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Kapitel 3 10. Juli 2001

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Ich muss hier einmal meine Geschichte unterbrechen. Sie werden natürlich noch viel mehr über diesen Menschen, über diese „Erscheinung“ erfahren. Doch haben Sie ein wenig Geduld. Ich muss in diesem elendigen Krankenbett erheblich mehr Geduld aufbringen als Sie. Doch vorher sollten Sie mich erst ein wenig kennenlernen. Ich werde bald dreiundvierzig, habe einen wunderbaren, sieben Jahre alten Sohn namens Karl, führe oder führte – und das ist mir jetzt, ehrlich gesagt, selbst nicht mehr so klar – eine gute und normale Ehe mit einer bezaubernden Frau, eben der besagten Helen und habe oder hatte bis jetzt berufliche Erfolge mit meinem kleinen, aber expandierenden Unternehmensberaterbüro im Bereich Betriebsorganisation, Mitarbeitermotivation und Personalführung für mittlere Betriebe und soziale Träger. Ein kleines, aber frei stehendes Haus kann ich fast mein Eigen nennen, mit Garten und Baumhaus für den kleinen Karl. Ich habe mir einen gewissen Lebensstandard erarbeitet, der mir auch einmal etwas unbescheidenere Urlaubsreisen, gutes Essen und guten Wein erlaubt. Nur die Zeit war mein Problem. Ich hatte immer zu wenig davon. Jetzt habe ich sie, diese Zeit. Und deswegen spreche ich zu Ihnen aus dem Krankenhaus, in Gipsbeinen und Streckverbänden. Sie haben vielleicht keine Zeit, aber ich. Haben Sie Geduld.

Es ist ja gar nicht so, dass ich vorher, ohne dieses großzügige Zeitkontingent, unglücklich gewesen wäre, nein. Unglücklich bin ich jetzt.

In meiner zeitlosen Zeit habe ich mir immer gewünscht, Zeit zu haben über Grundsätzliches nachzudenken. Nicht über diese alltäglichen Organisationsfragen: Wer holt das Kind vom Fußballverein ab, wer geht einkaufen, wann bügle ich meine Hemden, bereite ich meinen nächsten Vortrag vor, putze die Fenster, packe das Auto für den Urlaub, mache ich einen Termin für den Zahnarzt, für den Kinderarzt, für den Hausarzt, für den Tierarzt? Wer, wie, wo, mit wem, für wen, gegen wen und wann? Und nie hatte ich Zeit für die Warum-Fragen. Warum habe ich diesen Weg eingeschlagen? Gibt es Gründe dafür, dass ich verheiratet bin und einen Sohn habe oder ist es einfach so passiert? War es Helens Wunsch und ich konnte nicht Nein sagen? Früher empfand ich die Institution Ehe als Liebestöter des Spießbürgertums und Kinder waren für mich grundsätzlich in Ordnung, nur nicht für mich. Ich wollte keine, ich hatte fast Angst vor ihnen und ihrer Distanzlosigkeit. Bin ich eingeknickt oder umgefallen? Habe ich meine Grundsätze verraten? Nein, ich habe nur festgestellt, dass ich mich verändert habe und dass vieles viel relativer und subjektiver ist, als ich als junger „Linksalternativer“ (oder „Alternativlinker“?) zu erkennen fähig war. Jetzt habe ich die Zeit, darüber nachzudenken und komme doch nicht dazu, weil mich die Geschichte mit Harras nicht in Ruhe lässt. Harras hat mich verraten. Die Kränkung sitzt tief. Er herrscht immer noch über mich, meine Gedanken und meine Zeit. Und das passiert mir als Referent für Zeitmanagement. Ich trainiere angehende und ausübende Manager darauf, ihre Zeit effizient einzusetzen. Ich lasse sie Zeittabellen und Prioritätenlisten erstellen, bringe sie dazu, Blockzeiten durchzusetzen und Time-out-Planungen vorzunehmen. Ich sage ihnen, dass sie zeithart und zielorientiert sein müssen, denn das ist das Wichtigste und teuerste, was sie haben, die Zeit. Sie dürfen nicht geliebt werden wollen, sondern müssen Leistung bringen, effizient sein. Für die Streicheleinheiten sind die Betriebsräte und die Vertrauensleute zuständig oder vielleicht ihre teuer bezahlten Therapeuten. Dafür verdienen sie ja auch genug.

Harras - der feindliche Freund

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