Читать книгу Harras - der feindliche Freund - Winfried Thamm - Страница 7

Kapitel 2 Mitte August 2000

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Vor etwa einem Jahr flog mir eine Einladung zu einer Geburtstagsparty ins Haus. Zwei gute alte Freunde wollten ihren 44. Geburtstag gemeinsam feiern – wegen der Schnapszahl oder weil sie keine Lust hatten, noch sechs Jahre zu warten – und dazu viele Leute einladen: die üblichen Verwandten, derzeitige Freunde und Leute, die sie sehr lange nicht mehr getroffen hatten.

Ich ging allein hin, weil wir keinen Babysitter für unseren Sohn gefunden hatten. Und überhaupt hatte Helen, meine Frau, gemeint, sie würde sich bestimmt eher langweilen, wenn ich mit meinen alten Freunden über alte Zeiten plaudere.

Die Feier fand in der alten Rektoratsschule in Essen- Steele statt, die schon seit Jahren als das Steeler Kulturzentrum „Grend“ bekannt ist. Es war ein schöner Partysaal mit einer großen Theke, langen Tischen und einfachen Bänken, wunderbarem bunten Licht, einer kleinen Bühne, auf der eine Rock-Revival-Band ihre Anlage aufgebaut hatte und viel Platz vor der Bühne zum Tanzen. Ich traf gegen halb neun ein, gratulierte den beiden Freunden, überreichte Geschenke, nahm das obligatorische Sektglas zum Anstoßen auf weitere glückliche Lebensjahre entgegen und schaute mich um. Ich fühlte mich wohl, weil ich eine ganze Reihe von Leuten kannte und selbst meine Freunde nennen konnte, aber auch einige Menschen traf, die ich sehr lange nicht gesehen hatte. Ich kam mit ihnen ins Gespräch, erst oberflächlich, eher begrüßend, später auch näher, intensiver.

„Schön dich wiederzusehen.“

„Hey, du auch hier?“

„Ja, echt gut, viele lange Jahre nicht gesehen. Schau’n wir uns mal um.“

„Was machst du denn so?“

„Habe mich selbstständig gemacht, mit ’nem kleinen Fortbildungsinstitut.“

„Klasse.“

„Und du?“

„Bin letztes Jahr Schulleiter geworden, muss bildungsmäßig mal was bewegen.“

„Prima, klingt nach Karriere.“

„Ja, geht ganz gut. Hast du Familie, Kinder?“

„Ja, Helen, ist aber nicht mitgekommen, keine Betreuung für Karl, ist erst sieben.“

„Was, du hast ein Kind? Hätte ich dir gar nicht zugetraut, entschuldige.“

„Lass man, schon in Ordnung. Ja, Karl ist gut drauf.“

„Toll, interessant, echt super.“ ... und so fort.

Die Gattinnen meiner Freunde sprachen einleitende Worte und eröffneten das Büffet. Ich aß eine Kleinigkeit und hielt mich ansonsten eher ans Bier. Das ist für mich ein Getränk, das mich zwar stimuliert und mir Berührungsängste nimmt, das ich aber fast grenzenlos trinken kann, ohne wirklich richtig betrunken zu werden.

So ging die Party dahin, mit vielen kleinen, schönen Begegnungen und auch längeren intensiveren Gesprächen. Man redete von alten Zeiten und von neuen Ereignissen, tauschte Telefonnummern oder E-Mail-Adressen aus, hatte Spaß.

Ich kam von der Toilette, es war so gegen halb zwölf, betrat den Vorraum das Festsaals, in dem die Rockgruppe tobte und dachte noch, dass ich besser an den Stehtischen im Foyer bleibe, um zu schauen, wer mir sonst noch für einen netten Plausch über den Weg liefe, als in den vollen und dröhnenden Saal zurückzugehen. Dort war es mir zu laut für Gespräche und mein Bierkrug stand eh noch auf einem der Stehtische. Da öffnete sich die Tür zum Foyer und ein Mann trat ein:

Schwarzes, schütteres Haar, ausgemergeltes, blasses Gesicht mit schiefer Nase, krumme Beine in engen schwarzen Jeans, schwarzes T-Shirt unter einer abgewetzten, ehemals schwarzen Lederjacke. Ich erkannte ihn sofort. Sein etwas linkischer Blick zwischen Arroganz und Schüchternheit und sein schmaler Mund, irgendwo zwischen Lächeln und Grinsen, kühl und einnehmend zugleich, bestätigte mein sekundenschnelles Wiedererkennen.

Er war es: Harras! Mein bester Freund, mein ärgster Feind, von damals, vor 20 Jahren. Eigentlich hieß er Hans-Joachim, aber seine Art hatte etwas von einem scharfen Schäferhund und sein Gesicht erinnerte an das eines mageren hässlichen Pferdes.

Ich hielt die Luft an. Das kann doch nicht wahr sein. Keiner meiner Gastgeber-Freunde hatte noch Kontakt zu ihm. Sie hatten zwar einige jugendliche Dummheiten und Abenteuer mit ihm erlebt, aber schließlich haben sie ihn für untragbar gehalten. Er war zu chaotisch, nicht berechenbar, manchmal peinlich und nicht vorzeigbar, selten angepasst und unauffällig, oft maßlos und noch häufiger betrunken, selten still und nachdenklich.

Wieso ist der hier?

Eine ungeheure Freude durchflutete mich, als hätte ich meine erste große Liebe wiedergesehen, und gleichzeitig schämte ich mich für diese Freude, als sei sie für mich und von mir selbst verboten. So hielt mich eine diffuse Scheu zurück vor diesem schwarz gekleideten Menschen, wie vor einer Gefahr. Und meine Freude war mir fremd.

Ich trank einen Schluck Bier, straffte meinen Körper, strich mir über die Schläfen, riss mich zusammen und ging dann doch auf ihn zu. Die Neugier hatte gesiegt.

In diesem Moment kam einer der Gastgeber auf ihn zu, begrüßte ihn eher erstaunt, drückte ihm ein Sektglas in die Hand, nahm ein Päckchen entgegen, tauschte ein paar Worte mit ihm und verließ ihn gleich wieder, schulterklopfend.

Er scheint nicht eingeladen zu sein, dachte ich. Was macht er hier?

Jetzt stand er da mit seinem Glas, etwas verloren. Ich ging auf ihn zu und sagte:

„Hey, Harras, ich glaub’ es nicht. Du hier? Ich wusste gar nicht, dass du zu Bernhard oder Benno noch Kontakt hast? Du bist ja echt die absolute Überraschung!“

Er stellte sich zu mir an einen der Stehtische, grinste verschmitzt und sagte:

„Tja, wusste ich auch nicht.“

„Wie ?“

„Mein Anrufbeantworter hat mich eingeladen. Keine Ahnung, woher Benno meine Telefonnummer hat.“

„Was, wer, wie?“

„AN-RUF-BE-ANT-WOR-TER, neumodisches Gerät, kennst du nicht, oder wie? Hab nicht drauf geantwortet, weil ich nicht wusste, ob ich wirklich ...“

„Das alte arrogante Arschloch, wie früher. Mein Gott, ich freu’ mich, dich zu sehen.“

„Du musst mich nicht Gott nennen, ich bin inkognito hier. Du darfst Harras zu mir sagen.“ Und wieder dieses alte, arrogante und geliebte Grinsen.

Anfangs umkreisten wir uns, tasteten uns ab wie im Boxring. Und dann erzählten wir die alten Geschichten von früher und tranken Bier und erzählten und tranken Bier ... Und bald, eher sehr bald, war die alte Kumpanei durch die alten Geschichten, die alte Nähe, nicht die alte Freundschaft, aber die alte Nähe wieder da.

Ich fühlte mich gut mit ihm, unheimlich gut, aber auch seltsam unheimlich. Es war ein ambivalentes Gefühl aus windiger Unentschlossenheit und erwartungsvoller Zurückhaltung, etwa so, wie nach dem ersten Telefongespräch und vor dem ersten Rendezvous mit einer Frau, auf dem Weg dorthin. Ich weiß nicht, ob Sie mir da jetzt folgen können? Was ging da ab, fragte ich mich. Ich wusste es nicht, aber ich ergab mich seiner schwarzen, überheblichen, krummbeinigen und pferdegesichtigen Faszination.

Harras - der feindliche Freund

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