Читать книгу Goethe und Grimm hätten sich in Karlsbad und Teplitz treffen können - Winfried Wolf - Страница 5
Grimm trifft Goethe am Sprudel
ОглавлениеDie Glocken der Magdalenenkirche schlugen halb fünf. Grimm öffnete die Augen, blickte gegen das Fenster und lauschte auf die Geräusche, die vom Markt herauf kamen. Heute war Mittwoch, seit einer Woche war nun Grimm schon in Karlsbad. Wie immer um diese frühe Stunde begannen draußen die Händler sich auf den Tag vorzubereiten. Heute gab es unten frisches Obst und Gemüse. Wenn die Kur anschlagen sollte, musste er jetzt aufstehen. Die ärztlichen Vorschriften wollte Grimm genau und mit Beharrlichkeit befolgen. Das Wasser hatte ihm am Anfang nicht geschmeckt, angewidert hatte er beim ersten Becher den Mund verzogen, was die Umstehenden zum Lachen brachte. Nach den ersten Tagen hatte er sich aber wieder an den salzigen, laugenhaften Geschmack gewöhnt aber so war es ja auch schon, als er vor drei Jahren hier zum ersten Mal war. man muss in eine Gewohnheit kommen, dann wird alles leichter. Er öffnete leicht das Fenster und schnupperte nach draußen, es roch nach Regen und es war frisch. Einige Bauern aus der Umgebung hatten schon mit dem Aufbau ihrer Marktstände begonnen. Eben war hier die Sonne aufgegangen, aber sie ließ sich auch heute nicht blicken. Der Himmel zeigte sich grau und verhangen. Er könnte sich das Wasser ja auch bringen lassen aber es war wohl besser am Brunnen selbst zu trinken. Frisch geschöpft ist das Mineralwasser noch unzersetzt und besitzt, wie ihm Dr. Damm, den er zu Beginn seiner Kur aufgesucht hatte, versicherte, noch die volle ihm von der Natur verliehene Kraft. Jetzt hatte Grimm schon eine Woche hinter sich, er hatte alle Vorschriften so gut es ging, streng eingehalten, eine Besserung seiner Leiden zeichnete sich aber noch nicht ab. Der Arzt hatte gelacht: „ Lieber Herr Baron, für die meisten Gäste sind vierzehn Tage Karlsbad lang genug, bei Ihren eingewurzelten Leiden sind zwanzig Tage wenig, aber Sie werden sehen, ab der dritten Woche wird eine Besserung eintreten. Setzen Sie dann noch zwei Wochen drauf und Sie werden bis zum nächsten Jahr geheilt sein. “ Nächstes Jahr, lieber Doktor, da werde ich mit den Meinen in Sankt Petersburg sein oder in Wien oder gar in Konstantinopel, mal sehen, wohin mich die Zarin schicken wird und vielleicht wird dann gar keine Kur mehr nötig sein, es sei denn, ich begleite Katharina in die böhmischen Bäder.
Grimm schloss die Weste über der Brust, zog sich seinen grünen Rock über, warf sich den wollenen Mantel über die Schultern, nahm Stock und Trinkbecher und quälte sich, eine Hand am Geländer, die andere Stock und Becher haltend mit steifen Gliedern die Treppen hinunter und trat auf den morgendlichen Marktplatz hinaus. Von hier zum Mühlbrunnen am Fuße des Schlossbergs waren es nur wenige Minuten. Gewöhnlich begann Grimm am Mühlbrunnen seinen ersten Becher zu trinken aber heute sollte er vielleicht über die Johannisbrücke zum Sprudel laufen, die Wahrscheinlichkeit lag höher, dort den richtigen Leuten zu begegnen. Dieser Goethe wird sich doch sicherlich am Springer laben, der Mann liebt das Schauspiel und wird am dumpfen Getöse des Wassers mehr Freude haben als an einer leise sprudelnden Quelle.
Er überquerte gemessenen Schrittes den schon belebten Marktplatz und ging hinunter zur Johannisbrücke. Die Boutiquen an der Tepel waren noch geschlossen, nur bei einer Bude war der Laden schon aufgeklappt, hier konnten frühe Badegäste Trinkbecher kaufen. Grimm blieb stehen und strich mit dem Zeigefinger über die fleckige Innenwand seines Bechers, er hätte ihn mit frischem Wasser und etwas Kochsalz im Mohren noch auswaschen sollen. Er würde das in seiner Wohnung nachholen, vielleicht nach dem Frühstück, er wird dann auch zur Reinigung der Zähne nach frischen Salbeiblättern geschickt haben. Er richtete sich auf und dachte just in diesem Moment an sein Alter. Ich fahre noch mit 72 zur Trinkkur nach Karlsbad, ohne Sekretär und ohne Diener. Vielleicht hätte ich Madame de Bueil bitten sollen, mich zu begleiten. Wenn alles gut geht, wird diese Woche noch Nolken nach Karlsbad kommen, der Arm der Kaiserin wird mich auch hier erreichen. Damals, als Katharina ihre große Reise in den Süden ihres Reiches unternahm, erreichten mich sogar ihre Briefe aus dem fernen Sewastopol. Grimm hatte die Mitte der Johannisbrücke erreicht, der Sprudel war nun nicht mehr weit.
Eine Gruppe von froh gelaunten Kurgästen zog an ihm vorbei, einige Herren zogen den Hut, ob ein Bekannter darunter war, vermochte Grimm nicht zu erkennen, der Nebel auf seinen Augen hatte sich noch nicht gelichtet. Er folgte der Gruppe und hörte nun schon das dumpfe Getöse des aus den Tiefen des Gestein hervorstoßenden Wassers. An der Wanne im Sprudel saßen auch heute morgen wieder zwei Frauen, die einem den Becher füllen konnten. Grimm schätzte diese Bequemlichkeit, er würde die Frauen, meist arme Witwen, wie er gehört hatte, am Ende seiner Kur angemessen belohnen. Hier konnte man das heiße Wasser nur schlürfend trinken, am Mühlbrunn war es kälter. Es war schon komisch, er war nach Karlsbad gekommen, weil er Heilung suchte, weil er dieses Jahr wieder zu Kräften kommen wollte, Kräfte, die er für die Reise nach Russland im nächsten Jahr dringend benötigen würde. Aber das Heilwasser verursachte schon am Morgen bei ihm eine leichte Übelkeit; er spürte mehr als sonst die Völle seines Leibes und das ranzige Aufstoßen nach dem Genuss des Wassers war ihm mehr als unangenehm.
Ich muss jetzt ein wenig herumgehen, dachte Grimm. Wenn man herumgeht, stößt man auf Leute und eigentlich bin ich ja hier, um diesem Goethe zu begegnen und wenn ich auf diesen Goethe treffe, bekomme ich womöglich gleich einen Schwung von lohnenden Bekanntschaften mitgeliefert.
Grimm entfernte sich etwas von den Umstehenden, er wollte Platz gewinnen, um gesehen zu werden.
Grimm führte den gefüllten Becher zum Munde, übersah aber eine hervorstehende Holzbohle der Brunnenabdeckung, stolperte und fiel zu Boden. Sein Becher rollte einer eleganten Dame vor die Füße während Grimm, am Boden liegend, versuchte, sich mit der nun freien Hand wieder aufzuhelfen. Die junge Dame hielt ihm ihre Hand hin, ein hilfreicher Herr packte ihn an den Schultern und Grimm stand wieder auf seinen Beinen. Er klopfte sich den Schmutz vom Ärmel seines Rockes und schaute etwas irritiert auf das freundliche Frauenzimmer, dass ihm so beherzt zur Seite gesprungen war. „Haben Sie vielen Dank, verehrtes Fräulein ...“ „Marianne Meyer“, sagte die schöne Dame, „ich komme aus Berlin.“ „Berlin, ja, ich kenne die Residenz des Königs. Vor Ihnen schönes Fräulein steht, dank ihrer Hilfe, Baron Grimm.“ „Das freut mich, Herr Baron, ich habe gerne geholfen aber entschuldigen Sie mich jetzt, meine Schwester wartet.“
Der kleine Vorfall hatte die Aufmerksamkeit des Brunnenpublikums, dankbar für jede Abwechslung, auf sich gezogen. Ein alter Herr in einem etwas wunderlichen aber herrschaftlichem Anzug war gestürzt und man hatte ihm aufgeholfen. Wie apart, eine elegante Dame hatte sich seiner angenommen, sie war eine der beiden Frauen, die mit Goethe zusammen zum Brunnen gekommen waren. Und Goethe selbst, der Dichter, er hatte in dem Gestürzten den französischen Emigranten, den deutschen Franzosen, den Baron Melchior Grimm erkannt. Er hatte ihn das letzte Mal vor drei Jahren bei seinem Freund Jacobi in Düsseldorf getroffen. Nun sah er den Baron schneller als er gedacht hatte; noch am Abend seiner Ankunft hatte er sich Gedanken gemacht, wie er ihm hier in Karlsbad wohl begegnen sollte. Jetzt eilte er schnellen Schrittes herüber und streckte Grimm seine Hand entgegen.
„Das leibliche Wohl und seine Gefährdung führen uns wieder zusammen. Was für eine Freude, Sie hier zu sehen, verehrter Herr Baron!“ „Ja, wenngleich die Umstände etwas unglücklich sind, mein lieber Goethe, auch ich freue mich, Sie zu sehen. Mein Sturz beschert mir den größten deutschen Dichter, das nenne ich Glück im Unglück. Ich vermute, Sie sind erst seit kurzem hier, denn ich hatte bisher nicht das Vergnügen Sie im Gewühl der Menge promenieren zu sehen.“ „Ja, ich bezog erst gestern Abend mein Quartier im „Grünen Papagei auf der alten Wiese.“ „Geruhen Sie länger zu bleiben, das Wetter scheint uns ja dieses Jahr nicht besonders hold zu sein.“ „Ich habe meine Kur auf vier Wochen angelegt, aber das wird sich ergeben. Sind Sie schon länger hier, Herr Baron?“ „Eine Woche, ja und drei werden noch folgen, dann muss ich zurück nach Gotha. Bin ja schon wieder lange weg, war im April schon in Dresden aber Sie wissen ja, ich habe eine Familie in Gotha zu versorgen.“ „Ja, Gräfin de Bueil mit ihren Kindern, ich hörte schon von den Frankenbergs, dass Sie sich rührend um diese Familie kümmern. Aber mein lieber Baron, jetzt müssen auch Sie mich schon wieder entschuldigen, die Damen warten auf mich.“ Bei diesen Worten blickte Goethe dorthin, wo die Geschwister Meyer standen. Graf Reuß leistete ihnen nun Gesellschaft, Zeit sich wieder zurückzumelden. „Herr Baron, wir sehen uns gewiss bald wieder. Ich brenne geradezu darauf mit Ihnen zu sprechen. Man hat selten genug die Gelegenheit hier einen Mann von Welt zu treffen.“
Damit entfernte sich Goethe wieder vom alten Grimm, der sich nun einen zweiten Becher füllen ließ und ganz zufrieden mit dem Verlauf der Ereignisse für einen Augenblick seine Schmerzen an der Hüfte und sein morgendliches Unwohlsein vergaß. Mehr als zwei Becher wollte er am Sprudel nicht zu sich nehmen, außerdem hatte er keinen Schlüssel für den Abtritt an diesem Brunnen in der Tasche und so setzte er denn seine nächsten Schritte wieder in Richtung Johannisbrücke. Bis zum „ Mohren “war es nicht weit aber wer weiß, wem er unterwegs heute noch begegnen würde. Eine Bekanntschaft mit diesem Reuß könnte nützlich sein und Goethe war der Mann, der ihm diesen Kontakt ermöglichen würde.
Goethe, wieder bei den Schwestern Meyer angelangt, begrüßte einen alten Bekannten. Fürst Reuß, mit ihm kann Goethe die neuesten politischen Ereignisse besprechen und von ihm wird er sich in den kommenden Tagen über die traurigen Zustände Österreichs aufklären lassen. Man verabredet sich sogleich zu einem Spaziergang für die nächsten Tage nach dem Posthof hin. Und ja, zum Ball der Fürstin von Schwarzburg-Rudolstadt wird auch er, Goethe, kommen, das versteht sich ja von selbst. Heute aber muss sich Goethe ganz den Damen aus dem fernen Berlin widmen, deren Bekanntschaft er schon am ersten Tag seiner Brunnenkur machen konnte. Die beiden sind Geschwister und haben angeblich alles gelesen, was Goethe bisher n die Welt gesetzt hatte. Goethe fühlte sich geschmeichelt, auch wenn das Lob schon fast des Guten etwas zu viel war. Aber die beiden Frauen gefielen ihm, man würde hoffentlich noch viele Stunden gemeinsam verbringen. Besonders Marianne gefällt ihm, sie geht ihm ans Herz. Er fühlt sich befreit und leicht, wie so oft, wenn ihm die Frauen nur schön sind.
Die Geschwister Meyer sind nicht die einzigen interessanten Frauen, die Goethe in den Julitagen des Jahres 1795 in Karlsbad treffen kann. Von Teplitz kam Rahel Levin in Begleitung der Schauspielerin Friederike Unzelmann auf einen kurzen Besuch nach Karlsbad und gleich zu Beginn seiner Kur hatte er Bekanntschaft mit Friederike Brun gemacht. Sie hatte mit ihren beiden Kindern und einem Hauslehrer in Karlsbad Zwischenstation auf ihrer Reise in die Schweiz gemacht. Goethe hatte erst im April ein Lied der Brun in das Gedicht „Nähe des Geliebten“ verwandelt, aber davon hatte er der Brun nichts erzählt, denn ihr Text passte nicht zur Melodie der lebendigen Musik seines Freundes Zelter. Für Friedrike Brun verlief die erste Begegnung mit Goethe etwas enttäuschend. Im Unterschied zu den Schwestern Meyer zeigte sich die Brun nicht uneingeschränkt begeistert. „ Sein Gesicht ist edel gebildet, ohne gleich einen innern Adel entgegen zu strahlen, eine bittere Apathie ruht wie eine Wolke auf seiner Stirn .“ Dennoch trafen sie sich jeden Morgen in der Trinkhalle und spazierten gemeinsam auf und ab, während sie ihr geschwefeltes Wasser tranken. An Schiller schrieb Goethe etwas wegwerfend von der sonderbaren „ Mischung von Selbstbetrug und Klarheit “ die er an dieser Frau zu bemerken glaubte.
Durch Friederike Brun hatte Goethe die jüdische Bankiersfamilie Meyers aus Berlin kennengelernt oder sagen wir besser deren Töchter Marianne und Sara. Zum Kreis der jungen Damen gehörte auch die Sängerin und Schauspielerin Friederike Unzelmann und auch Rahel Levin. Sie stammte ebenfalls aus einer jüdischen Handelsfamilie. Ihr Brieffreund David Veit war ein leidenschaftlicher Bewunderer Goethes, er hatte ihr geschrieben, dass Goethe in Karlsbad war. Dass Goethe sich nun vorzugsweise „ mit einigen hübschen Judenmädchen und einer Actrice “ abgab, war den Humboldts, den„aufgeklärten Männern und denkenden Köpfen“ in Berlin nicht entgangen. Sie konnten sich nur wundern, dass Goethe über den schönen Frauen ganz auf die Geologie und Botanik vergaß und sie fanden es skandalös, dass Goethe den Damen „erstaunlich viel“ vorlas, dass er sich in ihren Alben und auf ihren Fächern verewigte und ihre Schriften kommentierte. Ja es kam noch ärger: Er soll die getauften Jüdinnen Marianne und Sara eingeladen haben, Patinnen des Kindes zu werden, welches Mademoiselle Vulpius in einigen Monaten erwartete. Ja, auch Frau Brun war schockiert: „ Sein Ton mit Frauen, die nicht streng auf sich halten, ist nicht fein. “