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Kapitel 6 13. Juli 2001

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Zwischendurch will ich wieder einmal zu mir in der Jetztzeit zurückkommen. Bisher habe ich ja nur ein „äußeres Bild“ vermittelt. Sie sollten schon etwas Geduld aufbringen, etwas über mein Innenleben und meine Einstellung zur Welt als Mann in den mittleren Jahren zu erfahren, bevor ich das schildere, was dann alles geschah, was mich schließlich aus der Bahn warf und überrollte.

Ich liege also jetzt im Krankenhaus und habe Zeit, Zeit für die Warum-Fragen des Lebens. Als ich zum ersten Mal wahrnahm, eben diese Zeit zu haben, nach den ersten heftigen und akuten Schmerzen in meiner neuen Lebenssituation, war ich so aufgedreht, dass ich gar nicht wusste, wo ich anfangen sollte. Woher komme ich, wohin gehe ich, wann fährt der letzte Bus. So ein Woody-Allen-Syndrom befiel mich wie ein allergischer Juckreiz. Und es wurde mir schon klar, anhand meiner Themenprioritätenliste – schließlich bin ich vom Fach – dass es mir nicht um die grundlegende Infragestellung von zivilisatorischen Werten ging. So versuchte ich zuerst, durch die Erstellung einer Negativ-Mindmap die Warum-Fragen, die mich nicht so berührten, auszuschließen:

Die Frage, was vor dem Urknall war, finde ich immer noch interessant, hat mir aber ein Schlaukopf namens Stephen Hawking beantwortet: Vor dem „Big Bang“ existierten einfach weder Raum noch Zeit. Und wenn es damals keine Zeit gab, dann gab es auch kein „Vorher“. Dass ich mir das nicht so richtig vorstellen kann, finde ich nicht so tragisch, weil mich das bisher weder von meinem nächsten Seminar noch vom Squashspielen abgehalten hat.

Wie und warum das Leben sich über die diversen Millionen von Jahren so entwickelte, dass der Mensch nicht das Ende der evolutionären Fahnenstange ist und wir deshalb unsere arroganten Nasen ruhig etwas weniger hoch tragen sollten – vielleicht ging es uns ja bald ähnlich wie den Dinosauriern, nur eben selbstverschuldet – das hatte ich ja schon bei Hoimar von Ditfurth gelesen und in Ansätzen auch verstanden.

Die Frage nach dem „Lieben Gott“ christlicher Ausprägung hatte ich schon früh abgehakt. Wer Kriege, den Holocaust und all das Elend der Welt zulässt, sollte nicht noch um Hilfe gebeten werden, hatte halt keine Existenzberechtigung. Dieser Gott war nur das Produkt menschlicher Unwissenheit, Hilflosigkeit und Angst vor Leid und Tod.

Damit war auch schon die Frage nach dem Leben nach dem Tod mitbeantwortet. Gott ist tot, es lebe das Leben. Lise Meitner, die immer unbeachtete Wissenschaftlerin neben Otto Hahn, sagte einmal, dass der Grund oder die Rechtfertigung für das Leben das Leben an sich sei. Also, was ich habe ist mein Leben, vorher war ich nicht und nachher werde ich nicht sein. Ich bleibe höchstens noch in der Erinnerung von Menschen, die mich kannten, lebendig, auf geistiger Ebene, sozusagen. So ist eben mein Leben keine physikalische Versuchsanordnung, die beliebig wiederholbar ist unter entsprechend geänderten Prämissen, damit es endlich mal besser klappt oder glücklicher wird, nein, leider nein. Ich muss mich schon auf mein Eigenes und Einziges konzentrieren. Eben dieser Gedanke macht auch mein jetziges Dilemma aus. Ich wollte das Leben pur und bin auf die Schnauze gefallen. Und Harras ist schuld. Nein, so einfach ist es leider nicht. Ich suche Klarheit darüber, wer welche Anteile an dieser Schuld trägt, Harras, ich oder der gottverdammte Zufall, diese unberechenbare Monsterkomponente, die Willkür an sich, von uns Menschen weder beeinflussbar noch vorhersehbar und von manchen mit Gott verwechselt.

Aber jetzt erst einmal weiter mit meinem Grundsatz-Statement, damit Sie, liebe Leserinnen und Leser besser begreifen, mit wem Sie es zu tun haben:

Ich stelle auch nicht die hehren Ziele einer demokratisch und humanistisch orientierten Gesellschaft infrage. Ich bin für Gleichheit, Freiheit und Brüderlichkeit, für Menschenwürde, Menschenrechte, soziales Engagement und Frieden. Auch die privateren Ideale von Ehe, Partnerschaft, Treue und Ehrlichkeit, Pflichterfüllung, Freundschaft und Hilfsbereitschaft unterschreibe ich im Allgemeinen. Obwohl ich da in der Konsequenz der praktischen und alltäglichen Umsetzung schon meine Probleme sehe (auch das ist mein Dilemma!). Die Bequemlichkeit und die Verdrängung der menschlichen Probleme ist mir persönlich auch nicht fremd. Ja, ein Held bin ich nicht.

Auch wenn das alles geklärt ist, theoretisch, und ich auch in der Praxis, im Alltag, mich zumindest mehr oder weniger erfolgreich bemühe, danach zu leben, stellt sich die Frage: Tue ich das mit Freude und Spaß oder eher mühevoll bis zwanghaft und immer schlecht gelaunt.

Meine Warum-Fragen sind also nicht die nach dem Grund der menschlichen Existenz und nach dem Grund gesellschaftlicher Werte, sondern eher die nach der Motivation. Was macht mir Spaß, so zu leben oder anders zu leben? Woher kommt das gute oder schlechte Gefühl, wenn ich dies oder das tue? Oder anders formuliert:

Was ist das, was was hat?

Hätte ich mir diese Frage nie gestellt, würde mein Leben einen ganz normalen Weg nehmen, wäre ich jetzt eben nicht in diesem Desaster.

Wäre Harras nicht wieder aufgetaucht, hätte ich mir diese Frage höchstens theoretisch erlaubt.

Und Harras war damals jemand, der das hatte, was was hatte. Und der was tat, was was hatte. Und der immer noch was ist und was tut, was was hat. Diese Faszination des Chaos’, vielleicht auch des Bösen und Unmoralischen, die Verlockung des Andersseins und Andersdenkens, der Reiz des Hinterfragens aller Werte und deren Negation. Harras ist frei. Und das hat was. Das ist der Kick.

Harras - der feindliche Freund

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