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Kapitel 1 8. Juli 2001

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Liebe Leserin und lieber Leser, Sie sind genau so imaginär wie meine Geschichte real ist. Nur, weil es angenehmer für mich ist, Sie mir in Gedanken vorzustellen und so einen Ansprechpartner zu haben, gibt es Sie. Denn in Wahrheit schreibe ich die Geschichte für mich, für meinen Seelenfrieden, den ich wiederzufinden hoffe, indem ich den Abstand zu allem im Aufschreiben suche, Abstand von den Geschehnissen und besonders Abstand von Harras, dem Teufel.

Entschuldigen Sie, ich sollte mich erst einmal vorstellen: Mein Name ist Henning Wennemann, am 10.10.1958 geboren, also jetzt zweiundvierzig Jahre alt. Weitere Daten zu meiner Person später.

Ich befinde mich in einer sehr prekären Lage, einer Zwickmühle sozusagen. Ich kann weder vor noch zurück, ich bin bewegungslos, gefesselt, eingesperrt, nein, eher im Moment des Startschusses eingefroren, erstarrt, aber voll kinetischer Energie. Etwa so, wie die berühmte Darstellung des griechischen Diskuswerfers: Dieser hat in der extremen Drehung seines Körpers all seine physische Kraft, all seine mentale Energie und all seine mystische Verbundenheit mit dem Olymp konzentriert, um mit Körper, Geist und Seele im nächsten Augenblick in der Drehbewegung zu explodieren, um den Diskus herauszuschleudern, mit aller Macht. Und genau in diesem, so kurzen, aber so entscheidenden Moment hat der Künstler diese Pose in seiner Skulptur eingefroren, versteinert, ohne den Sportler zu fragen, wie er das aushält. So ähnlich geht es mir jetzt, wobei ich alles andere als ein Sportler bin und es mir noch weniger um den Diskuswurf geht. Was mich hat versteinern lassen, liebe Leserin, lieber Leser, wird im Fortgang meiner Geschichte erst Stück für Stück offenbart werden. Und meine Energie, die in mir gefangen ist, taugt nicht gerade zu einem Diskuswurf, sondern eher zu einem Mord. Jetzt in diesem Augenblick möchte ich ihn töten. Ihn, meinen alten Freund und meinen neuen Feind: Harras.

Immer habe ich mir das gewünscht, erträumt sogar. Nicht das Töten, um Himmels Willen, sondern Zeit zu haben, eine Auszeit für mich. Jetzt habe ich den Salat. Und nie war ich weiter weg von diesem Gefühl, was man gemeinhin Glück nennt. Es ist, kurz gesagt, ein Dilemma, ein Desaster, eine Katastrophe.

Dass ich jetzt erst einmal all meiner beruflichen, familiären und andersgearteten Alltagspflichten entledigt bin, liegt daran, dass ich in einem Krankenzimmer in der Uniklinik Essen liege. Einzelzimmer mit Telefon, TV-Video-Kombination, Stereoanlage und Laptop mit Internetanschluss. Dieser Laptop ist mein Rettungsboot, das mich davon abhält, in abgrundtiefe Depressionen zu versinken oder in den unheilbaren Wahnsinn abzudriften. So hacke ich meine Geschichte in die Tastatur wie der Bergsteiger seinen Eispickel ins ewige Eis, um nicht abzurutschen auf dem glatten Gletscher meiner haltlosen Gegenwart.

Gott sei Dank bin ich privat versichert. Ich leide an Frakturen beider Oberschenkel, linksseitig spiralbruchartig verkompliziert, nebst diverser Rippenbrüche, Prellungen, Abschürfungen und Schnittwunden. Die ersten vier Wochen waren von Operationen und Schmerzen bestimmt. Jetzt geht es so leidlich, abgesehen von der Tatsache, dass ich für die nächsten sechs bis acht Wochen völlig bewegungsunfähig bin. Nicht einmal aufstehen kann ich, um aufs Klo zu gehen oder mich zu waschen oder zu duschen. Meine Beine liegen in Plastilinschienenstreckverbänden an Seilzügen mit Stahlgewichten, die an ein Fitnessstudio für Frankensteins Kreaturen erinnern. Das mit dieser Bettpfanne ist mir hochnotpeinlich, jedes Mal.

Wie kam es dazu? Bevor ich mich in weiterer Jammerei ergehe, will ich jetzt mit der Geschichte beginnen, mit meiner Geschichte, die mein bisheriges Leben völlig auf den Kopf gestellt hat und vielleicht – das ist mir jetzt noch nicht klar – mein weiteres Leben bestimmen wird.

Harras - der feindliche Freund

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