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Am Morgen des übernächsten Tages fuhr Willie stadtauswärts in Richtung Creoletown, um einen Besuch bei Mrs. Elvira Backus zu machen.

Zuvor hatte er im Gericht um eine Verlegung seiner Termine für den Nachmittag nachgesucht und wegen des Gesangs im Gerichtssaal vor ein paar Tagen eine Standpauke des alten weißhaarigen Richters McCormack über sich ergehen lassen.

»Seit 17 Jahren sage ich Ihnen nun schon, Sie sollen endlich mit diesen Kindereien aufhören«, brummte der Richter. »Sie wissen doch – ich erfahre alles, was hier vorgeht.« Der Richter zog ein Visitenkärtchen aus der Schreibtischschublade. »Das da ist mir auch nicht entgangen.« Er hielt Willie eine Visitenkarte hin, auf der einfach nur stand:

Erzählen Sie mir davon.

P. Willis Croft

Rechtsanwalt

Verlegen nahm Willie das Kärtchen entgegen.

»Wenn ich es für möglich hielte, daß dieses Dings da ernst gemeint ist, würde ich die Anwaltskammer einschalten, und dann hätten Sie massiv Ärger. Manchmal gehen Sie wirklich zu weit, Willie.« Der Richter kam zusehends in Fahrt. »Und diese Singerei neulich, die man bis ins Richterzimmer gehört hat. Ich brauchte den Gerichtsdiener gar nicht erst loszuschicken, weil ich ohnehin wußte, wer dafür verantwortlich war. Wann werden Sie endlich begreifen, daß Sie ein Organ der Rechtspflege sind und kein Hofnarr!«

Da sich Willie reuevoll zeigte, ließ der Richter die Sache auf sich beruhen und bewilligte die Verlegung der Bewährungsüberprüfung und der Urteilsverkündung, die auf den heutigen Nachmittag angesetzt waren. Es war nicht das erste Gespräch dieser Art, das sie miteinander führten, und beide wußten, daß es auch nicht das letzte sein würde. Willie hegte den Verdacht, daß seine verrückten Einfälle Richter McCormack insgeheim soviel Vergnügen bereiteten wie ihm selber.

Als Willie die Route 23 erreichte, hatte die dichte Bebauung schon aufgehört; nur noch ab und zu traf er auf eine Hütte oder einen schäbigen Laden. Zum Teil waren die ebenen, braunen Felder bestellt, zum Teil lagen sie brach. Unter dem grauen Himmel machte alles einen eher deprimierenden Eindruck. Nach einiger Zeit verschwanden auch die letzten Spuren der Zivilisation und machten auf beiden Seiten der Straße einem undurchdringlichem Kieferndickicht Platz. Willie drückte die Zigarette im Aschenbecher seines acht Jahre alten Nash-Cabriolets aus und drehte entnervt am Radio, um den Country-Sender zurückzuholen, der immer leiser wurde.

Zum ersten Mal seit Jahren fuhr er wieder auf dieser Straße, seiner Abkürzung von damals, wenn er nach einem Wochenende zu Hause wieder zur Universität gefahren war. Je weiter er kam, desto trostloser wirkte die Landschaft. Nicht einmal einen Rundfunksender konnte man hier draußen empfangen, jedenfalls nicht mit dem Radio in dem alten Nash. Ein Blick auf das Armaturenbrett verriet ihm, daß es 11 Uhr war und bereits 89 Kilometer hinter ihm lagen. Die Straße machte auch mitten am Tag einen einsamen und verlassenen Eindruck. Das Dickicht aus verkrüppelten Kiefern, das rechts und links bis an den Straßenrand heranreichte, war so dicht, daß man angeblich schon zehn Meter von der Straße entfernt die Orientierung verlor und nicht mehr herausfand.

Und darunter lag das Öl.

Es war nur noch eine Frage von Wochen, wenn nicht von Tagen, bis einzelne Parzellen dieses Landes für Millionenbeträge den Besitzer wechseln würden – und möglicherweise würde er, Willie Croft, im Zentrum des Geschehens stehen.

Der endlos erscheinende Wald rückte noch näher an die Straße heran. Man hatte nicht das Gefühl, daß es hier Öl geben könnte. Zehn Minuten später bog Willie von der Route 23 auf eine nicht ausgeschilderte, asphaltierte Straße ab und folgte ihr bis zu einem baufälligen Laden. Nach Priscillas Wegbeschreibung führte der unbefestigte Feldweg, der auf der anderen Straßenseite abging, zum Haus von Mrs. Elvira Backus.

Ein halbes Dutzend Hühner pickte ziellos auf dem Hof herum, und eine abgemagerte Kuh, die mit einem Strick an einen Baum gebunden war, glotze Willie mit müden Augen an.

Während die meisten Schwarzen auf dem Land in ungestrichenen, mit Teerpappe verkleideten Behausungen wohnten, hatte dieses Haus einen weißen Anstrich, der allerdings schon einige Jahre alt war. Die Veranda, auf der drei grob gezimmerte Stühle und ein kleiner Tisch standen, nahm die ganze Vorderfront ein. Aus dem Backsteinkamin drang weißer Rauch, der langsam verwehte.

Als Willie ausstieg, stand schon eine Frau in der Tür. Ihr von Wind und Sonne gegerbtes Gesicht hätte 100 Jahre alt sein können.

Er ging zur Treppe und stellte sich vor. »Willie Croft. Ihre Tochter Priscilla wollte Ihnen Bescheid sagen, daß ich komme. Ich bin Rechtsanwalt.«

Die alte Frau musterte ihn skeptisch. Ob auch eine gewisse Ängstlichkeit im Spiel war, sah man dem runzligen Gesicht nicht an. Wahrscheinlich hatte sie Übung im Verbergen ihrer Furcht vor Angehörigen jener Rasse, die der ihren seit 300 Jahren mit Verachtung begegnete, sie peinigte und ausbeutete. Erst als sie einander schon eine ganze Weile gegenüberstanden, sagte die Frau im melodischen Tonfall der Schwarzen auf dem Land:

»Kommen Sie doch herein.« In Gerichtssälen und Gefängniszellen, auf Gerichtsfluren und am Telefon hatte Willie im Lauf der Jahre mit unzähligen Schwarzen gesprochen, doch nun betrat er zum ersten Mal in seinem Leben das Haus einer Schwarzen.

Innen war es ziemlich dunkel, aber aufgeräumt und sauber und roch intensiv nach einer Speise, die er nicht gleich identifizieren konnte. Auf einem Tisch an der Wand waren Tierfiguren aus Glas und Plastik, verschiedene Andenkenteller und anderer Krimskrams aufgereiht. Mrs. Backus deutete mit einer einladenden Geste auf den Eßtisch in der Mitte des Raums und fragte: »Möchten Sie eine Tasse Tee?«

»Sehr gern«, antwortete Willie.

Sie ging zum großen schwarzen Herd, um den Tee aufzubrühen. Dabei sagte sie so nüchtern und sachlich, als hätte sie immer schon mit dieser Demütigung gerechnet, daß die Holts ihr das Haus wohl wegnehmen würden.

»Warum wollen sie das tun?« fragte Willie.

»Seine Kinder sagen, sie brauchen es jetzt selbst«, antwortete sie.

Willie zog seinen Notizblock aus der Tasche und legte ihn vor sich auf den Tisch. Was ihm Mrs. Backus nun berichtete, hatte er im wesentlichen vor ein paar Tagen schon von Priscilla gehört. Er notierte sich sämtliche Daten und Uhrzeiten möglichst genau. Neu war für ihn, daß nach Brevard Holt und den Leuten von der Ölfirma noch zweimal bei Mrs. Backus angeklopft worden war: Zuerst wollte ihr ein Reifenhändler aus einer 15 Kilometer entfernten Kleinstadt die Bohrrechte abkaufen, dann der Landarzt, dessen Praxis an der Route 23 lag.

Beide hatte sie weggeschickt.

»Man hat hier oben Öl gefunden. Die Chancen stehen gut, daß man auch auf Ihrer Parzelle fündig wird, und dann schießt der Wert ihres Landes in die Höhe. Sie könnten reich werden.«

Auch nach dieser Eröffnung blieb Mrs. Backus Miene undurchdringlich. Sie stellte ihm eine Tasse Tee hin, setzte sich zu ihm an den Tisch und betrachtete ihn ruhig.

»Als Anwalt gebe ich Ihnen den folgenden Rat«, fuhr Willie fort. »Es war völlig richtig, nichts zu unterschreiben. Bleiben Sie dabei, ganz egal, worum es sich handelt. Außerdem müssen Sie beantragen, daß das Land, das Ihnen gehört, auch auf Ihren Namen eingetragen wird. Wie groß ist Ihr Besitz?«

Sie zögerte einen Augenblick lang und sagte dann sehr bestimmt: »Es reicht vom Weg bis zum Bach hinunter und von dem Platz, wo früher die Sägemühle war, bis zum Abbalgplatz hinüber.« Mit der ausladenden Handbewegung, die ihre Beschreibung verdeutlichen sollte, konnte Willie leider nur wenig anfangen.

»Wie viele Hektar sind das ungefähr?« fragte er.

»Das weiß ich nicht«, antwortete sie. »Ich weiß nur, wo das Grundstück anfängt und wo es aufhört.«

»Ihre Tochter sagt, Mr. Holt hat Ihnen eine Schenkungsurkunde gegeben.«

»Ja«, antwortete sie.

»Könnte ich vielleicht einen Blick auf die Urkunde werfen?« fragte er vorsichtig.

»Die habe ich weggeräumt.« Willie spürte ihr Mißtrauen.

»Wissen Sie, es wäre hilfreich, wenn ich sie sehen könnte. Sie müssen nachweisen, daß das Grundstück Ihnen gehört, notfalls sogar vor Gericht.«

Die alte Frau hatte die Augen niedergeschlagen und rieb sich unschlüssig die Hände. Offensichtlich fiel es ihr schwer, dieses überaus wichtige Dokument einem Fremden in die Hand zu geben. Sie saßen sich schweigend gegenüber. Willie wollte Mrs. Backus nicht drängen. Er stand auf, ging zu dem Tisch in der Ecke und betrachtete das kunstvolle Arrangement aus Tierfiguren und anderem Krimskrams: eine Maus, die größer war als der Löwe und der Hund, neben denen sie stand, ein Blumenstrauß aus klarem Glas mit rot angemalten Blütenblättern, ein Körbchen und eine kleine Harfe aus Glas. Das Zentrum des Arrangements bildete eine Schale, in der zwei Goldmedaillons lagen. Eingraviert war in beide »Meiner lieben Elvira« in Verbindung mit einem Datum. Wer ihr die edlen Stücke verehrt hatte, verriet die Gravur nicht. Es juckte Willie in den Fingern, die Medaillons umzudrehen, um auf der Rückseite nachzusehen.

»Ich hole Ihnen die Urkunde«, sagte Mrs. Backus und verschwand im anderen Raum. Nach einer Weile kam sie mit einem ausgebleichten weißen Umschlag wieder herein und legte ihn vor Willie auf den Tisch. Sie sahen einander schweigend an, bevor er das Kuvert öffnete, und ein vergilbtes, dreimal gefaltetes Blatt Papier herauszog, auf das ein Lageplan gezeichnet war.


Willie studierte die Urkunde genau. Es war eine einfache Zeichnung, doch die Linien hatte man offenbar von einem amtlichen Lageplan durchgepaust und dann die Ortsangaben dazugeschrieben. Sofern die Unterschriften des Schenkenden und der Zeugin, einer gewissen Hannah Holt Loftin, für echt befunden wurden, war dieser 19 Jahre alte Zettel an sich eine rechtsgültige Urkunde. Da er bisher nicht aktenkundig war, blieb allerdings fraglich, wie viel sich damit ausrichten ließ, doch möglicherweise entschied er darüber, wem Millionen von Dollar zufallen würden.

»Wann hat er Ihnen das gegeben?« fragte Willie.

»Am Weihnachtstag 1940«, antwortete Mrs. Backus. »Im Frühjahr darauf ist er dann gestorben. Er hat den Brief selber vorbeigebracht, und wir sind die Grundstücksgrenzen ganz genau abgegangen.«

»Hat er gesagt, warum er Ihnen das Land geschenkt hat?«

»Er hat bloß gesagt: ›Elvira, das gehört jetzt dir und deinen Kindern.‹ Er war höflich, aber auch ein bißchen nervös.«

»Warum nervös?«

»Das weiß ich nicht.«

»Woran haben Sie es denn gemerkt?«

»Das hat man eben gesehen.«

»Ist er oft hierhergekommen?«

»Es war seit langem das erste Mal, aber früher ist er oft gekommen, und an Weihnachten hat er immer einen Korb mit Obst und einem Truthahn geschickt und Spielzeug für die Kinder.« Nach einer kurzen Pause fügte sie hinzu: »Als die Kinder dann größer waren, ist er nicht mehr gekommen.« Dieser Nachsatz machte Willie hellhörig. Falls es zu einem Gerichtsverfahren kommen sollte, konnte jede Kleinigkeit wichtig sein.

»Warum? Haben die Kinder ihn geärgert?«

»Nein. Ich habe brave Kinder«, betonte Mrs. Backus.

»Warum ist er dann nicht mehr gekommen?«

»Das weiß ich nicht. Er hat es mir nicht verraten.« Mrs. Backus schien mit den Gedanken in der Vergangenheit zu sein und blickte ihn selbstbewußt an: »Wahrscheinlich wollte er die Kinder nicht mehr sehen.«

Willie lehnte sich zurück und studierte das runzlige Gesicht und die schwarzen Augen, die an ihm vorbei durch das kleine Fenster auf das Maisfeld und die dunkel aufragende Baumgruppe blickten.

Dann seufzte Mrs. Backus und holte tief Luft. »Es wird wohl daran liegen, daß es seine Kinder sind«, sagte sie, als würde sie Willie an eine altbekannte Tatsache erinnern. »Priscilla und Daniel sind von ihm.«

Ist das zu fassen! dachte Willie.

Er rumpelte in seinem alten Nash auf dem holprigen Feldweg zur asphaltierten Straße hinunter. Jetzt erschien Mrs. Backus’ Rechtsanspruch auf das Land in einem ganz neuen Licht. Sie hatte ihren Kindern sogar den Nachnamen des Vaters gegeben. Priscilla und Daniel Holt! Willie hatte Priscillas Mädchenname nicht gekannt, aber selbst wenn er gewußt hätte, daß sie eine geborene Holt war, hätte er die Namensgleichheit vermutlich für einen Zufall gehalten. Allein schon die Vorstellung erschien absurd. Ob Augustus Tompkins und die Holts Bescheid wußten?

»Ist das zu fassen!« Diesmal sagte er es laut.

Willie hatte vorgeschlagen, eine Kopie von der Urkunde machen zu lassen und das Original in einem Banksafe zu deponieren, doch Mrs. Backus wollte nichts davon wissen. Sie habe dieses Blatt Papier seit 19 Jahren kein einziges Mal aus der Hand gegeben und werde es auch jetzt nicht tun.

Mrs. Hannah Loftin, die Frau, die als Zeugin unterschrieben hatte, war die Schwester des alten Holt. Sie wohnte noch in der Gegend von Creoletown.

»Früher habe ich für Mrs. Loftin gearbeitet, aber jetzt ist sie sehr alt und erschöpft«, hatte Mrs. Backus gesagt.

Willie beschloß, der alten Dame einen Besuch abzustatten. Es war einen Versuch wert, und er war gespannt, wie man ihn empfangen würde.

Als er auf einen krummen Kiesweg einbog, brach die Sonne durch die Wolken und vertrieb die düstere Kälte. Goldruten winkten fröhlich von den weiten Feldern, und am aufklärenden Horizont schimmerten Ahornbäume. Am liebsten hätte Willie angehalten, um das Verdeck seines Cabriolets zu öffnen, doch er war fast schon am Ziel. Zwei Backsteinpfeiler markierten den Beginn der Auffahrt, die zu Mrs. Loftin Haus auf eine baumbestandene Kuppe hinaufführte. Es war kein Herrenhaus, sondern eher ein großes Cottage von altertümlichem Charme. Die beiden Kamine an den Giebeln waren von Efeu umrankt, und an einem Spalier an der Seitenwandung des Holzhauses kletterten spätblühende Rosen hinauf. Willie stieg aus und betätigte den Türklopfer. Er wartete eine Weile und klopfte erneut, doch es rührte sich nichts, obwohl Licht brannte. Er ging um das Haus herum und trat durch eine gepflegte Buchsbaumhecke in einen kleinen Garten. Auf einem Liegestuhl unter einer Glyzinie lag Mrs. Hannah Loftin und schlief.

Er zögerte einen Augenblick, bevor er sich durch ein lautes Hüsteln bemerkbar machte. Als die alte Frau aufsah, trat er näher und stellte sich vor.

»Mrs. Loftin? Mein Name ist Willie Croft. Ich bin Rechtsanwalt.«

Die alte Frau richtete sich auf, ohne sich durch den plötzlich aufgetauchten Fremden aus der Ruhe bringen zu lassen. Willies Anwesenheit schien sie nicht sonderlich zu erstaunen oder zu beunruhigen.

»Entschuldigen Sie die Störung, Madam. Hätten Sie einen Augenblick Zeit für mich?«

»Ich habe gerade einen Mittagsschlaf gemacht, Mr.«

»Croft«, sagte Willie.

»Croft«, wiederholte sie. »Verzeihen Sie. Sagten Sie, daß Sie Anwalt sind?«

»Ja, Madam. Ich bin in einer bestimmten Angelegenheit für Elvira Backus tätig.«

Mrs. Loftins Augen leuchteten auf. »Ach, für Elvira, Mr. ...«

»Croft.«

»Elvira war gestern hier: Sie kocht für mich.«

Ein paar braune Glyzinienblätter schwebten auf den Boden. Willie stand immer noch ein paar Meter weit von Mrs. Loftin weg und fühlte sich reichlich unbehaglich.

»Sie war ... gestern hier?« fragte er verblüfft.

»Aber ja. Sie kommt nur noch dreimal in der Woche. Früher ist sie jeden Tag gekommen, aber seit mein Mann nicht mehr lebt, gibt es nicht mehr soviel zu tun.« Sie sah auf die Bäume hinter der Buchsbaumhecke. »Elvira ist doch hoffentlich nicht in Schwierigkeiten?«

»Nein, Madam, eigentlich nicht und sie war gestern tatsächlich hier?«

»Ja, natürlich«, lachte Mrs. Loftin. »Sie kommt jeden Montag, Mittwoch und Freitag, und gestern war doch Montag, nicht? Also war sie gestern hier.«

Willie schluckte die Entgegnung, die ihm auf der Zunge lag, hinunter.

»Setzen Sie sich doch, Mr. ...«

»Croft.«

»Ach ja, richtig. Möchten Sie vielleicht eine Tasse Tee oder Kaffee?« fragte sie und machte Anstalten aufzustehen.

»Bemühen Sie sich nicht. Ich würde gerne mit Ihnen über das Grundstück sprechen, das Ihr Bruder Mrs. Backus gegeben hat.«

»Das ist doch nur ein Stück Land. Was könnte ich Ihnen darüber sagen?«

»Nun ja, Mr. Johnathan Holt hat kurz vor seinem Tod eine Schenkungsurkunde ausgestellt, und Sie haben als Zeugin unterschrieben.«

Mrs. Loftin sah ihn an, wobei sie den Kopf schräg hielt wie ein Wellensittich. »Richtig! Johnathan hat gesagt, er schenkt Elvira das Grundstück, wo sie ihre kleine Hütte hat.«

»Und er hat Sie gebeten, die Schenkungsurkunde als Zeugin zu unterschreiben, nicht wahr?«

»Daran kann ich mich nicht erinnern. Aber möglich wär’s schon. Lassen Sie mich nachdenken.«

»Wissen Sie noch, wann das war?« fragte Willie. »Ich meine, in welchem Jahr.«

»In welchem Jahr? Aber das ist doch noch gar kein Jahr her. Das war erst vor ein paar Wochen. Es war kalt, und es hat geregnet.«

Enttäuscht preßte Willie die Lippen zusammen. »Aber Mrs. Loftin, Ihr Bruder ist 1941 gestorben. Es muß vorher gewesen sein.«

»Wie kommen Sie denn darauf?« rief sie. »Er war doch erst vor ein paar Wochen hier. Ich kann mich ganz genau daran erinnern. Es war kalt, und es hat geregnet. Ich habe gesagt: ›John, komm rein und setz dich ans Feuer.‹ Vorher habe ich ihn noch die Schuhe ausziehen lassen, und dann habe ich Tee für ihn gemacht.«

Vor dem Haus hielt ein Auto mit knirschenden Reifen auf dem Kiesweg. Die Wagentür schlug zu. Es klopfte an der Haustür.

Mrs. Loftin spitzte die Ohren. »Wir sind im Garten!« rief sie fröhlich, und kurz darauf kam in einer hellbraunen Hose und einem roten Kaschmirpullover Whitsey Loftin um die Ecke. Sie sah blendend aus.

»Hallo, meine Liebe« flötete Mrs. Loftin. »Wie schön, daß du mich besuchst. Das ist Mr. ...«

»Croft.« Willie hatte sich erhoben.

»Mr. Croft ist Anwalt, Liebes. Er ist für Elvira in einer Grundstückssache tätig.«

»Guten Tag, Mr. Croft.« In Whitseys Miene spiegelte sich Argwohn, aber auch Neugier. »Kennen wir uns nicht? Vielleicht aus meinem Laden? Ich habe vor ein paar Monaten den Buchladen Black Star übernommen.«

»Ja, natürlich, dann kennen wir uns«, stotterte Willie. Er hatte sie nicht wiedererkannt, da sie in der Buchhandlung immer eine Brille trug und die Haare hochgesteckt hatte.

Whitsey beugte sich über ihre Tante und hauchte ihr einen Kuß auf die Wange. »Frierst du auch nicht hier draußen? So warm ist es nun auch wieder nicht. Wie lange bist du denn schon im Freien?«

»Erst seit ein paar Minuten, Liebes. Ich wollte hier draußen nur einen kleinen Plausch halten. Mit Mr. ...«

»Croft«, sagte Willie entmutigt.

»Sollen wir hineingehen und Tee machen?« fragte Mrs. Loftin.

Whitsey warf Willie noch einmal einen kurzen prüfenden Blick zu, den man durchaus als geringschätzig deuten konnte, bevor sie ihrer Tante beipflichtete: »Ja, vielleicht sollten wir ins Haus gehen. Wenn Mr. Croft überhaupt noch bleibt.«

Die drei gingen in das geräumige und gemütliche Wohnzimmer. Mrs. Loftin setzte sich in einen großen Lehnstuhl, Willie nahm auf der Couch Platz. Whitsey ging in die Küche und setzte das Teewasser auf. Sie hörte die beiden anderen im Wohnzimmer reden. Vor allem redete ihre Tante, während Willie nur ab und zu lachte oder zustimmte. Als sie die Teekanne und die Tassen auf einem Tablett ins Wohnzimmer trug, war es Willie gerade gelungen, das Gespräch wieder auf Elvira und Johnathan Holt zu bringen.

»Ich weiß, es ist sehr lange her, Mrs. Loftin. Aber erinnern Sie sich vielleicht doch noch an die Schenkungsurkunde? Sie haben als Zeugin unterschrieben.«

Die alte Frau blickte nachdenklich in den offenen Kamin, in dem kein Feuer brannte. »Ich habe seine Schuhe und seinen Mantel getrocknet. Die waren klatschnaß.«

»Und er hat eine Urkunde mitgebracht, nicht wahr? Er wollte, daß Sie unterschreiben ...«

»Er hat ... ach ja ...« In ihren Augen blitzte etwas auf. »Er wollte mir etwas mitteilen. Deswegen hat er mich besucht.«

»Ach, Mr. Croft, könnten Sie mal schnell in die Küche kommen?« sagte Whitsey und reichte ihrer Tante eine Tasse Tee. »Ich habe da ein Glas, das ich nicht aufbringe.« Sie sprach mit einem gewissen Nachdruck.

»Selbstverständlich.« Willie stand auf, während Mrs. Loftin gerade an ihrem Tee nippte. Als er an der Küchentür war, hörte er einen leisen Seufzer. Er drehte sich um und sah, daß sie wieder mit leerem Blick in den offenen Kamin starrte.

Als sie außer Hörweite von Mrs. Loftin waren, sagte Whitsey ungehalten: »Mr. Croft, es wird Ihnen aufgefallen sein, daß meine Tante nicht im Vollbesitz ihrer geistigen Kräfte ist.«

»Ja, das ist mir aufgefallen.«

»Dann weiß ich nicht, was Sie mit Ihren Fragen bezwecken. Vielleicht sollten Sie ein anderes Mal wiederkommen, wenn sie sich erholt hat.«

»Glauben Sie, daß sie sich erholen wird?«

»Meine Tante hat gute und schlechte Tage.«

»Es kam mir so vor, als ob sie vorher nahe daran war, sich zu erinnern.«

Whitsey sah ihn durchdringend an. Willie ließ ihre klaren blauen Augen auf sich wirken.

»Hören Sie zu, Mr. Croft«, sagte sie leise. »Sie bringen mich in eine schwierige Situation. Ich weiß nicht recht, ob Sie überhaupt hier sein sollten.«

Sie richtete ihren Oberkörper auf. Willie verstand durchaus, daß sie damit ihren Worten Nachdruck verleihen wollte, aber im Moment interessierten ihn vor allem ihre vollen Brüste unter dem Kaschmirpullover.

»Wenn ich Sie richtig verstehe, sind Sie der Anwalt der Schwarzen, die auf Onkel Johns Besitz wohnen?«

»Nun ja, ich habe bisher kein Mandat, doch das kommt vielleicht noch.«

»Aber Sie sind im Interesse dieser Familie, das sich vermutlich nicht mit den Interessen meiner Familie deckt, hier?«

»Das ist richtig.«

Whitsey ließ ihren wachsamen Blick auf Willie ruhen. Mit Anwälten kannte sie sich recht gut aus, da es in ihrem Bekanntenkreis eine ganze Reihe von Juristen gab und sie mit zwei von ihnen eine Beziehung gehabt hatte – mit dem einen in ihrer Zeit in Atlanta und mit dem anderen während ihrer zwei Washingtoner Jahre. Sie war zu dem Ergebnis gekommen, daß Angehörige dieses Berufsstandes in der Regel Langweiler waren, die ihre Tage damit zubrachten, irgendeinen unsinnigen Wirrwarr anzurichten beziehungsweise aufzudröseln.

Willie Croft ließ sich jedoch nicht ohne weiteres dieser Kategorie zuordnen. In seinem zerknitterten Regenmantel und mit einer abgewetzten Kunstlederaktentasche tauchte er alle paar Wochen kurz vor Ladenschluß in der Buchhandlung auf und kaufte sechs bis acht Bücher, meist Taschenbücher. Ihre Aufmerksamkeit hatte er durch seine eigenartige Auswahl erregt: zwei, drei Romane von Hemingway und ein paar reißerische Krimis zum Beispiel. Einmal hatte er die Principia Philosophiae von Descartes, eine annotierte Ausgabe von Shakespeares Richard III. und sieben billige Sexromane gekauft. Sie hatte sich gefragt, in welcher Reihenfolge er die Bücher wohl las. Machte er sich gleich an Descartes und las zwischendurch mal schnell einen Porno? Oder las er zuerst alle Pornos, um sich dann die schwerere Kost vorzunehmen? Ein Mensch mit solchen Lesegewohnheiten interessierte sie – in Maßen.

Whitsey war in den vergangenen zehn Jahren viel herumgekommen. Sie hatte in drei verschiedenen Großstädten gelebt und fremde Länder bereist, war auf allen möglichen Partys gewesen und auch bei den Liebesaffären nicht zu kurz gekommen. Erst seit einem Jahr war sie wieder in der Stadt ihrer Vorfahren, wo eine Frau mit dem Namen Holt nicht einfach nur eine neue Mieze war, bei der man sein Glück versuchen konnte. Aber im Grunde hatte sie schon wieder genug von der engstirnigen, wohlgeordneten Provinzstadt. Nicht nur die steifen Junggesellen mit ihrer übertriebenen Höflichkeit und die Abendgesellschaften, bei denen das Gespräch unweigerlich um Geld, Kinder und »Nigger« kreiste, ödeten sie an, sondern sogar ihre Freundinnen von früher, von denen die meisten zwei Schwangerschaften und den Umzug in ein größeres Haus hinter sich hatten.

Willie schien sich von alledem abzuheben. Obwohl sie ihn nur flüchtig kannte, fühlte sie sich ein wenig zu ihm hingezogen. Er war weder gutaussehend noch unscheinbar, weder groß noch klein, weder dick noch dünn, hatte aschblonde Haare und ein rundes, leicht sommersprossiges Gesicht. Sie mochte seine lässige Art und sein ungezwungenes Lächeln. Aber in seinen Augen sah sie auch noch etwas anderes, das sie bisher nicht bemerkt hatte – es mußte von einer schlimmen Kränkung kommen, die ihm eine Frau, vielleicht aber auch sein ganzes Leben zugefügt hatte. So etwas weckte stets ihre Neugierde. Sie hatte immer schon mit Vorliebe »streunende Hunde« zu sich genommen. In der Regel verlor sie zwar relativ schnell das Interesse an ihnen, doch sie machte es immer wieder.

»Ich möchte nicht unhöflich erscheinen«, hörte sie sich sagen, »aber ich finde, Sie sollten eigentlich nicht hier sein. Wenn das meine Cousins und meine Cousine wüßten, wären sie außer sich. Jemanden, der bei klarem Verstand ist, kann man natürlich befragen, aber ...«

Mit einer begütigenden Geste unterbrach er ihre Erklärungen. »Sie haben vollkommen recht, Miß Loftin. Ehrlich gesagt, habe ich mir gleich gedacht, daß ich nichts ausrichten würde, als ich merkte, daß Ihre Tante ... nicht ganz bei sich ist. Ich gehe jetzt.«

Da Whitsey auf einmal das Gefühl hatte, grob gewesen zu sein, sagte sie spontan: »Trinken Sie doch erst noch ihren Tee. Wir können ja von etwas anderem reden.«

Sie unterhielten sich noch fast eine halbe Stunde lang. Willie brachte Whitsey und ihre Tante mit Geschichten von witzigen Mandanten und Gerichtsszenen zum Lachen. Ab und zu schien die alte Dame bei völlig klarem Verstand zu sein, doch dann klangen ihre Worte immer wieder eher wirr. Als Willie sich verabschiedete, ging Whitsey mit ihm zur Tür.

»Tut mir leid, Mr. Croft«, sagte sie. »Wegen meiner Tante und ...«

»Das muß Ihnen nicht leid tun. Es war sehr nett von Ihnen, daß ich noch bleiben durfte.«

»Es war nett, Sie kennenzulernen.« Whitsey blickte auf den Himmel. »Ein richtig schöner Nachmittag. Es wird bestimmt eine schöne Fahrt.«

»Ja. Bleiben Sie länger bei Ihrer Tante?«

»Nein, ich fahre heute auch noch zurück. Nach dem Abendessen.«

»Dann sehen wir uns wohl demnächst in der Stadt. Mir geht nämlich der Lesestoff aus.«

»Ja, kommen Sie vorbei. Ich habe gerade eine neue Büchersendung erhalten.«

Willie nickte und ging zum Auto. Es wäre schön gewesen, wenn sie gesagt hätte, »essen Sie doch mit uns.« Bei seinem verdammten Pech sah es allerdings eher so aus, als würden sie künftig in feindlichen Lagern stehen. Was er heute erfahren hatte, sprach dafür, daß es eine heftige Auseinandersetzung geben würde.

Als Willie die Stadt erreichte, fuhr er zuerst zu seinem Büro und hörte den Anrufbeantworter ab. Augustus Tompkins hatte gleich zweimal angerufen und um Rückruf gebeten. Nicht weniger als drei Telefonnummern hatte er angegeben, um sowohl im Büro als auch zu Hause und im Club erreichbar zu sein.

Willie versuchte es erst einmal im Büro, und zu seiner Überraschung nahm Tompkins persönlich ab. Womöglich hatte er auf Willies Anruf gewartet. Es war jedenfalls schon nach sechs.

»Wir sollten uns über diese Sache in Creoletown unterhalten« sagte Tompkins lässig. »Warum treffen wir uns nicht in der Bar des Raphael House?«

»Jetzt?« fragte Willie. Geschäftliche Besprechungen bei einem Cocktail nach Büroschluß waren in Bienville eher unüblich.

»Je früher, desto besser«, rief Tompkins munter, doch in seiner dröhnenden Stimme schwang ein besorgter Beiklang mit.

»Okay«, sagte Willie. Als er aufgelegt hatte, suchte er ein paar Akten zusammen, die er zu Hause durcharbeiten wollte, hinterließ der jungen Frau, die halbtags in seinem Büro arbeitete, eine Nachricht und zog seinen hellbraunen Regenmantel an. Er ging die Treppen hinunter, überquerte die Straße und betrat das altehrwürdige Raphael-House-Hotel. Wie immer blieb er einen Augenblick lang stehen, um die gewaltige Buntglaskuppel über der Hotelhalle zu bewundern und einen Glückspenny in den Goldfischbrunnen zu werfen. In der Bar wartete Augustus Tompkins schon auf ihn.

»Was kann ich Ihnen bestellen, Willie?« Tompkins winkte mit einer energischen Handbewegung den Ober herbei.

»Einen Bourbon.« Als sich der Ober entfernt hatte, fragte Willie: »Worum geht’s, Augustus?«

»Um diese verdammten Schwarzen in Creoletown.« Anscheinend hatte sich Tompkins für die Dauer des Gesprächs ein Limit gesetzt, das er nicht zu überschreiten gedachte.

»Was ist mit ihnen?« erkundigte sich Willie.

»Vertreten Sie diese Leute?«

»Offiziell noch nicht, aber wahrscheinlich bald«, sagte Willie vorsichtig.

»Hm«, brummte Tompkins. »Dann gehen wir wohl am besten davon aus, daß diese Leute Ihre Mandanten sind.« Er machte eine Pause und musterte Willie mit strenger Miene. »Meine Mandanten, die Holts, möchten diese Sache schnell bereinigen, um mit ihrem Vorhaben weiterzukommen.«

»Mit welchem Vorhaben?« fragte Willie.

»Das wissen Sie ganz genau, Willie.« Seine dröhnende Stimme war kein Ausdruck von Feindseligkeit. Tompkins sprach immer so. In Gerichtsverhandlungen vermittelte dieses kraftvolle, hypnotisierende Grollen den Eindruck von Rechtschaffenheit und Urteilskraft. »Ich habe mir die Sache inzwischen mal näher angesehen und meine Leute die Gesetzbücher wälzen lassen. Ihre Mandanten haben zwar nicht die geringste Chance, aber Sie können natürlich alles eine Zeitlang blockieren, und für meine Mandanten bedeutet jeder Tag einen finanziellen Verlust. Wie Sie wissen, haben die Holts der alten Frau bereits 25 000 Dollar angeboten. Um Streitereien aus dem Weg zu gehen, würden sie sogar noch höher gehen. Meinen Sie, die Frau wäre mit einer Abfindung von 35 000 Dollar einverstanden?«

»Wir haben eine Schenkungsurkunde, Augustus.« Willie spielte ein wenig Katz und Maus, da im Moment die Maus im Vorteil zu sein schien.

»Die ist doch völlig wertlos. Sie kennen doch das Gesetz über die Testierfähigkeit. Das Schreiben wurde weniger als ein Jahr vor dem Tod des Erblassers verfaßt. Im übrigen können wir nachweisen, daß Johnathan Holt damals nicht ganz bei Verstand war.«

Willie nippte an seinem Bourbon. Er hatte nicht den geringsten Zweifel, daß jeder Arzt im Umkreis von 60 Kilometern zu der Aussage bereit war, der alte Holt sei reif für die Klapsmühle gewesen, als er die Schenkung vorgenommen hatte. Doch seinen größten Trumpf hatte Willie noch im Ärmel.

»Wenn Sie die Frau zur Annahme der 35 000 Dollar bewegen, ersparen Sie auch sich selbst eine Menge Ärger«, fuhr Augustus fort. »Sie wissen doch, wie das läuft. Wenn die Sache vor Gericht geht, reichen wir zehn Schriftsätze pro Tag ein. Wir decken Sie so mit Arbeit ein, daß Sie zu nichts anderem mehr kommen. Ausgerechnet jetzt, wo Sie ein paar lukrative Fälle in Aussicht hätten.« Mit einem diabolischen Grinsen legte Tompkins seinen ledernen Tabaksbeutel auf die Bar und stopfte seine Pfeife.

Willie schaute ihn verblüfft an. Sein Tätigkeitsfeld war Tompkins bekannt, und seine Fälle konnte man schwerlich als »lukrativ« bezeichnen.

»Wie meinen Sie das?« fragte er.

»Ganz einfach.« Tompkins fingerte immer noch an seiner Pfeife herum. »Es gibt in unserer Stadt ein paar Anwälte, die nicht die Fälle bekommen, die sie verdient hätten. Weil sie lieber allein arbeiten, oder was weiß ich, warum. Reich werden sie jedenfalls bestimmt nicht. Nun ist Ihnen bekannt, daß meine Kanzlei ein großes Auftragsvolumen hat. Natürlich sind wir auch ein großes Team, aber manchmal können wir trotzdem nicht alles selbst bewältigen.«

Tompkins rieb ein Streichholz an, sog genüßlich an seiner Pfeife und betrachtete Willie durch den Rauch. »Wenn die Überlastung zu groß wird, lasse ich manchmal einem jungen Anwalt einen Fall zukommen – Leuten wie Ihnen. Das kommt zwar nur ein- oder zweimal im Jahr vor, aber der Streitwert ist in der Regel sehr hoch.«

»Soll das heißen, Sie schieben mir ein paar von diesen Fällen zu, wenn ich die alte Frau dazu bringe, die 35 000 Dollar anzunehmen?« fragte Willie.

Tompkins nahm die Pfeife aus dem Mund und machte ein entsetztes Gesicht. »Keineswegs. Das sind zwei völlig verschiedene Dinge. Ich handhabe das, wie gesagt, schon seit vielen Jahren so, und ich habe mir schon lange vorgenommen, Ihnen mal ein paar Fälle zu geben. Schließlich gelten Sie als guter, engagierter Anwalt, und außerdem gefällt mir Ihre Art.«

Willie nahm einen kräftigen Schluck Bourbon, stellte das Glas wieder auf den Tisch, lehnte sich zurück und fixierte Augustus Tompkins. »Sie gehören hinter Gitter, Sie altes Miststück«, sagte er ruhig.

Empört riß Tompkins den Kopf hoch wie eine Viper. »Das ist unerhört, Willie! An so etwas habe ich überhaupt nicht...«

»Ich weiß genau, was Sie vorhaben, Augustus. Was würden Sie sagen, wenn ich ein Tonband im Mantel stecken hätte und unser Gespräch der Ethikkommission der Anwaltskammer vorspielen würde?«

Tompkins schnaubte erzürnt. »Sie haben mich gründlich mißverstanden.«

»Ach ja?« sagte Willie sarkastisch. »Sie haben wohl urplötzlich Ihre Sympathie für mich entdeckt, was?«

»Jetzt hören Sie doch zu, Willie.« Tompkins dröhnte schon wieder. »Es geht mir einzig und allein darum, allen Beteiligten eine Menge Ärger zu ersparen und die Angelegenheit so zu regeln, daß auch die Schwarzen etwas davon haben. Was ist daran auszusetzen?«

»Das will ich Ihnen sagen. Es ist ausgemachter Blödsinn. Das Grundstück gehört Mrs. Backus und ihren Kindern, das wissen die Holts und Sie so gut wie ich. Ich werde dafür sorgen, daß sie ihren Rechtsanspruch durchsetzen kann.«

»Das ist völlig illusorisch«, erklärte Tompkins kategorisch. »Wir können nachweisen, daß Mr. Holt senior damals nicht bei Verstand war.«

»Und wenn schon«, sagte Willie triumphierend. Er fand, daß es an der Zeit war, die Katze aus dem Sack zu lassen. »Wissen Sie, welchen Nachnamen die Kinder von Mrs. Bakkus tragen? Ich werde es Ihnen verraten. Sie heißen Holt. Und soll ich Ihnen auch sagen, warum sie so heißen?«

Tompkins nahm einen Zug aus der Pfeife und runzelte ungehalten die Stirn. »Was soll denn das nun wieder?«

»Weil der Vater Ihrer Mandanten auch der Vater dieser beiden Kinder ist. Die Holts haben in Creoletown zwei Halbgeschwister, Augustus.«

Tompkins fuhr zurück, als hätte ihn eine Schlange gebissen. »Was?« brüllte er. Vor Schreck fiel ihm die Pfeife aus dem Mund und polterte auf den Tisch. Er sprang auf und rieb hektisch an seiner Hose herum, da sich die Glut auf seinen Schoß ergossen hatte. Die Flüche, die er ausstieß, galten sowohl der glimmenden Hose als auch den brandaktuellen Neuigkeiten.

Die letzten Tage des Sommers

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