konnte nur deshalb entwickelt werden, weil es stabile Erkenntnisformen, Handlungszusammenhänge und Vernünftigkeitsstandards im Alltagsleben gibt, im Umgang mit den Dingen unserer gewöhnlichen Lebenswelt. Ein einfaches Beispiel möge dies illustrieren: Wonach beurteilen wir, ob Messgeräte – ohne die es keine Naturwissenschaft gäbe! – korrekt funktionieren? Letztlich tun wir dies durch normale, alltägliche Praktiken wie denen des genauen Ablesens, des Vergleichens mit anderen Messgeräten, durch unsere Einschätzung, ob die Messbedingungen und das Benützerverhalten passend waren, etc. Wir beurteilen es nicht ausschließlich durch die Anwendung von Naturgesetzen – denn die Naturgesetze erklären das Verhalten von Messgeräten, die nicht funktionieren, genauso wie das Verhalten funktionierender Messgeräte (siehe dazu z.B. (114), S. 63–70).
Verschiedene Bedeutungen von „vernünftig“
Die vorstehenden Überlegungen sollten nicht zur Kritiklosigkeit gegenüber beliebigen Geltungsansprüchen einladen, auch und gerade nicht im religiösen Bereich. Es geht in diesem Buch, wie gesagt, primär um die Frage der Vernünftigkeit religiöser Überzeugungen. Gegen die Meinung, dass eine solche Frage doch von vornherein falsch gestellt sei, spricht folgende Überlegung: Wenn man durchschnittliche Angehörige einer Religion fragen würde, ob sie ihren Glauben, ihre Religiosität als etwas Vernünftiges bezeichnen würden, so würden die meisten diese Frage – wenngleich vielleicht zögernd oder mit einem gewissen begrifflichen Unbehagen („nun ja, was heißt eigentlich „vernünftig“?“) – wohl eher bejahen. Auch nichtreligiöse Personen würden für ihre Position meist Gesichtspunkte der Vernünftigkeit ins Treffen führen. In vielen Fällen wären religiöse und nichtreligiöse Personen sogar bereit, für ihre Positionen zu argumentieren. Anders als etwa die Vorliebe für Erdbeereis oder die Abneigung gegen Wollpullover scheint Religion also nicht zu den reinen Geschmackssachen des Lebens zu gehören.
Manche Gläubige würden die Frage vielleicht nicht sofort mit Ja oder Nein beantworten, sondern gewisse Differenzierungen vorschlagen, etwa nach dem Muster „nun ja, nicht in dem Sinne vernünftig, dass ich einen Beweis auf den Tisch legen könnte, der jeden überzeugt, vielleicht sogar den Nichtgläubigen, aber doch vernünftig in dem Sinne, dass ich gewisse Gründe habe, warum ich dazu stehen kann, warum es mir ganz vernünftig vorkommt, religiös zu sein, d.h. die Inhalte einer Religion anzunehmen, an ihren Ritualen und sonstigen sozialen Erscheinungen teilzunehmen, ihre Handlungsweisen zu teilen, etc.“. Ein anderes Muster könnte so aussehen:
„Es scheint mir zumindest nicht prinzipiell unvernünftig zu sein, ein religiöser Mensch zu sein – auch sonst im Leben handle ich ja dauernd aufgrund von Voraussetzungen, die ich nicht vollständig begründen könnte. Aber ich handle eben, solange mir diese Voraussetzungen nicht unvernünftig vorkommen.“ Genau dieselben Differenzierungen könnten in umgekehrter Richtung auch von nicht-religiösen Personen vorgenommen werden.
Man kann diese Differenzierungen als Hinweis darauf sehen, dass auch die Bedeutung der Wörter „Vernunft“/„vernünftig“ nicht klar auf der Hand liegt. Tatsächlich ranken sich darum seit langer Zeit philosophische Kontroversen, deren Ende nicht absehbar ist. Von Philosophen wurden auch diverse Unterscheidungen für verschiedene Formen von Vernunft vorgeschlagen. Zum Allgemeingut geworden ist etwa die Unterscheidung zwischen „theoretischer“ und „praktischer“ Vernunft: Während Erstere mit der denkerischen Durchdringung der Wirklichkeit (d.h. ohne vordergründiges Eingriffs- und Gestaltungsinteresse) zu tun hat, geht es letzterer um die Vernünftigkeit unseres Handelns, Veränderns und Gestaltens, Letztlich unserer Lebensführung als Individuen und Gemeinschaftswesen. Stärker umstritten ist die Fruchtbarkeit der Unterscheidung zwischen „Rationalität“ und „Vernunft“. Viele Denker verwenden diese Wörter unterschiedslos. Nach anderen dagegen betrifft „Rationalität“ den möglichst optimalen Mitteleinsatz zur Verfolgung vorgegebener Zwecke, während „Vernunft“ ein weiter gefasstes Vermögen des Menschen ist, das sich auch mit der Rechtfertigung von Zwecken beschäftigt ((116), (112)). Aber auch wenn man diese Unterscheidungen grundsätzlich akzeptiert, verbleibt das Problem, dass die unterschiedlichen Vernunftformen nicht trennbar sind, sondern zusammenhängen. Wer vernünftig handeln will, tut gut daran, sich über theoretische Zusammenhänge auf seinem Handlungsfeld, etwa über die Folgen seiner Handlungen, zu informieren. Umgekehrt bemessen wir die theoretische Vernünftigkeit von Behauptungen, Theorien etc. oft danach, ob sie sich in irgendwelchen Handlungsfeldern bewähren, ob sie also praktisch brauchbar sind.
Persönliche und interpersonale Begründungen
Ein gemeinsamer Kern aller Vorstellungen von Vernünftigkeit liegt darin, dass im vernünftigen Denken und Handeln immer der Standpunkt der eigenen Person überschritten wird. Vernünftiges Denken und Handeln muss gegenüber anderen Personen irgendwie rechtfertigbar, verteidigbar, begründbar sein. Wenn man danach gefragt würde, müsste man Gründe für sein Handeln haben, die auch für beliebige andere Personen als Gründe erkennbar wären, die Begründung müsste also interpersonal sein. Gerade im Bereich der Religion scheint hier auf den ersten Blick aber eine wesentliche Schranke zu bestehen, denn die Erfahrung zeigt doch, dass durchaus vernünftige Personen über religiöse Angelegenheiten sehr unterschiedliche Meinungen haben. Dazu ist zu sagen, dass die Frage nach Gründen zu unterscheiden ist von der Frage, ob auch jedermann diese Gründe vollständig nachvollziehen und als gute Gründe anerkennen würde. Gerade im religiösen Bereich ist mit persönlichen Begründungen zu rechnen, die nicht ohne Weiteres über-persönlich verallgemeinerbar sind. Etwa mögen persönliche religiöse Erfahrungen von den betreffenden Personen als gute Gründe für religiöse Überzeugungen angesehen werden, sie sind aber nicht wirksam gegenüber Personen, die solche Erfahrungen nicht gemacht haben. Immerhin könnten jene Personen aber verstehen, welche Begründungsstruktur hier vorliegt.
Solche persönliche Begründungen sind im Übrigen nicht bereichstypisch für die Religion. So kann etwa jemand aufgrund prägender Erfahrungen im persönlichen Umgang mit einem Menschen eine starke Begründung für sein Vertrauen bzw. Misstrauen in diesen Menschen haben. Wer diese Erfahrungen nicht gemacht hat, wird die Begründung vielleicht nicht nachvollziehen können, aber in vielen Fällen immerhin das allgemeine Muster der Begründung verstehen und als grundsätzlich vernünftig anerkennen. Wir kommen auf persönliche und interpersonale Begründungen nochmals ausführlich zurück (Abschnitt 5.5).
Das hier zugrunde gelegte Religionsverständnis: Konzentration auf „theoretische“ Aspekte der Religion
Religionen wurden weiter oben als komplexe Phänomene charakterisiert. Betreibt man nun, wie oben erläutert, Religionsphilosophie im Sinne des Typs E mit deutlichen Akzenten auch der Typen D und C, dann liegt es nahe, sich auf die kognitiven, theorieähnlichen, sprachlich formulierbaren Aspekte der Religion zu konzentrieren. Es geht dann um die Abwägung von Argumenten für und gegen diese kognitiven Aspekte. Die sonstigen Aspekte der Religion sollen dadurch aber keinesfalls ausgeblendet oder als nebensächlich hingestellt werden. (Dies verdient deshalb besondere Erwähnung, weil gerade die christlich geprägte Religionsphilosophie der Neuzeit streckenweise von der Gefahr geprägt ist, Religionen auf ihren Theoriekern engzuführen. Zur Vielaspektigkeit religiöser Überzeugungen siehe (117), für einen religionsphilosophischen Blick auf die rituellen Seiten der Religion (96).)
Der Grund für diese Konzentration auf theoretische Aspekte ist, dass Begründungen innerhalb religiöser Denkformen typischerweise so laufen, dass theoretische Behauptungen als Begründung für die Angemessenheit bestimmter Handlungsweisen, ritueller Ordnungen etc. anerkannt werden, aber nicht umgekehrt. (Weil man an die Existenz Gottes und seine Eigenschaften glaubt, hält man ihn für verehrungswürdig; weil man an die Rückkehr von Geistern glaubt, dürfen bestimmte Plätze nicht betreten werden, etc. Begründungen in umgekehrter Richtung wären deutlich weniger plausibel.)
Religionsphilosophie ist kein Ersatz für Religion
Es wäre jedoch ein Missverständnis, diesen theoretischen Kern der Religion (oder erst recht dessen philosophische Untersuchung) als den zentralen Aspekt des religiösen Lebens zu betrachten. Im Gegenteil, das Leben religiöser Menschen wird eher durch die nicht-theoretischen Aspekte der Religion geprägt, etwa Riten, Gebete, Feste, moralische Gebote, Gemeinschaftserfahrungen etc. Betrachtungen über den theoretischen Kern der Religion sind hier typischerweise von sekundärer Bedeutung. Ebenso wäre es ein Missverständnis, Religionsphilosophie (oder auch Theologie) als einen denkbaren Ersatz für das konkrete religiöse Leben zu betrachten. Beide Disziplinen haben ihre Funktion als kritische Selbstvergewisserung des religiösen Lebens und als Reflexion des Inhaltes religiöser Überzeugungen, insbesondere in Situationen des Widerspruches, der Diskussion und des Zweifels. Sie sind aber kein tauglicher Ersatz für die eigene weltanschauliche Stellungnahme und das Engagement in ihrem Sinne. (Ähnlich ist auch die Beschäftigung mit Ethik kein Ersatz für das Bemühen um das eigene gute Leben, Wissenschaftstheorie ist kein Ersatz für die wissenschaftliche Forschung in Physik, Geschichtswissenschaft u.a., und Kenntnisse der Logik bewahren noch nicht automatisch vor Denkfehlern im Alltag.)
Insbesondere wäre es ein Missverständnis, die rein philosophisch fassbaren Inhalte des Gottesbegriffs schon als ausreichende Beschreibung Gottes als Gegenstand der Religion zu betrachten. Denker wie Blaise Pascal, Martin Heidegger u.a. haben durchaus zu Recht eingewandt, dass der inhaltsarme „Gott der Philosophen“ kein taugliches Objekt eines religiösen Lebens ist, dass man zu ihm nicht beten oder sonst eine persönliche Beziehung haben könne. Religionsphilosophie ist nur die philosophische Reflexion eines Phänomens, dessen Inhalte und Begründungsstrukturen wesentlich komplexer sind als das, was philosophisch davon fassbar ist.