Читать книгу Die letzten Tage des Sommers - Winston Groom - Страница 12

5

Оглавление

Aus Willies Absicht, den ersten Schlag zu führen, wurde nichts. Zwei Tage später rief ihn die völlig aufgelöste Priscilla an, um ihm mitzuteilen, daß ihrer Mutter von einem Gerichtsdiener ein Räumungsbefehl zugestellt worden war, der ihr eine Frist von zwei Wochen ließ.

»Sie soll sich keine Sorgen machen«, sagte er mit beruhigender Stimme. »Am besten reagiert sie gar nicht auf das Schreiben. Ich werde morgen oder übermorgen Einspruch erheben. Dann passiert bis zur gerichtlichen Klärung der gesamten Angelegenheit überhaupt nichts.«

Als er aufgelegt hatte, ordnete er die Unterlagen, die er durchgearbeitet hatte, und schob sie dann auf dem Schreibtisch beiseite. Mit diesem Manöver hatten die Holts eine neue Sachlage geschaffen. Willie mußte sich darüber klarwerden, welche Strategie er nun verfolgen wollte, wobei von entscheidender Bedeutung sein konnte, wem gegenüber er die Katze wie weit aus dem Sack ließ. Er wollte sich das Ganze noch einmal durch den Kopf gehen lassen, und zwar bei einer Tasse Kaffee und einem Stück Obstkuchen in der Imbißecke des Drugstores nebenan.

Über der Bucht von Bienville ballten sich niedrige Wolken zusammen. Von der Schiffswerft bliesen heftige Windböen feinen, stechenden Regen herein. Abgesehen von ein paar Tauben, die unter den Eichen Futter vom Boden pickten, lag die Promenade verlassen da. Willie zog den Hals ein und hielt seinen Regenmantel am Kragen zu. Als er um die Ecke gebogen war, wurde er unter einem riesigen Regenschirm hervor von einer Frauenstimme angesprochen.

»Mr. Croft! Willie!«

Er beugte sich vor, um unter den Schirm schauen zu können.

»Ah, Miß Loftin!«

»Ganz ohne Schirm bei diesem Wetter?«

»Den hab ich irgendwo stehenlassen«, sagte Willie. Er drehte der Bö, die ihm ins Gesicht blies, den Rücken zu.

»Dann sollten Sie wenigstens einen Hut tragen«, sagte Whitsey. »Sie werden ja klatschnaß.«

»Ich wollte nur kurz im Drugstore einen Kaffee trinken. Kommen Sie mit?«

Sie zögerte einen Augenblick. Eine weitere Bö stülpte ihren Schirm nach oben.

»Ja. Vielleicht läßt der Regen nach.«

Sie setzten sich an einen Tisch am Fenster und schauten zu, wie der Regen fast waagrecht gegen die Scheiben peitschte.

»Heute haben wir ein paar Bücher hereinbekommen, die Sie vielleicht interessieren«, sagte Whitsey. »Die Taschenbuchausgabe von Some Came Running und einen Krimi von Agatha Christie zum Beispiel.«

Willie nippte an seinem Kaffee. »Zum Lesen eignet sich ein Tag wie heute prächtig. Sonst allerdings zu fast gar nichts.«

Nachdem sie sich noch eine Weile über das Wetter und über Bücher unterhalten hatten, erfuhr Willie von ihr, daß die Holts nicht nur dann rasch handelten, wenn es um Mrs. Backus ging.

»Wie geht es Ihrer Tante?« fragte er.

»Eigentlich ... ganz gut«, antwortete Whitsey.

»Sie ist sehr nett. Das Gespräch mit ihr hat mir gefallen.«

»Eigentlich ... Ach, zum Teufel!« Wütend preßte Whitsey die Lippen zusammen. »Ich komme gerade von Augustus Tompkins. Er hat mich gebeten, in seine Kanzlei zu kommen. Ich bin noch ganz durcheinander und weiß nicht, was ich machen soll. Offenbar haben meine Cousins und meine Cousine die Entmündigung meiner Tante beantragt.« Sie erzählte ihm, daß es dazu gekommen war, weil sich ihre Tante standhaft weigere, den Besitz zu teilen. Die ganze Geschichte sprudelte nur so aus ihr heraus.

»Meine Tante hat einfach kein Interesse an dem Projekt«, sagte Whitsey. »Sie ist über 80 und braucht kein Geld. Außerdem wohnt sie schon seit 40 oder 50 Jahren da oben. Die anderen behaupten, daß sie nicht begreift, um was es geht, aber das stimmt nicht. Für sie ist es eben unwichtig.«

»Aus der Sicht der anderen ist sie wohl ziemlich stur«, sagte Willie.

»Vielleicht hätte sich das ändern lassen, wenn man mir mehr Zeit gegeben hätte. Wer so alt ist wie meine Tante, muß sich an neue Gedanken erst einmal gewöhnen.«

»Was sagt der Anwalt Ihrer Tante?« fragte Willie.

»Sie hat keinen«, entgegnete Whitsey. »Augustus Tompkins war immer der Anwalt für die ganze Familie, aber jetzt steht er auf der Gegenseite. Er hat gesagt, sie solle sich einen eigenen Anwalt suchen, weil sonst das Gericht einen für sie bestellt. Ich soll ihr das alles erklären. Tompkins hofft, daß sie dann doch noch nachgibt.«

»Glauben Sie, daß er recht hat?«

»Ganz im Gegenteil. Vor lauter Zorn wird sie gar nicht mehr zuhören.«

»Hm. So etwas erschüttert einen Menschen natürlich«, sagte Willie.

»Willie, würden Sie die Verteidigung meiner Tante übernehmen?«

»Ob ich ...?« fragte Willie verblüfft. »Wie kommen Sie gerade auf mich?«

»Meine Tante kennt Sie, und ich hatte den Eindruck, sie mag Sie. Außerdem befassen Sie sich doch ohnehin schon mit dieser Ölgeschichte, und alle anderen Anwälte, die ich kenne, sind Freunde von Augustus. Würden Sie den Fall übernehmen?«

»Ja«, sagte Willie. »Wenn Ihre Tante mir das Mandat erteilt.«

»Das werde ich ihr vorschlagen, wenn ich morgen zu ihr fahre. Ich muß ihr wohl alles sagen, obwohl es ihr das Herz brechen wird.«

»Wann werden Sie ungefähr zurücksein?«

»Relativ früh, würde ich sagen. Vermutlich noch bei Tageslicht. Warum?«

»Weil ich Sie fragen wollte, ob ich Sie zum Essen einladen darf«, sagte er.

»Das müßte gehen«, sagte sie. »Ja, gern.«

Willie blickte aus dem Fenster seines Büros im fünften Stock in das trübe Wetter hinaus. Von Süden her zogen dunkle Wolken auf. Man sah kaum noch bis zum Fluß, der vom Regen gepeitscht wurde. Er begann mit seinem Schriftsatz im Fall Backus.

Er brauchte fast bis 20 Uhr. Morgen früh würde seine Teilzeitsekretärin den Schriftsatz abtippen. Am Nachmittag würde er ihn dann einreichen – und auf die Explosion warten. Ein vulgärer Reim aus Kindertagen kam ihm in den Sinn:

»Du bist geschniegelt und gebügelt,

hast nen Scheitel im Haar.

Wo warst du bloß,

als die Scheiße am Dampfen war?«

Er legte den Block beiseite und räumte den Schreibtisch auf. Dann nahm er seinen Regenmantel und löschte das Licht, blieb aber in dem dunklen Raum stehen. Nach einer Weile setzte er sich noch einmal. Die Stadt glitzerte wie ein verlassener Volksfestplatz. Neonschilder warben für abgetakelte Hafenkneipen. In all den Jahren, in denen er nun schon in diesem Büro arbeitete, hatte sich nichts verändert, und jetzt plötzlich, in einer einzigen Woche ...

Eine zaghafte Hoffnung stieg in ihm auf, die zum Teil mit seinem neuen Fall und zum Teil mit Whitsey Loftin zu tun hatte. Eigentlich mehr mit Whitsey, dachte er, zumal die Sache mit dem Öl noch sehr vage und unsicher war. Warum war er die ganzen Jahre nie jemandem wie ihr begegnet?

Ehemalige Freundinnen kamen ihm in den Sinn.

Mit der Krankenschwester Gladys Parker, die nicht rauchte, keinen Alkohol trank und kein Fleisch aß, war er – mit Unterbrechungen – fast ein Jahr lang zusammen gewesen, bis er ihre allgemeine Abstinenz nicht mehr ertragen hatte, auch wenn sich die nicht auf regelmäßigen Geschlechtsverkehr bezogen hatte, den sie als einen gesundheitsfördernden Sport betrachtete – sonst aber als nichts anderes, soweit er es beurteilen konnte.

Dann war da noch Wanda Beasley gewesen, eine religiöse Spinnerin, die mit ihrer Mutter zusammengelebt hatte. Sie wollte nicht mit ihm schlafen und konnte auch nicht gut küssen.

»Ich hab’ nie gelernt, wie das geht«, sagte sie. Nach einem halben Jahr schaffte er es dann doch, daß sie mit ihm ins Bett ging (genauer gesagt: auf die Couch), und zu seiner Verwunderung erlebte er mit ihr den besten Sex seines Lebens. Am nächsten Morgen, einem Sonntag, war sie jedoch schon aufgestanden und zu ihrer Mutter gefahren, als er aufwachte, und als er sie später anrief, gab sie sich sehr distanziert und teilte ihm mit, daß sie den ganzen Tag in der Kirche für ihr sündiges Tun um Vergebung gebetet habe. Willie bedrängte sie noch einmal ein halbes Jahr lang und führte sie immer wieder zum Essen aus, was ihn ein kleines Vermögen kostete, doch sie blieb standhaft. Dann erfuhr er von Kollegen, daß sie mit allen möglichen Männern geschlafen hatte, aber jeden von ihnen nach dem ersten Mal genauso abgefertigt hatte wie ihn.

Zwischen diesen beiden Beziehungen lag eine deprimierende Abfolge von Bekanntschaften mit Sekretärinnen, Bedienungen und Liftmädchen, mit denen er zum Teil geschlafen hatte, zum Teil aber auch nicht. Und jetzt hatte er Whitsey Loftin kennengelernt.

Die Hoffnung keimte immer stärker auf, und Willie versuchte immer noch nicht, sie zu ersticken.

Für ihn war Whitsey eine uneitle Schönheit, die Wärme und Selbständigkeit ausstrahlte. Einer Frau wie ihr war er noch nie begegnet. Er überließ sich Träumereien von gemeinsamen Wochenenden, an denen man spät aufstand, frühstückte, Zeitung las, sich liebte ...

Wäre das nicht großartig? dachte er. Dann schreckte er aus seinen Träumen auf und machte sich systematisch daran, seine Hoffnungen zurückzuschrauben, da er in den letzten zehn, fünfzehn Jahren die bittere Erfahrung gemacht hatte, daß man praktisch nie bekam, was man sich wünschte, wenn man der Hoffnung die Zügel schießen ließ – was er oft genug getan hatte. Er stand auf, nahm den Schirm und die Aktentasche und ging in den Regen hinaus.

Bald nachdem er am folgenden Nachmittag den Schriftsatz für Mrs. Elvira Backus eingereicht hatte, erhielt er einen eisigen Anruf von Richter McCormacks Sekretärin.

»Der Richter möchte, daß Sie sofort herkommen, Mr. Croft«, sagte sie.

Eine halbe Stunde später ging Willie die Stufen zum Gerichtsgebäude hinauf. Burt, der Gerichtsdiener, begrüßte ihn am Eingang: »Diesmal müssen Sie was Schlimmes angestellt haben, Mr. Croft. So wütend habe ich ihn noch nie erlebt.«

»Ich habe einfach nur Tacheles geredet, Burt«, sagte Willie. Als er in den Vorraum trat, hörte er die bellende Stimme des Richters:

»Zum Teufel, wo bleibt er?«

»Er ist gerade hereingekommen«, sagte die Sekretärin und schaute Willie mißbilligend an.

»Schicken Sie den Kerl sofort rein!« knurrte McCormack.

Der Richter, ein kleiner runder Mann Anfang 60, stand mit düsterer Miene hinter seinem Schreibtisch, Willies Schriftsatz in der Hand.

»Guten Morgen, Euer Ehren«, begrüßte Willie ihn höflich.

»Diesmal haben Sie den Bogen überspannt, Mr. Croft«, sagte der Richter. »Ich werde Ihre elenden Späße nicht länger dulden.«

Willie sah ihn verdutzt an. »Wie meinen Sie das, Euer Ehren? Was habe ich getan?«

»Sie wissen verdammt gut, wovon ich rede, Croft!« explodierte der Richter. Über den Schreibtisch herüber wedelte er mit dem Schriftsatz vor Willies Gesicht herum. Sein dicker, schwabbeliger Hals drohte den Hemdkragen zu sprengen.

»Sie haben wohl gedacht, daß ich das komisch finde, was?« knurrte er. »Ich habe Ihre ganzen verdammten Streiche hingenommen, aber mit dieser Schweinerei sind Sie eindeutig zu weit gegangen«, schäumte der Richter. »Ich habe Ihnen immer gesagt, daß es eines Tages so kommen würde.«

»Das ist kein Scherz, Euer Ehren«, protestierte Willie. »Es ist ein seriöser Schriftsatz im Auftrag meines Mandanten.«

Der Richter glotzte Willie ungläubig an. »Soll das heißen, Sie wollen dieses Pamphlet allen Ernstes einreichen?«

»Ja, Euer Ehren«, erwiderte Willie.

Der Richter ließ sich auf seinen Bürostuhl fallen. Die Akte landete auf seinem Schoß. Er drehte sich zum Fenster. Nach einer Weile begann er, den Schriftsatz zu überfliegen. »Absurd«, murmelte er kopfschüttelnd, als er fertig war.

Da Willie nichts sagte, folgte ein ungemütliches Schweigen, bis der Richter wutentbrannt aufsprang.

»Das ist der helle Wahnsinn!« schrie er. »Sie müssen den Verstand verloren haben! Ist Ihnen überhaupt klar, was Sie da zu Papier gebracht haben? Sie klagen eine der führenden, wenn nicht die führende Familie der Stadt der Rassenmischung an, was in Louisiana bekanntlich ein Verbrechen ist!«

»Ich klage niemanden an, Euer Ehren«, widersprach Willie höflich. »Ich möchte nur den Sachverhalt korrekt wiedergeben. Im übrigen geht es nur um den bereits verstorbenen Mr. Johnathan Holt senior.«

»Nichts als Verleumdung«, zischte der Richter.

»Tote kann man nicht verleumden«, sagte Willie, womit er die Wut des Richters von neuem entfachte.

»Und ob man das kann! Ich spreche von der Ehre grundanständiger Mitbürger und nicht von einem Straftatbestand.« Er warf den Schriftsatz auf den Schreibtisch und deutete mit der Hand darauf. »Sie erheben die ungeheuerliche Beschuldigung, daß die Mitglieder der Familie Holt, grundanständige Leute und gute Christen, Niggergeschwister haben. Und das soll keine Verleumdung sein?«

»Euer Ehren, Fakten sind Fakten, und ich bin überzeugt davon, daß meine Klienten die Wahrheit sagen.«

»Die Wahrheit!« schrie der Richter. »Ich scheiße auf die Wahrheit! Haben Sie eine Vorstellung davon, was Sie der armen Familie damit antun? Ihren kleinen Kindern? Was es für einen Skandal gibt, wenn diese Anschuldigungen auch nur andeutungsweise bekannt werden?«

»Bei allem Respekt, Sir. Arm sind die Holts wirklich nicht. Außerdem darf man nicht vergessen, was diese Familie meiner 78jährigen Klientin antut. Sie soll das Haus räumen, in dem sie ihr Leben lang gewohnt hat.«

»Großer Gott.« Der Richter setzte sich wieder und vergrub den Kopf in den Händen. »Johnathan Holt war ein guter Freund von mir. Ich halte sein Andenken in Ehren, und Sie besudeln es.«

»Ich will niemandes Andenken besudeln«, sagte Willie zerknirscht. »Ich will nur meine Klientin so gut wie möglich vertreten.«

Der Richter musterte Willie, als ob er ein Ungeheuer wäre. Dann schlug er mit der Faust auf den Tisch, daß der Aschenbecher tanzte.

»Herrgott! Mit diesem Scheiß kommen Sie doch nicht durch, Croft! Ich sage Ihnen, was ich machen werde. Ich nehme ihren Schriftsatz zu den Akten und erkläre ihn für vertraulich. Wenn diese Sache tatsächlich vor Gericht kommen sollte, verhandle ich in nichtöffentlicher Sitzung. Sie lassen außerhalb des Gerichtssaals kein Sterbenswörtchen verlauten, sonst landen Sie wegen Mißachtung des Gerichts im Gefängnis.« Der Richter holte tief Luft und hob warnend den Zeigefinger. »Ich kann Ihnen nur raten, Ihre Verteidigung dieser Frau auf eine andere Grundlage zu stellen. Ihre bisherige Argumentation ist absolut unhaltbar«, zischte er.

Willie nickte. »Gibt es sonst noch etwas, Euer Ehren?«

»Nein«, sagte der Richter schneidend. »Das wäre alles.«

Willie holte Whitsey Loftin in ihrem kleinen, sorgfältig restaurierten Häuschen ab, das hinter einem alten Herrenhaus im Garden District lag. Er lenkte seinen alten Nash aus der Stadt hinaus. In der ganzen Bucht bekam man nirgends so gute Meeresfrüchte wie in Beaudreux’ kleinem Restaurant am Bayou aux Oeils. Zumindest behaupteten das die Stammgäste, zu denen auch Willie zählte.

Es war ein großartiger Abend für eine Spazierfahrt. Die Sonne verschwand langsam hinter dem Horizont, während sie durch das flache Land fuhren und auf wackligen Brücken schlammige Bäche überquerten, die sich in die Bucht ergossen. Mehrmals versicherte er Whitsey, daß sich für das Essen, das sie bekommen würden, eine Autofahrt von 28 Kilometern lohnte. Von den Ölfunden sprachen sie nicht.

Beaudreux’ Restaurant war eine Art Baracke und stand auf Pfählen, die am Rande des Bayou in einen der Salzsümpfe getrieben waren. Von der Straße gelangte man über einen Pier zu der Tür des Lokals, das aus einem einzigen großen Raum mit Fenstern nach allen vier Seiten bestand. Ein bauchiger Ofen in einer Ecke des Raums spendete Wärme. Beaudreux war ein wuchtiger Frankolouisianer mit fleischigen Händen, der das Lokal in zweiter Generation führte. Er umarmte Willie zur Begrüßung.

»Ah, Mister Croft! Ich heiße Sie mit Ihrer bezaubernden Freundin willkommen.«

Er führte sie zu einem Ecktisch mit Blick auf die Salzsümpfe, die sich bis zum Mississippi-Sund erstreckten und mit hohem Schilfgras bewachsen waren. Der Halbmond, der schon recht hoch am Himmel stand, tauchte die Szenerie in ein goldbraunes Licht. Über den dunklen Bayou hinweg konnte man den Baum und die Netze eines Krabbenkutters ausmachen, der an einem Pier angelegt hatte. Ohne ihre Bestellung abzuwarten, brachte Beaudreux ihnen zwei Gläser, einen Eiskübel und einen Krug Wasser. Willie holte den mitgebrachten Early-Times-Bourbon aus der Papiertüte, schraubte den Deckel ab und schenkte in beide Gläser einen ordentlichen Schluck ein.

»Diese verdammten Baptisten und ihr verdammtes Gesetz«, beklagte sich Beaudreux. »Früher konnte man überall einen Drink bestellen. Für mein Gewerbe ist das der Ruin. Man sollte sie erschießen!«

»Das ist starker Tobak, Beaudreux«, sagte Willie. »Das ist Demokratie, verstehst du?«

»Ha!« stieß Beaudreux mit düsterer Miene hervor. »Wenn wir wirklich eine Demokratie hätten, würden diese Leute längst mit dem Gesicht nach unten auf dem Bayou aux Oeils treiben. Sie wollen verhindern, daß man zu seinem Whisky kommt!« Dann war er plötzlich wieder die Liebenswürdigkeit in Person. »Warten Sie, ich bringe Ihnen eine Lampe.«

»Ein richtiges Original«, sagte Whitsey.

»Und ein großartiger Koch«, bemerkte Willie.

Beaudreux brachte eine kleine Öllampe und stellte sie zwischen ihnen auf den Tisch. »Der verdammte Strom ist viel zu teuer«, grummelte er. »Und außerdem ist es schöner so, nicht wahr?« Er verschwand in der Küche.

»Gibt es hier überhaupt keinen Strom?« fragte Whitsey.

»Nein. Beaudreux arbeitet nur mit öl, Kohle und Holz. Eis für den Kühlschrank bekommt er von den Krabbenkuttern. Urig, finden Sie nicht?«

»Stimmt.« Whitsey nickte. »Ich bin übrigens ganz ausgehungert. Wo bleibt die Speisekarte?«

»Gibt’s hier nicht«, sagte Willie. »Beaudreux wird uns erzählen, was er heute zu bieten hat.«

Ihre Gläser waren noch halb voll, als Beaudreux wieder hereinkam.

»Heute habe ich einen roten Schnappbarsch, den ein Boot am Nachmittag vorbeigebracht hat, und ein paar Flundern von heute morgen. Dann noch ein paar Bon-Secours-Austern, die Charlie Antoine heute morgen geerntet hat. Die meisten habe ich gleich selber ausgeschlürft, weil sie so süß und frisch sind, aber ich reserviere ein paar für Sie. Falls Sie kreolische Krabben wollen, müssen Sie es mir gleich sagen, damit ich auf Arnaux’ Kai welche holen kann. Dann hab ich noch Langusten, die ungefähr vor drei Stunden lebendig reingekommen sind.«

Willie wandte sich zu Whitsey. »Haben Sie schon einmal Langusten gegessen?«

»Nein«, sagte sie.

»Beaudreux, damit fangen wir an.«

»Wie viele möchten Sie? Eine Platte?«

»Sagen wir, eine halbe«, antwortete Willie.

»Gut. Ich werf’ sie gleich in den Topf, ja?«

»Prima«, sagte Willie. Er schenkte Whitsey und sich noch einen Bourbon ein. »Wie ist es bei Ihrer Tante gelaufen?«

»In gewisser Weise gar nicht schlecht. Sie hatte keinen besonders guten Tag. Ich habe ihr erzählt, was passiert ist, aber sie hat es wohl nicht richtig begriffen.«

»Das ist unerfreulich.«

»Dabei hatte ich zwischendurch immer wieder den Eindruck, sie versteht sehr wohl, was ich ihr erzähle. Aber dann hat sie nur gesagt: ›Mein Entschluß steht fest: Solange ich lebe, passiert überhaupt nichts mit dem Besitz.‹«

»Haben Sie ihr erklärt, daß sie sich auf ein Gerichtsverfahren einstellen muß?«

»Ja, natürlich. Ich habe gesagt, wenn du keinen Anwalt beauftragst, benennt das Gericht einen für dich, aber sie meinte nur: ‹Das ist doch Unsinn. Was soll ich mit einem Anwalt?«

Beaudreux kam aus der Küche ins Lokal und stellte eine Platte mit weinroten Langusten auf den Tisch, dazu Schälchen mit Zitronenscheiben und geschmolzener Butter.

»Bon appétit«, sagte er.

Willie zeigte Whitsey, wie man Langusten schält, und legte ihr einen saftigen Langustenschwanz auf den Teller.

»Mmhhh. Großartig«, sagte sie.

Willie lächelte. »Ich muß Ihnen leider sagen, daß die Gegenseite ihren Antrag wahrscheinlich durchbringen wird. Ihre Tante sollte sich deshalb schon im voraus einen Kompromiß überlegen, mit dem sich beide Seiten anfreunden können.«

»Genau das habe ich ihr klarzumachen versucht«, sagte Whitsey, »aber sie läßt sich nichts sagen. Wissen Sie, ich habe den Eindruck, manchmal versteht sie alles ganz genau, und dann wieder überhaupt nicht.«

»Vielleicht sollte ich mit ihr reden?« bot er an.

»Ja, vielleicht«, sagte Whitsey.

Nach den Langusten aßen sie zu zweit ein Dutzend Bon-Secour-Austern, anschließend wurde dampfender Schnappbarsch in einer würzigen Soße mit gedämpftem Reis serviert. Whitsey saß ihm lächelnd gegenüber. Willie fühlte sich in ihrer Gesellschaft so wohl, wie schon seit vielen Jahren mit keiner Frau mehr – wenn überhaupt jemals.

Sie hatten sich zwar über Whitseys Tante, ansonsten aber nicht über die Familie Holt unterhalten. Er wäre gern auf Johnathan Holts Kinder zu sprechen gekommen, um zu vermeiden, daß sie es unvorbereitet von den Holts erfuhr, doch die Anordnung des Richters hinderte ihn daran. Nach dem wenigen, was er von Whitsey wußte, hoffte er, daß sie sich nicht ins Bockshorn jagen ließ, aber ausschließen konnte er natürlich nicht, daß sie kein Wort mehr mit ihm sprechen würde. Er konnte aber ohnehin nichts mehr rückgängig machen.

Auf der Rückfahrt sprachen sie nur wenig. Der Halbmond, der über dem Salzsumpf gestanden hatte, als sie zum Bayou aux Oeils gekommen waren, war mittlerweile weit nach Westen gewandert. Willie stellte die melodiöse Big-Band-Musik eines Senders aus New Orleans ein, und Whitsey schlief während des größten Teils der Fahrt, wobei ihr Kopf auf dem Rand der Rücklehne lag und an der Scheibe lehnte. Als er vor ihrem Häuschen angehalten hatte, stieg er rasch aus und öffnete die Wagentür für sie.

»Ich möchte Sie etwas fragen«, sagte sie, als sie die Stufen zum Eingang hinaufgingen. »Nächsten Samstag beginnt die Saison für die Debütantinnen. Beim Azaleenball.«

»Sind sie eine Debütantin?«

»Sie wissen, was ich meine.«

»Ich habe von dem Debütantinnenball gehört.«

»Würden Sie mit mir hingehen?«

Sie hatten die Tür erreicht. Willie zögerte einen Augenblick mit der Antwort. Er fürchtete, daß der Backus-Schriftsatz diese Einladung hinfällig machen könnte. Ach, was soll’s, dachte er dann.

»Gern«, sagte er. »Sofern Sie sich dort mit einem Trampel wie mir blicken lassen wollen.«

»Es ist eine ziemlich förmliche Veranstaltung«, sagte sie.

»Als Student habe ich mir einen Smoking zugelegt. Ich glaube, er paßt noch.«

Sie schaute ihn an. »Es ist sogar sehr förmlich. Mit Krawatte, meine ich.«

»Ach so«, sagte Willie. »Dann werde ich mir wohl eine besorgen müssen.«

Die letzten Tage des Sommers

Подняться наверх