Читать книгу Goethe und Grimm hätten sich in Karlsbad und Teplitz treffen können - Winfried Wolf - Страница 9

Ein Ausflug zum Posthof

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Den Posthof kannte Grimm schon von seinem ersten Aufenthalt in Karlsbad her. Man konnte dort in Gesellschaft zu Mittag speisen. Er erinnerte sich an einen Küchengarte mit Schattenbogen und ein niedliches Chineser Häuschen . Wer gut zu Fuß war, konnte von dort durch eine Reihe von Obstbäumen zum Theresienplätzchen hinaufgehen, angeblich dem Lieblingsort Maria Theresias. Vielleicht hätte er die Promenade zum Posthof auch ohne Wagen bewältigen können, aber der gute Graf wollte ihm einen Gefallen erweisen und ihm obendrein noch zwei Damen ins Gefährt setzten, damit er sich gut unterhalte. Nun, wir werden sehen, wie das Spiel ausgeht. Grimm war so frühzeitig zum vereinbarten Treffpunkt gekommen, dass er noch Zeit fand, bei einem Buchkrämer, der seine Bude an der Tepel aufgeschlagen hatte, vorbeizuschauen. Er konnte nur Nachdrucke entdecken und die Titel verreiten den Zweck ihres Dasein: Unterhaltung. Leichte Lektüre für die Kurgäste, vermutlich ebenso leicht und schal wie das ärztlich empfohlene Essen, ohne Geschmack und ohne Würze. Grimm zog sich ein Buch aus dem Kasten und schmunzelte in sich hinein. „Gesänge der Weisheit, Tugend und Freude für gesellige Kreise“ von Arthur vom Nordstern. Der Mann soll ein Liebling der Musen sein und zudem ein Anhänger der ernsten Wissenschaften. Hat mir nicht Reichard von ihm erzählt. Nordstern ist natürlich ein Pseudonym, hinter dem Himmelskörper steckt Gottlob Adolf Ernst von Nostiz und Jänkendorf. Ansonsten jetzt lauter Romane! Was hatte dazu ein Zeitgenosse gesagt? Solange die Welt stehet, sind keine Erscheinungen so merkwürdig gewesen als in Deutschland die Romanleserei, und in Frankreich die Revolution. Es mag wohl sein, dass die Romane wohl eben so viele Menschen unglücklich gemacht haben, als es die so schreckbare französische Revolution . Es sieht jedenfalls nicht danach aus, als dass man sich in Karlsbad von der Lesesucht heilen kann, wenn ich sehe, dass hier der Begierde, sich durch die Büchlein zu vergnügen, nachgegeben wird. Alles dient der Zerstreuung und führt zu einer Verwahrlosung der Leser. Man liest ein Buch, nur um die Zeit zu töten. Es ist ja leider so, dass sich nur diejenige literarische Produktion beim Publikum behaupten kann, die an sich den niedrigsten intellektuellen und ästhetischen Anspruch erhebt. Aber was rege ich mich auf, schon zu meiner Zeit war das Loblied auf die Leichtigkeit des Schluckens und Verdauens beim Lesepublikum weit verbreitet. Die Deutschen halten ihren Klopstock, ihren Wieland, ihren Gessner hoch und was lesen sie? Den „ Werther “, den „ Rinaldo Rinaldini “, den „Geisterseher“, die „ Flucht aus dem Harem von Konstantinopel “ und sonstige Räubergeschichten. Grimm nahm den Roman eines gewissen Cramer zur Hand: „ Die Geheimnisse der alten Egypter “. Er blätterte das Buch durch, es handelte sich um den dritten Band einer ganzen Reihe von Spukgeschichten und blieb mit den Augen am Ende eines Kapitels hängen, das von der Ohnmacht eines jungen Mädchens erzählte. Das nächste Kapitel betitelte der Autor so: „ Frage: Wer ist denn das ohnmächtige Mädchen? Antwort: Vielleicht erfahren wir’s bald.

Was für ein Schwachsinn, entfuhr es Grimm! Er legte das Buch angewidert in den Kasten zurück, hob den Kopf und sah, dass eine offene Kutsche an der Dreifaltigkeitssäule stand, die beiden Meyers saßen schon darinnen und winkten ihm zu. „Der Graf und Goethe sind schon voraus gegangen, rief ihm das Fräulein Marianne zu, steigen Sie ein Herr Baron und seien Sie bis zum Posthof unser Beschützer!“

Die Damen sahen bezaubernd aus in ihren fließenden und eleganten Kleidern nach der neuesten englischen Mode. Die Chemise von rosa Flor lief zur Linken schräg hinauf und schlug sich über die rechte Seite, wo sie in der hohen Taille von einem einfachen weißen Bande gefasst wurde. Ringsum waren die Kanten mit schmalen Spitzen besetzt. Unter der Chemise trugen die Damen, wie Grimm bemerkte, einen Rock von gesticktem Linon.

Grimm sah das alles mit Kennermiene, hatte er doch in seiner Pariser Zeit für etliche Damen der deutschen Hofgesellschaft Einkäufe erledigen müssen. Davon aber sagte er jetzt nichts, doch wenn das Gespräch in der Kutsche auf die Mode kommen sollte, die Damen würden überrascht sein, wie kundig der Baron auch auf diesem Gebiet war.

Sie fuhren über die Johannisbrücke, hielten sich dann am rechten Tepelufer in Höhe der Neuen Wiese und bogen gegenüber dem Sächsischen Saale nach Osten ab, entfernten sich etwas vom Flussufer und folgten, als sie das Flüsschen wieder zu ihrer Rechten hatten, dem Fahrweg weiter bis zur Karlsbrücke. Auf der anderen Seite lag der Posthof, von hier konnten geübte Wanderer auf den Hammerberg steigen oder gemächlich die nahe Theresienhöhe erklimmen. Die Herren Reuß und Goethe hatten sie unterwegs nicht treffen können, sie hatten, wie das Fräulein Sarah wusste, den Fußweg auf der anderen Seite der Tepel genommen, sie würden vermutlich nicht lange nach ihnen am Gasthof sein. Die abwechslungsreiche Landschaft hätte bei dem schönen Wetter, das an diesem Tage eine regnerische Woche abgelöst hatte, ein Gespräch wohl unnötig machen können, doch Grimm sah sich in der Pflicht, die Damen nach seinen Möglichkeiten zu unterhalten. Grimm erinnerte sich eines schönen Hymnus auf Karlsbad und gab mit einer Geste auf die Landschaft weisend einige Verse des dichtenden Ministers Gottlieb Adolf Ernst von Nostiz wieder:

„Deren Haupt in Sonnenstrahlen,

deren Fuß in Klüften weilt;

deren Hand aus vollen Schalen

neues Leben uns erteilt.“

„Bravo“ rief Sarah Meyer aus und Marianne klatschte in die Hände. „Herr Baron, Fürst Reuß hat uns nicht zu viel versprochen, Sie kennen Ihren Goethe!“ „Nicht Goethe, Nostiz heißt der Mann“, wehrte Grimm ab, schob aber gleich ein Kompliment nach, er wollte die Damen bei Stimmung halten und ein Kompliment verfing bei Damen immer, gleichzeitig war es ein Mittel, seine Neugierde zu befriedigen.

„Berlin ist zu beneiden, es wird wohl keine andere Stadt in Europa geben, deren Esprit von so bezaubernden Frauen wie sie es sind, entfacht wird. Mein junger Freund Humboldt ist ja ganz hingerissen, wie er mir schrieb, verdankt er besonders Ihnen, verehrtes Fräulein Meyer, dass Preußens Hauptstadt endlich ein Kulturleben bekommen hat.“ Marianne lachte: „Da übertreiben Sie, Herr Baron, aber Sie haben recht, wir haben jetzt in Berlin eine florierende Salonkultur und Sie hätten bei uns jetzt fast so eine große Auswahl wie Sie ehedem in Paris vorfanden.“ „Ich muss Ihnen wie ein lebendes Fossil erscheinen, meine Damen, aber nutzen Sie ruhig die Gelegenheit, vor Ihnen sitzt ein offenes Geschichtsbuch. Ich erinnere mich nur zu gern an die großen Salonièren der Pariser Gesellschaft. Die Damen Geoffrin und Necker, die bezaubernde Lespinasse, die mit d’Alembert unter einem Dach wohnte, wie viele Stunden der angeregtesten Unterhaltung verbrachte ich dort mit meinen Freunden Rousseau, Diderot, Baron Holbach und, ich kann sie alle gar nicht aufzählen.“ Für mich als jungen Deutschen in der Welthauptstadt der Kultur, ich meine damit natürlich das Paris vor der Revolution, war der Salon die Schule meines Lebens. Und wissen Sie, was den besonderen Reiz dieser Gesellschaften ausmachte? Dort zählte allein der Esprit, nicht Reichtum und Adel, es zählte allein der Geist. Verhält es sich bei Ihnen in Berlin nicht genau so?“

„Wissen Sie“, sagte Sarah Meyer, „warum wir uns in Bädern wie Karlsbad oder Teplitz so wohl fühlen? Wir können hier Bekanntschaften machen und Menschen treffen, denen wir im normalen Leben niemals begegnen würden. Bei uns oder bei unserer Freundin Rahel Levin finden sich Leute ein, die nur der Geist und die gute Unterhaltung zusammenführen, am königlichen Kabinettstisch dürfte schwerlich eine solche Gesellschaft zusammenkommen. Bei uns verkehren ja nicht nur die Brüder Humboldt, da findet sich auch ein Friedrich Gentz, ein Gustav von Brinckmann, da sind Görres, die Brentanos, Adelbert von Chamisso, Friedrich de la Motte Fouqué, Heinrich von Kleist, Jean Paul, Friedrich Schlegel, Friedrich Schleiermacher“ und nicht zu vergessen, Ludwig Tieck“, ergänzte Marianne die Aufzählung ihrer schon atemlos gewordenen Schwester. „Wir sprechen über Literatur, Kunst, Philosophie, und über das Leben, über neue Bücher, Theateraufführungen, Universitätsvorlesungen und mitunter haben wir auch einen Autor unter uns, der aus seinen Werken liest.“

Sarahs Aufzählung hatte fast etwas Beschwörendes an sich, sie trug die Namen und Ereignisse vor, als seien sie nichts weniger als der Beweis ihrer eigenen Existenz. Der alte Grimm wusste das wohl richtig einzuschätzen, es war in Paris nicht anders gewesen: Über die Teilhabe am geistvollen Gespräch konnten sich Frauen einen Platz in der Gesellschaft erobern.

„Und wie steht es mit der Politik“, unterbrach Grimm den Redefluss der Schwestern. Ich hörte, dass auch Prinz Louis Gast in Ihrem Hause sein soll. Ich kenne recht gut seinen Onkel, Prinz Heinrich. „Ja, aber der Prinz interessiert sich nur für die Musik - und für seine kleine Freundin“, fuhr Marianne kichernd dazwischen. „Dann sind also die Vorgänge in Frankreich kein Gesprächsthema in Ihren Kreisen?“, fragte Grimm und schob etwas provozierend nach: „Gab es nicht in gewissen Kreisen auch Sympathie für die Sansculotten? Im Salon der Madame Herz nahm man, wie ich hörte, zumindest die Anfänge der Französischen Revolution mit Sympathie zur Kenntnis. Was ist denn aus dieser Schwärmerei geworden?“

Marianne getraute sich als erste, den Faden wieder aufzunehmen: „Also, was Berlin betrifft, da ist man sich jetzt einig, Gewalttaten können das Interesse am Fortschritt nicht rechtfertigen.“ „Klug geantwortet, Mademoiselle Meyer.“ „Ja, ich gebe zu“, fuhr diese fort, „wir hatten uns ja ganz wohl und behaglich gefühlt in unseren ästhetischen Kreisen und waren nicht auch Wünsche in uns rege, was Gemeinwesen und Stände betraf? Aber um den Preis, den Frankreich zahlt, hätten wir die Erfüllung dieser Wünsche niemals begehrt. Es ist jedenfalls so, aus den enthusiastischen Anhängern wurden in Berlin erbitterte Feinde der Revolution.“ „Sie haben gehörig viel politischen Verstand, Mademoiselle“, sagte Grimm und dachte: „für ein Frauenzimmer wirklich ganz beachtlich.“

Der Wagen hatte jetzt die Karlsbrücke erreicht und man konnte von hier aus schon zwischen den Bäumen das Dach des Posthofes sehen.

Grimm half den Damen lächelnd aus der Kutsche und musste sich dabei seine Schmerzen in den Gelenken verbeißen. Marianne und Sarah hätten seiner Hilfe gar nicht bedurft, aber die Geste war ihm wichtig. Sie sprangen vom Treppchen, nahmen ihn in ihre Mitte, hakten sich bei ihm unter und zogen ihn in ihrem Ungestüm fast mit sich fort, bis hin zum Posthof. War er jemals jung gewesen? Hatte man je von ihm sagen können, dass er ausgelassen, froh und heiter war? Die kleine Ausfahrt hatte ihn angestrengt; wie hatte er nur seine vielen Reisen überstehen können?

Der Wirtsgarten war an diesem sonnigen Tag gut besucht war. Fürst Reuß und Goethe ließen noch etwas auf sich warten und so hatte man denn am Gartentisch nach der Bestellung von Kaffee und Kuchen Gelegenheit, das begonnene Gespräch noch ein wenig fortzusetzen. Es war eine lustige Gesellschaft hier versammelt und Grimm beschloss, die frohe Stimmung nicht durch weiteres Politisieren zu trüben.

Zwar hätte er gerne noch erfahren wollen, wie man denn in Berlin auf den Basler Friedensschluss vom April reagiert habe und ob etwas daran sei, dass König Friedrich Wilhelm angeblich einem Plan Prinz Heinrichs gefolgt sei, dem ja schon immer eine gewisse Sympathie zu den Franzosen nachgesagt wurde. Nein, mit diesem Thema konnte er den Damen jetzt nicht kommen. Er nahm stattdessen ein Thema auf, dass seinen Begleiterinnen wohl in diesen Tagen am nächsten lag: Goethe.

„Hatten Sie schon das Vergnügen, Goethe lesen zu hören? Er macht das großartig, wirkt dabei wie ein Schauspieler. Bei Jacobi las er aus seiner Iphigenie, es war ein Genuss, zu hören, wie er es versteht mit seiner Stimme umzugehen, mal ist sein Vorlesen ein tiefes Donnern, mal vermischt sich der Ton mit dem leisesten Gelispel des Regens.“ „Das haben Sie gut beschrieben, Herr Baron“, sagte Sarah Meyer. „Wir waren dabei, als er vor zwei Tagen bei Madame Brun aus seinem Wilhelm Meister las. Er hat herrliche Sachen gesagt.“ „Er hat sich auf meinem Fächer verewigt“, platzte Marianne dazwischen, „ich habe ihm auch schon mein Tagebuch gegeben, dass er mir etwas hineinschreibt.“ „Die Brun hat ihm auch ihr Tagebuch gegeben und wissen Sie, was er gesagt hat, als er darin blätterte? „Es steht so mancher Narr drin, soll der Goethe nicht auch hinein?“

„Weil Sie das mit der Schauspielerei ansprachen, Herr Baron, es stimmt, Goethe kann sich ganz schnell verwandeln, eben ist er noch der steife Herr Geheimrat und dann wieder sieht er aus wie der leibhaftige Faust. Bald glaubt man ihn auf dem Fass zu sehen und dann wieder scheint es, der Gottseibeiuns würde ihn auf der Stelle wegholen. Die Brun sagte letzthin zu mir: „ Gestern Abend war Goethe wieder etwas faustinisch-wild “, das ist Goethe wie er leibt und lebt! Ich hatte zuerst etwas Scheu vor ihm, man sagte mir, er sei oft ganz kalt gegen alle Menschen und Sachen auf der Erde. Aber ich habe den Eindruck, wenn ihm die Gesellschaft passt und über Kunst gesprochen wird, taut er auf, dann wird sein Auge feurig und er ist der beste Gesellschafter, den man sich wünschen kann.

Und wie gerufen, da erschien der Dichter zur großen Freude seiner beiden Verehrerinnen endlich höchst selbst in Begleitung des Fürsten Reuß am Gartentor. Goethe winkte ihnen freundlich zu, gab eine Bestellung auf und ließ für sich und den Fürsten zwei Stühle an den Tisch der Wartenden herantragen.

Man saß eine Weile zusammen, verteilte die üblichen Komplimente, sprach über das Wetter, neu angekommene Gäste, ein wenig über die bösen Preußen, streifte mit einigen Zitaten die Literatur, hörte Goethe kluge Sachen über Mineralien und Pflanzen sagen, lachte höflich mit den Meyers mit, wenn diese ihr Entzücken mit weiblicher Verführungskraft zum Ausdruck brachten, ja, es war ein schöner Nachmittag.

Am Abend trug Grimm das Folgende in sein Tagebuch ein: Mit den Meyers bei schönem Wetter am Nachmittag zum Posthof gefahren. Die Schwestern erzählten viel von Berlin, man ist gegen die Franzosen, macht aber Frieden mit ihnen, Krieg kostet Geld. Goethe ist für sie ein Gott, ihre Bewunderung für ihn ist grenzenlos. Goethe kam zu Fuß mit Fürst Reuß zum Posthof nach, dann heitere Plauderei mit den Damen im Wirtsgarten. Fuhr allein nach Karlsbad zurück, die jungen Leute wollten noch zur Theresienhöhe. Im Mohren erwartete mich frohe Botschaft, man meldete mir die Ankunft eines russischen Offiziers. Endlich, Nolken ist gekommen und bringt Nachrichten von Katharina. Er wird zwei Tage bleiben, mein Brief an die Kaiserin ist fast fertig, den Rest werde ich ihm diktieren, kann jetzt auch Vertrauliches angeben. Nolken hat bei den Wirtsleuten für einiges Aufsehen gesorgt, er trägt den grünen Rock eines russischen Soldaten, das sieht man hier nicht so häufig. Ich glaube auch bemerkt zu haben, dass die Leute mir jetzt mit mehr Achtung begegnen.

Goethe und Grimm hätten sich in Karlsbad und Teplitz treffen können

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