Читать книгу Die letzten Tage des Sommers - Winston Groom - Страница 9
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ОглавлениеBienville war keine Kleinstadt, aber auch keine richtige Großstadt. Die beiden nach katholischen Heiligen benannten Hauptstraßen liefen rechts und links an dem von Eichen umgebenen Promenadeplatz vorbei, auf dem aus alten Zeiten noch eine Kanone und ein Musikpodium standen. Es gab zwei große Kaufhäuser, eine Bank, ein Maklerbüro, Vertretungen der drei großen Automobilfirmen und ein Krankenhaus aus der Zeit vor dem Bürgerkrieg. Kein Gebäude in der Stadt hatte mehr als zehn Stockwerke.
Die nächste richtige Großstadt war New Orleans, wohin die meisten Leute fuhren, wenn sie ihr Bedürfnis nach Kultur oder sündigen Vergnügungen stillen wollten. In Bienville gab es ein gutes und zwei schlechte Hotels, einen Stadtteil für Weiße und einen für Schwarze, der früher einmal – bis zur Erweiterung der Stadt nach Süden und Westen – ein »weißes« Viertel gewesen war. Ein paar Herrenhäuser aus der Zeit vor dem Bürgerkrieg konnten besichtigt werden: die »Töchter der Konföderation« – die sich freilich fast nur noch aus Enkeltöchtern rekrutierten – boten öffentliche Führungen an. Vorstädte entstanden erst ganz allmählich, und Einkaufszentren auf der grünen Wiese gab es noch gar nicht. Man kaufte in der Stadt ein.
Einer weit verbreiteten Ansicht zufolge machte die örtliche Zeitung im Verein mit der Handelskammer jede Hoffnung auf ein florierendes Wirtschaftsleben zunichte. Die Zeitung wurde von selbstzufriedenen Konservativen herausgegeben, und die Handelskammer wurde von den größten Unternehmern am Ort beherrscht, einem guten Dutzend Personen, die dafür sorgten, daß sich kein Betrieb in der Stadt ansiedelte, der in Konkurrenz zu ihnen stand oder ihnen aus anderen Gründen nicht ins Konzept paßte.
Ein großer Teil der Einwohner bestand aus Katholiken – eine Hinterlassenschaft der Spanier und Franzosen. Außerdem traf man auf Episkopale, Presbyterianer und auch auf Fundamentalisten, die aus entlegenen, ländlichen Gebieten zugezogen waren. Es gab eine Freimaurerloge, einen Country Club und eine Matrosenmission.
Der Franzose, der Bierwille gegründet hatte, hätte einen angenehmeren Ort für die neue Stadt wählen können. Zwar sorgte das tropische Klima für üppige Gärten, Rasenflächen von sattem Grün und prachtvolle Bäume, doch da die Stadt in der Nähe eines großen Sumpfes lag, gab es Fliegen und Stechmücken in Hülle und Fülle. Im Sommer wurde es zudem so heiß, daß alljährlich ein Fotograf der Zeitung eine Aufnahme von einem Jungen machen konnte, der auf dem Bordstein ein Spiegelei briet, worüber sich dann ältere Damen ganze Abende lang unterhalten konnten, wenn sie unter einem Deckenventilator auf der Veranda beim Eistee saßen und die Glühwürmchen und Sternschnuppen betrachteten. Die Winter waren angenehmer, doch wenn das Thermometer einmal unter zehn Grad Celsius fiel, beeilten sich dieselben älteren Damen, ihre Sträucher mit Sackleinen abzudecken, und klagten schrecklich über die bittere Kälte.
Das Herzstück der Wirtschaft Bienvilles war der Hafen. Die Schiffe löschten ihre Fracht aus Südamerika, Westafrika und der Karibik und wurden mit Gütern aus Louisiana beladen. In Bienville waren ein paar Leute reich, viele arm, und die Mehrzahl lag irgendwo dazwischen. Die Angehörigen der weißen Mittel- und Unterschicht identifizierten sich mit den Reichen. An sich war ihnen klar, daß sie kaum Aussichten hatten, selber reich zu werden, doch sie träumten den amerikanischen Traum: Wenn man hart arbeitete und ein bißchen Glück hatte, war alles möglich. Die Schwarzen identifizierten sich mit nichts und niemandem außer mit sich selber. Auch sie arbeiteten hart, konnten aber trotzdem – wenn überhaupt – nur den täglichen Grundbedarf decken, und die Hoffnung auf eine glückliche Wendung zum Guten hatte man ihnen schon vor sehr langer Zeit ausgetrieben. Reich waren in Bienville nur wenige alteingesessene Familien wie die Holts.
»Es geht um den Besitz in Creoletown«, sagte Brevard Holt, der in seiner Bibliothek neben dem offenen Kamin stand. Der große Spiegel, der hinter ihm an der Wand hing, reflektierte das spätherbstliche Sonnenlicht, das durch die französischen Fenster in den Raum flutete. Die einzigen Geräusche, die zu vernehmen waren, kamen vom Rasen vor dem Haus, wo der Nachwuchs der Holts mit Nachbarskindern ein Ballspiel begonnen hatte. »Ich wußte Bescheid, bevor die Zeitungen von der Sache Wind bekamen, weil mich Augustus Tompkins schon vor einer Woche angerufen hat. Inzwischen haben uns Ölgesellschaften für die Bohrrechte bereits 6000 Dollar pro Hektar und ein Achtel der Ausbeute geboten.«
Er machte eine Pause, um diese Zahlen wirken zu lassen, und blickte in die aufmerksamen und erwartungsvollen Gesichter seiner Geschwister. Johnathan III., Brevards älterer Bruder, fühlte sich sichtlich unbehaglich. Er saß auf einem Stuhl, der für seine imposante Gestalt viel zu klein war, und fingerte an einer Bierdose herum. Percy, zehn Jahre jünger, ein drahtiger Mann mit ernstem Gesicht, trommelte nervös mit den Fingern auf den Tisch. Marci hatte ein Bein über das andere geschlagen und rauchte eine Zigarette. Sie teilte die Couch mit Whitsey Loftin, die zu dem Familientreffen gebeten worden war, weil sie ein gutes Verhältnis zu ihrer Tante Hannah hatte. Das war insofern wichtig, als Hannah Holt Loftin im Testament von Johnathan Holt dem Älteren als Nachlaßverwalterin eingesetzt worden war: Sie konnte über den gesamten Landbesitz und nicht nur über ihren Anteil bestimmen.
»Ich brauche euch nicht zu sagen, daß es bei dieser Sache um viel Geld geht«, fuhr Brevard fort. »Wieviel es im Endeffekt sein wird, hängt von verschiedenen Faktoren ab, doch selbst im ungünstigsten Fall erhält jeder von uns eine kräftige Finanzspritze. Im günstigsten könnten wir vielfache Millionäre werden.«
»Warum um alles in der Welt sagst du uns das erst jetzt, wenn du es schon seit einer Woche weißt?« fragte Marci gereizt. »Meinst du nicht, wir haben ein Anrecht darauf, so etwas zu erfahren?« Percy hüstelte und biß auf seine bleistiftdünne Zigarre; Johnathan beugte sich noch weiter vor und schaute auf seine Schuhspitzen hinab. Für ein paar Sekunden hätte man meinen können, sie wären wie auf einem Schnappschuß erstarrt.
Brevard wog seine Worte sorgfältig ab. »Ich wollte unverzüglich Nachforschungen anstellen, bevor wir uns zusammensetzen, um eine Entscheidung zu fällen, und ich dachte, daß ich das allein am besten konnte. Laßt mich erklären, was für Schwierigkeiten aufgetaucht sind.«
Marci Holt schlug das andere Bein über, nahm einen Schluck aus ihrem Glas und drückte ihre Zigarette mit einer heftigen Bewegung aus.
»Wie ihr wißt, haben wir in Creoletown zwei Parzellen«, sagte Brevard. »Zum einen die 120 Hektar in der Nähe der asphaltierten Straße und zum anderen die 450 Hektar um Tante Hannahs Haus herum, die zur Hälfte uns gehören.«
Brevard richtete den Blick auf Whitsey. »Nun ist Tante Hannah eine sehr halsstarrige Frau. Wir haben sie schon vor Jahren gebeten, diese Parzelle aufzuteilen und uns die Verfügungsgewalt über unseren Anteil zu geben, aber sie wollte nichts davon wissen. Vor einer Woche wollte ich noch einmal mit ihr darüber reden, aber sie wußte nicht einmal, wer ich bin, oder hat zumindest so getan, als ob sie mich nicht kennen würde. Sie hat mich nicht einmal ins Haus gelassen.«
»Sie ist eben verrückt, das wissen wir doch«, sagte Marci kalt. Whitsey Loftin zuckte zusammen und setzte zu einer Erwiderung an, doch Brevard kam ihr zuvor.
»Wir wollen keinen Streit mit Tante Hannah. Ihre geistige Verfassung ist ... nicht sehr stabil, aber Whitsey kommt meistens mit ihr zurecht. Whitsey, wir müssen Tante Hannah davon überzeugen, daß sie die Bohrrechte verkauft oder wenigstens den Besitz aufteilt, damit wir unseren Anteil verkaufen können. Wenn du sie nicht umstimmen kannst, müssen wir wohl rechtliche Schritte einleiten, und das könnte ausgesprochen unangenehm werden.«
Whitsey beugte sich etwas vor und fuhr sich mit der Hand durch das volle blonde Haar. Noch vor zehn Jahren waren Marci und Whitsey manchmal miteinander verwechselt worden. Sie hatten die gleichen blauen Augen, die gleichen blonden Haare, und ihre Gesichter waren ähnlich geschnitten, doch bei Marci hatten die Zeit und der Alkohol die Züge und die Figur hart werden lassen, während Whitseys Gesicht im Laufe der Zeit sogar noch ein wenig weicher und die Figur sinnlicher geworden war.
»Ich werde es versuchen, Brev. Ich könnte diese Woche noch zu ihr hinauffahren.«
»Gut«, antwortete Brevard. »Ich bespreche vorher noch mit dir, worum es im einzelnen geht.«
»Warum besprichst du das nicht jetzt mit ihr?« ereiferte sich Marci. »Ist es nicht für unsere Ohren bestimmt?«
»Doch, natürlich«, seufzte Brevard. »Ich wollte nur schnell weiterkommen, damit ...«
»Wieso willst du eigentlich immer bei Sachen, die uns alle angehen, schnell weiterkommen?« sagte Marci schneidend. »Wie konntest du diese ganze Angelegenheit eine Woche lang für dich behalten?« Sie warf einen Blick in die Runde. »Du meinst wohl, du kannst die Angelegenheiten der Familie im Alleingang regeln.«
Brevard fuhr sich entnervt über die Stirn. »Es tut mir leid, wenn ich autoritär wirke, aber hier geht es um sehr viel Geld, und wir müssen weitreichende Entscheidungen treffen.«
»Du glaubst offenbar, daß du diese Entscheidungen für uns alle fällen kannst«, giftete Marci. »Das bringt mich zur Weißglut! Du tust gerade so, als ob Augustus Tompkins nur dein Anwalt wäre. Ich könnte wetten, du hast ihm gesagt, er soll uns nicht anrufen.«
»Ich habe nichts dergleichen veranlaßt«, log Brevard. »Ich brauchte einfach nur ein paar Tage für ...«
»Ach, hör doch auf!« rief Marci und sprang auf. »Ich hol’ mir noch einen Drink.«
Brevard schüttelte langsam den Kopf und sah ihr nach, während sie aus dem Zimmer ging. »Es gibt noch ein anderes Problem – die Frau, die auf der Parzelle bei der Asphaltstraße wohnt«, sagte er.
Ohne etwas von der Besprechung im Hause Holt zu ahnen, saß Willie schon seit einer Stunde auf einer Parkbank, betrachtete den Sonnenuntergang, rauchte Picayune-Zigaretten, nippte an seinem Bourbon und dachte nach.
Riesig und fast orangefarben war der Mond über der Bucht aufgegangen und hing nun über den Dächern und den großen knorrigen Eichen. An den Veranden der hochherrschaftlichen Häuser, die an den Park grenzten, waren Kästen mit Farnkräutern und tropischen Pflanzen angebracht worden, und aus den französischen Fenstern kam ein behaglicher Lichtschein. In den Gärten standen Fächer- und Dattelpalmen, Azaleen und Bananenbäume, und der Mond tauchte alles in ein ockerfarbenes Licht. Am frühen Morgen, gleich nach Sonnenaufgang, würde der Fahrer des Milchwagens frische Milch, Sahne und Hüttenkäse auf die Stufen hinter den Häusern legen, und später, noch bevor der glitzernde Tau vom Gras und von den Blumen verschwunden war, würde ein Schwarzer mit schlohweißem Bart in seinem Fuhrwerk vom Hafen heraufzuckeln und mit singender Stimme »Austern, Garnelen, Krabben, Gemüse!« rufen. Mütter und Köchinnen würden sich um den Wagen scharen und die Ware inspizieren, während ihre Kinder das Maultier mit den Scheuklappen bestaunten, das ein noch zottigeres Fell hatte als sein vor wenigen Wochen gestorbener Vorgänger. Später würden dann die Kesselflicker und Gärtner kommen, um Messer zu schleifen, zerbrochenes Porzellan zu kleben und den perfekten Zustand der Gärten und Rasenflächen zu erhalten.
Willie war nie in eines dieser Häuser eingeladen worden, doch wenn er an ihnen vorbeiging, versuchte er sich manchmal vorzustellen, wie es in den hohen, eleganten Speisezimmern und Salons aussah. Hier wohnten die alten Familien Bienvilles, deren Abstammungslinien bis zu den französischen und spanischen Siedlern zurückreichten. Sie gehörten exklusiven, geradezu mystischen Geheimgesellschaften an, waren Mitglieder im vornehmen Country Club und besaßen luxuriöse Ferienhäuser am Golf. Bedächtig und konservativ, wie sie waren, sahen sie keine Veranlassung, den Sohn eines Tankstellenbesitzers und einer Schönheitssaloninhaberin, der sich die Oberschule und das Jurastudium mit einem Wäscheabholdienst für Studenten finanziert hatte, zu sich nach Hause einzuladen.
Willie hatte von keinem seiner Nachbarn eine Einladung erhalten, seit er in dieser Gegend in eine kleine ehemalige Chauffeurs-Wohnung gezogen war. Im Gegensatz zu seinen Eltern war er nicht arm, doch darauf kam es im Grunde gar nicht an: Letztlich zählte nur der Name, und Leuten, die André, Wellington, Galtoire, Arneaux oder Holt hießen, sagte der Name Croft nichts.
Willie ging in die Mitte des Parks, wo der eiserne Hirsch stand. An seinem Geweih waren die Enden abgebrochen, und seinen Rücken hatten zahllose Kinder, die von ihren Müttern hinaufgesetzt worden waren, glattpoliert. Trauriger, alter Kerl, dachte er. Ganz schön ramponiert, was? Er ging um den eisernen Hirsch herum und gab ihm einen liebevollen Klaps auf den Hintern. Einen Augenblick lang verspürte er das Bedürfnis, sich auf seinen Rücken zu setzen. Statt dessen trank er den letzten Schluck aus dem mitgebrachten Glas. Nachdem der Bourbon wohltuend warm durch seine Kehle geronnen war, regten sich in Willie längst vergessene Hoffnungen und Jugendträume.
Eigentlich strebte er gar nicht mehr nach Liebe, Reichtum, Ruhm und was sich die meisten Menschen sonst noch so alles vom Leben erhofften. Um sich vor der Wut und dem Schmerz der Enttäuschung zu schützen, hatte er seine Wünsche weit zurückgenommen.
Mit 17 hatte er sich in ein Mädchen verliebt. Es war Karneval, und sie fuhr auf dem Festwagen der Königin an ihm vorbei. Ein hübsches blondes Mädchen, zwar nicht die Königin, aber eine ihrer Hofdamen. Er stand in der Zuschauermenge zwischen Seeleuten, grobknochigen Bauernburschen, die nach vorne drängten, und kreischenden Frauen, die ihre Kinder hochhielten, damit sie die Süßigkeiten auffangen konnten, die von den Wagen heruntergeworfen wurden. Auf einmal lächelte ihm die Hofdame zu und warf einen Candy Kiss in einem glitzernden Papier in seine Richtung. Er fing ihn auf, winkte zurück und sah ihr nach, bis sie in der Ferne verschwunden war, wo zweifellos tolle Partys und Bälle auf sie warteten.
Eine Zeitlang hatte er sich als Kriegsheld gesehen – als Hauptmann der Infanterie, Offizier auf dem Deck eines großen Schlachtschiffs oder Pilot eines Jagdflugzeugs. Doch in der Wirklichkeit wurde er Sergeant beim Nachschub der Dixie-Division und gab in Inchon, weit hinter der Front, Handtücher, Waschlappen und Seife an Schreibstubensoldaten aus.
Er hatte auch davon geträumt, als Star der Football-Mannschaft der Universität die Zuschauer durch eine perfekte Abwehr oder einen spielentscheidenden Angriff von den Sitzen zu reißen. Es reichte dann aber nur zum Reserve-Abwehrspieler der nicht sonderlich erfolgreichen Oberschulmannschaft – und zum abschließenden Kommentar des Trainers, Willie sei »zwar nicht sehr talentiert, aber einsatzfreudig«.
Außerdem hatte er von einem großen Fischerboot geträumt, in das er an warmen Sonntagnachmittagen eine Kühltasche mit Bier und Truthahnbroten packen wollte, um in die Bucht oder den Golf hinauszufahren und Schnappbarsche und Makrelen zu fangen. Er sah sich am Steuer stehen, eine Hand am Gashebel des PS-starken Boots, mit dem man Sturmböen davonfahren oder in Windeseile zu einer Stelle jagen konnte, über der Möwen kreisten. Am Ende begnügte er sich damit, hin und wieder einen ramponierten Fischerkahn zu mieten und vor der Küste im sumpfigen Wasser nach Regenbogenforellen oder Barschen zu angeln.
Er war auch kein neuer Sherlock Holmes geworden, sondern begnügte sich mit der Verteidigung von Kleinkriminellen, und die Vision von dem hübschen Mädchen auf dem Festwagen war einer gelegentlichen Wochenendaffäre mit einer Frau gewichen. Dennoch hatte er sich sein Leben recht behaglich eingerichtet: Wann immer er wollte, konnte er ausgehen, frische Austern und Garnelen essen und Bier trinken. Am Samstagnachmittag ging er oft auf eine Anhöhe in einem Taubenfeld und verfolgte die Football-Spiele an seinem tragbaren Radio. Gelegentlich fuhr er nach New Orleans und besuchte die Pferderennbahn. Willie hatte seine Nische gefunden und sogar Geld für das Alter zurückgelegt. Er war zufrieden, wenn auch nicht paradiesisch glücklich.
Nun stellte er sich direkt vor den Hirsch, dem die Metallaugen einen melancholischen Gesichtsausdruck verliehen. Vor ein paar Wochen hatte Willie in der Zeitung gelesen, daß die Stadt die Restaurierung der Plastik beschlossen hatte. Man wollte die Rostlöcher zuschweißen, das Geweih wiederherstellen, die obszönen Graffitis abschmirgeln und eine neue Lackschicht auftragen. Dem Zeitungsartikel hatte Willie entnommen, daß der eiserne Hirsch 42 Jahre zählte – also genauso alt war wie er. Was zeigt, dachte er selbstironisch, daß man auch einen ziemlich heruntergekommenen Kerl noch mal aufmöbeln kann.
Die alten Hoffnungen, die sich in ihm regten, ließ er gar nicht erst aufkommen. Wenn ein Anwalt wie er in einem Fall wie diesem den Sieg davontragen sollte, mußte er schon verdammtes Glück haben. Im übrigen wußte er ja noch gar nicht, ob es tatsächlich zu einem Verfahren kommen würde. Wenn die Holts behaupteten, daß das Land ihnen gehörte, konnten sie es vermutlich auch beweisen.
Andererseits glaubte er in der Mimik oder in der Stimme von Augustus Tompkins eine gewisse Nervosität und Unsicherheit registriert zu haben, wie er sie von Zeugen kannte, denen er auf den Zahn fühlte. In der Regel trog ihn sein Gefühl nicht, wenn er den Eindruck hatte, daß etwas verschwiegen wurde.
Allmählich spürte er die Kälte und machte sich auf den Heimweg, um sich zu Hause ein letztes Glas Bourbon einzuschenken und ein Feuer im Kamin zu machen, bevor er auf dem Herd Priscillas Schmorbraten aufwärmen würde.
»Was für ein Problem?« fragte Percy Holt.
»Vielleicht ein ziemlich großes«, sagte Brevard. »Erinnert ihr euch daran, daß uns Dad ein paar Monate vor seinem Tod eröffnet hat, daß diese Schwarzen das Land bei der Asphaltstraße bekommen würden? Möglicherweise hat er es ihnen tatsächlich gegeben.«
»Was?!« schrie Percy. »Dieser alte ...«
»Warte mal einen Moment«, unterbrach ihn Brevard. »Vielleicht ist alles nicht so schlimm, wie es auf den ersten Blick aussieht. Aber zunächst sollte ich euch mitteilen, was ich in Erfahrung gebracht habe. Vielleicht ist es ganz gut, daß Marci gerade nicht da ist. Was ich zu sagen habe, wird ihr überhaupt nicht gefallen.«
Percy, der eine Zigarre rauchte, blies eine kleine Rauchwolke in die Luft und lehnte sich zurück.
»Als ich von den Ölfunden gehört habe, bin ich noch am gleichen Abend Vaters Unterlagen durchgegangen. Im Creoletown-Ordner bin ich auf die folgende Notiz gestoßen: ›Die Parzelle Sawmill Creek habe ich Elvira Backus geschenkt‹. Die Notiz war nicht datiert, und eine Schenkungsurkunde war nirgends zu finden. Trotzdem hat mich die Sache beschäftigt, weil ich befürchtete, er könnte doch irgendwo eine Urkunde deponiert haben. Nach Rücksprache mit Augustus hielt ich es jedenfalls für das Beste, diese Leute möglichst schnell loszuwerden, und angesichts der immensen Geldsummen, die auf dem Spiel stehen, fand ich, eine finanzielle Abfindung wäre die beste Methode.«
Marci kam wieder herein und blieb bei der Tür stehen. Sie stützte eine Hand in die Hüfte und nippte an ihrem Whiskey.
»Ich bin also zur Bank gegangen und habe 25 000 Dollar von unserem Gemeinschaftskonto abgehoben, alles in Zwanzig- und Fünfzig-Dollar-Scheinen. Den gesamten Betrag habe ich in meine Aktentasche gesteckt, und nach meinem Besuch bei Tante Hannah bin ich bei dieser Schwarzen vorbeigefahren. Ich habe ihr gesagt, sie soll sich mit dem Geld anderswo ein Haus kaufen, weil wir das Land jetzt selber brauchen.«
»Was?« brüllte Percy. »25 000 Dollar von unserem Gemeinschaftskonto!«
»Hör zu, verdammt noch mal!« sagte Brevard schneidend. »Das Geld wäre gut angelegt gewesen, wenn sie auf das Geschält eingegangen wäre. Aber sie wollte nicht. Sie hat mir eine Schenkungsurkunde gezeigt – mit Dads Unterschrift und allem Drum und Dran.«
»Das ist doch scheißegal«, zischte Percy. »Dad hätte sich auch nicht um so einen Wisch gekümmert. Soll ich dir sagen; was er getan hätte? Mit einem Tritt hätte er das schwarze Gesindel aus dem Haus befördert! Mag ja sein, daß er ihnen ein Fleckchen Erde schenken wollte, aber wenn er gewußt hätte, daß es dort oben Öl gibt, hätte er nicht im Traum daran gedacht. Herrgott, das sind doch nur Nigger!«
Damals stand noch auf jeder öffentlichen Toilette und jedem Trinkbrunnen entweder »weiß« oder »farbig«; in den Bussen hieß es »Farbige sitzen hinten«, und an Restauranttüren verkündeten Schilder »Nur für Weiße«. Percy Holts Haltung gegenüber seinen schwarzen Mitbürgern wurde indes nicht von allen Weißen in Bienville gebilligt. Es gab zwar noch keine Bürgerrechtsbewegung, doch die meisten Gebildeten und Aufgeklärten lehnten die Bezeichnung »Nigger« als beleidigend ab. Wenn sie sich ansonsten überhaupt Gedanken über die Schwarzen machten, dominierte die Harmonie: Man dachte an lächelnde Kinder, die sich an Wassermelonen gütlich taten oder auf alten Gummireifen saßen, welche als Schaukeln an Ästen hingen; man dachte an Frauen, die vergnügt Radio hörten und Hemden bügelten, den Rasen mähten, Böden schrubbten, den Müll wegbrachten, Betten machten, Speisen und Getränke servierten, die Tür öffneten oder Fische ausnahmen – von Herzen dankbar für die ehrliche Arbeit, die man sie verrichten ließ.
Es war eine Zeit, in der in jeder Stadt die »Töchter der Konföderation« mit großer Sorgfalt Negerfamilien auswählten, die zum Thanksgiving- oder Weihnachtsfest einen Geschenckorb verdient hatten, den man mit Truthahnfleisch, Brot, Mandarinen, Äpfeln, Preiselbeersauce, Kandiszucker und Lebensmitteldosen, aber auch mit Artikeln des täglichen Bedarfs wie Klopapier, Gesichtstücher, Damenbinden, Seife, Deodorants und Zahnpasta füllte. Großzügige, wohlmeinende Damen klopften an einer ärmlichen Hütte und überreichten den Korb einer dankbaren Negermami, während im Hintergrund ein Dutzend Sprößlinge plärrte. Dann verabschiedeten sie sich in dem Bewußtsein, der Pflicht gegenüber den Bedürftigen genügt zu haben – nicht ohne auf dem Heimweg bei einer der allgegenwärtigen Statuen des konföderierten Soldaten anzuhalten, eine Träne zu vergießen und letztlich doch in tiefster Seele die Schwarzen für die Misere verantwortlich zu machen, gegen die Väter und Großväter auf dem Feld der Ehre vergebens gekämpft hatten.
Diese aufgeklärten Menschen unterschieden sich natürlich grundlegend von Leuten wie Percy Holt, deren tiefer Haß auf die Schwarzen sich aus der Angst und dem Mißtrauen von 300 Jahren speiste. Percy war felsenfest davon überzeugt, daß er von seinen Hausangestellten fortwährend bestohlen wurde, was in Wirklichkeit erst einmal vorgekommen war, als die einzige Weiße, die je in seinen Diensten gestanden hatte, den Schrank mit dem Tafelsilber um ein Dutzend silberne Untersätze erleichtert hatte. Seine Hilfskräfte hielt er für so faul und ungeschickt, daß man sie andauernd zur Arbeit antreiben mußte. Daß sein 15jähriger Sohn neulich beim Zusammenrechen von Herbstblättern derart getrödelt hatte, daß Percy schließlich selber den Rechen in die Hand nehmen mußte, war natürlich etwas völlig anderes.
Die Schwarzen, die den Haß der Weißen genauso über sich ergehen ließen wie ihre Geschenckörbe, wohnten entweder in kleinen Vierteln, welche von weißen Wohnvierteln umschlossen waren, oder in dem großen quirligen Schwarzenviertel bei den Werften, das eine breite Straße vom Rest der Stadt abgrenzte. Diese Straße trennte Welten.
Percy wandte sich an Marci, die sich auf die Couch gesetzt und eine neue Zigarette angezündet hatte.
»Weißt du, wie es jetzt aussieht, Marci? Die Nigger dort oben behaupten, das Land gehört ihnen. Und Brev sagt, wir müssen ihnen eine Abfindung zahlen.« Angewidert verzog Marci das Gesicht.
Brevard machte einen frustrierten Eindruck. »Ich möchte einfach nur Scherereien vermeiden«, verteidigte er sich. »Herrgott, die haben eine Schenkungsurkunde, und es geht schließlich um Millionen! Außerdem wohnen diese Leute schon so lange dort oben, daß sie sich womöglich Rechte ersessen haben. Ich weiß von Augustus, daß diese Frau irgend so einen Winkeladvokaten engagiert hat. Ich hätte die Sache gern ohne viel Brimborium bereinigt.«
»Am besten fahren wir zu diesen Leuten rauf und werfen sie raus«, sagte Percy. »Dann gibt es überhaupt kein Brimborium.«