Читать книгу Die letzten Tage des Sommers - Winston Groom - Страница 8
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ОглавлениеWie an jedem Montag hatte P. Willis Croft am Tag nach dem Thanksgiving-Wochenende viel zu tun. Nachdem er im Swampman Charlie’s Diner zum Frühstück angebratene Wurstscheiben mit Bratkartoffeln gegessen und zwei Tassen Kaffee getrunken hatte, fuhr er wie üblich direkt zum Gericht. Über das Wochenende landete stets eine größere Zahl seiner Mandanten wegen diverser Gesetzesverstöße im Gefängnistrakt des einstmals vornehmen klassizistischen Gerichtsgebäudes. Auch ohne die Anrufe von besorgten Ehefrauen, Müttern und Freunden oder gelegentlich vom Delinquenten selbst hätte Willie an diesem Montag mit einer überdurchschnittlich hohen Zahl von Inhaftierten gerechnet, da der Feiertag für ein verlängertes Wochenende gesorgt hatte.
In den 17 Jahren seiner Anwaltstätigkeit hatte Willie Croft gelernt, diese Wochenendanrufe schnell und effizient abzuwickeln. Sobald klar war, um welche Art von Anruf es sich handelte, unterbrach er die atemlose Stimme am anderen Ende der Leitung und fragte erstens nach Name, Anschrift und Beruf des Inhaftierten, zweitens nach dem Delikt, das ihm (oder ihr) zur Last gelegt wurde und drittens nach Name, Anschrift und Telefonnummer des Anrufers. Er notierte sich diese Angaben in einem Heft, das griffbereit neben dem Telefon lag, und sagte dann jedesmal:
»Hören Sie bitte genau zu. Am Wochenende gibt es keine Möglichkeit, ihn aus dem Gefängnis zu holen, weil das Gericht geschlossen ist. Seien Sie bitte am Montag morgen um 9 Uhr im County Court. Die Vernehmungen zur Anklage finden im Erdgeschoß statt. Seien Sie pünktlich. Bringen Sie soviel Bargeld wie möglich, sämtliche Ausweispapiere und einen Blanko-Scheck mit. Der Richter wird im Laufe des Vormittags eine Kaution festsetzen, die Sie nach der Verhandlung bezahlen müssen. Wenn Sie nicht genug Geld haben, müssen wir vorher über die Straße zum Kautionskreditgeber gehen.«
An diesem Montag war Willie mit seinen Gedanken noch bei einer anderen Angelegenheit gewesen, als er in Charleys Diner an seinem Kaffee genippt und auf sein Essen gewartet haue. Seine Putzfrau war an diesem Morgen eine Stunde eher gekommen, weil sie mit ihm reden wollte. Priscilla war eine korpulente, hellhäutige Schwarze, die seit fünf Jahren zwei Tage in der Woche bei ihm arbeitete. Er hatte sie allerdings mindestens seit einem halben Jahr nicht mehr zu Gesicht bekommen, da sie sonst immer morgens um 9 Uhr kam und mit dem Bus um 15 Uhr wieder nach Hause fuhr; den Lohn (fünf Dollar plus Fahrtkosten) und einen Zettel mit speziellen Wünschen legte er auf den Küchentisch. Oft ließ er sie ein Essen auf . Vorrat kochen, zu dem er die Zutaten eingekauft hatte, und dann ernährte er sich eben ein paar Tage lang von Schmorbraten oder Schinken mit Kohl, bis Priscilla wieder kam. Das Kochen war eine Kunst, die er auch im Alter von 42 Jahren noch nicht beherrschte.
Doch an diesem Novembermorgen hatte Priscilla schon an die Hintertür geklopft, als die Küchenfenster noch vom Dampf des Kaffeewassers beschlagen waren und Willie noch im Bademantel am Küchentisch saß und die Frühnachrichten im Fernsehen anschaute. Sie war früher gekommen, weil sie ihn um juristischen Rat bitten wollte. Willie bot ihr einen Platz am Küchentisch an, und bei einer Tasse Kaffee erzählte sie ihm eine merkwürdige Geschichte:
Am Tag nach Thanksgiving, also vorgestern, stand auf einmal ein gewisser Brevard Holt vor der Tür ihrer Mutter in Creoletown und bot 25 000 Dollar bar auf die Hand, wenn die Familie Haus und Grundbesitz verlassen würde. Mr. Holt trug das Geld in seiner Aktentasche bei sich und bat ihre Mutter, eine Urkunde zu unterschreiben, die besagte, daß Mrs. Elvira Backus keinerlei Ansprüche auf das Anwesen erhebe. Man habe, so der ungebetene Besucher, der Familie Backus das Land zwar über mehrere Generationen hinweg zur Nutzung überlassen, doch nun wolle man es selber bewirtschaften. Die großzügige Abfindung, die man ihr gewähre, reiche nicht nur zum Kauf eines modernen Hauses, sondern auch noch für andere Anschaffungen.
Priscillas 78jährige Mutter war nach Mr. Holts Besuch völlig verstört. Schließlich ging es um das Haus, in dem sie geboren war, in dem sie ihr Leben lang gewohnt hatte und in dem sie hoffentlich friedlich entschlummern würde – was in der Hand Gottes lag und wofür sie keine 25 000 Dollar brauchte.
Willie schenkte Kaffee nach. Wie jeder Einwohner Bienvilles wußte er, wer die Holts waren, wenn er sie auch nicht persönlich kannte. Nicht umsonst gab es die Holt-Bank, das Holt-Stadion und den Holt-Boulevard, eine breite, von Eichen gesäumte Straße in einem der älteren Stadtteile. Außerdem holte Willie von Zeit zu Zeit ein paar Schauerleute von Holt Schiffsbeladungen aus dem Knast, wenn es am Samstag abend in der Hafengegend zu Schlägereien gekommen war.
Priscillas Mutter teilte Mr. Holt höflich, aber bestimmt mit, sie werde ihr Haus behalten. Es sei aber durchaus möglich, daß nach ihrem Tod ihr Sohn und ihre Tochter verkaufen würden, da sie ohnehin nicht mehr hier wohnten. Mr. Holt habe geantwortet, die Familie Holt werde die Räumung nötigenfalls vor Gericht durchsetzen und Mrs. Backus mit Sack und Pack auf die Straße setzen – dann allerdings ohne Abfindung. Mrs. Backus wäre daher gut beraten, das Geld anzunehmen und die Urkunde zu unterschreiben, so lange man ihr noch die Gelegenheit dazu gebe.
Daraufhin zeigte ihm Priscillas Mutter eine Schenkungsurkunde, die ihr Johnathan Holt kurz vor seinem Tod gegeben hatte. Nach einem flüchtigen Blick auf das Schriftstück erklärte Brevard Holt die Urkunde seines Vaters für ungültig. Er und seine Geschwister seien im Besitz einer notariellen Eigentumsurkunde für den Gesamtbesitz, was vor Gericht zweifellos mehr Gewicht habe als ein 20 Jahre alter Fetzen Papier, den sein Vater wenige Monate vor seinem Tod geschrieben hatte. Er werde in ein paar Tagen noch einmal vorbeikommen, um ihre Entscheidung zu hören, sie solle es sich gut überlegen.
Willie verschwand im Bad, nachdem er zu Priscilla gesagt hatte, er wolle sich schnell rasieren, duschen und anziehen, bevor sie ihre Unterhaltung fortsetzen würden. Priscilla machte sich inzwischen an den Abwasch des Geschirrs vom Vorabend.
Im Bad zog Willie seinen Bademantel aus und hängte ihn an den Haken. Er betrachtete sich im Spiegel, fuhr sich übers Gesicht und zog mit den Fingern die Krähenfüße glatt. Dann öffnete er den Mund und inspizierte seine Zähne. Gott sei Dank ist mein Gebiß gut, dachte er. Weiße, gerade Zähne, kaum Löcher. Er drehte sich vor dem langen Spiegel, der an der Tür befestigt war, und betrachtete über die Schulter seine nackte Rückseite. Auch nicht übel, fand er. Seit seiner Studienzeit hatte er kaum zugenommen – und er war ein schlanker Student gewesen. Als er sich mit den Fingern durch die aschblonden Haare fuhr, fiel ihm wieder ein, daß er eigentlich zum Friseur gehen wollte. Er drehte den Kopf nach rechts und nach links, um sich im Profil zu betrachten. Manchmal wünschte er sich, er wäre als richtig schöner Mann zur Welt gekommen, doch dem war nun einmal nicht so. Wenigstens war er nicht häßlich, und dafür war er dankbar.
Während das heiße Wasser kribbelnd über seine Kopfhaut lief, dachte Willie über Priscillas Geschichte nach. Dem ersten Anschein nach handelte es sich um ein sattsam bekanntes Manöver, bei dem eine Schwarze mit einem Fußtritt vor die Tür gesetzt werden sollte.
Erst vor einer Woche hatte er sich Teile des Prozesses gegen einen mehr oder weniger respektablen Mitbürger angehört, der des Betrugs angeklagt war, weil er auf einen Schlag mehrere hundert Hütten im tristen Schwarzenviertel der Stadt aufgekauft und zu astronomischen Preisen einzeln an die Mieter weiterverkauft hatte, wobei er selber als Kreditgeber aufgetreten war, da die Käufer bei den Banken nicht als kreditwürdig galten. Sobald auch nur eine Rate überfällig gewesen war, hatte er die Zwangsvollstreckung eingeleitet. Wie zu erwarten war, wurde er freigesprochen, obwohl er manche dieser Immobilien in einem einzigen Jahr drei- bis viermal verkauft hatte. Die Geschworenen hatten in Bienville nun einmal nichts für Leute übrig, die ihre Kreditraten nicht bezahlten – schon gar nicht, wenn der Schuldner ein Schwarzer und der Kreditgeber ein Weißer war.
Doch Priscillas Geschichte klang untypisch.
Willie konnte sich nicht vorstellen, daß sich die Familie Holt mit derart windigen Geschäften abgab. Was er hörte, als er wieder am Küchentisch saß, bestätigte seine Vermutung.
Am Tag nach Brevard Holts Besuch, so berichtete Priscilla, hatten bei ihrer Mutter zwei Angestellte der Union Oil Corporation vorgesprochen, um sich zu erkundigen, ob der Grund ihr Eigentum sei. Als Mrs. Backus die Frage bejahte, teilten ihr die Ölleute mit, daß ihr Unternehmen am Kauf der Bohrrechte interessiert sei. Mrs. Backus lehnte alle Angebote ab, da die Begegnung mit Brevard sie mißtrauisch gemacht hatte. Als sich die Ölleute höflich verabschiedet hatten und davongefahren waren, telefonierte sie mit ihrem Sohn Daniel, der an einer High-School unterrichtete. Daniel wiederum rief Priscilla an, um ihr zu berichten, was sich ereignet hatte, und Priscilla war früher zur Arbeit gekommen, um Willies juristischen Rat einzuholen.
In diesem Moment wurde Swampman Charleys Frühstück serviert, und Willie versuchte sich während des Essens über die Angelegenheit Klarheit zu verschaffen.
Es gab also Öl dort oben. Seit seinen Studententagen, als er manchmal am Sonntag nachmittag durch die desolaten Straßen Creoletowns gefahren war, weil er so am schnellsten zur Universität gekommen war, war er nie mehr in diesem Teil der Countys gewesen. Ölfunde würden dort oben vieles verändern. Er wußte zwar nicht, um wieviel Öl es ging, aber es mußte wohl eine große Sache sein, wenn sich eine Familie wie die Holts so exponierte.
Ein einziger Fall dieses Kalibers konnte einem Anwalt eine florierende Kanzlei bescheren. Besitz- oder Pachtrecht hatte mit seinem bisherigen Betätigungsfeld allerdings wenig zu tun, und seinen einzigen großen Fall, bei dem es um Sozialleistungen für Polizisten und Feuerwehrleute gegangen war, hatte Willie 1950 gehabt. Nachdem er in erster Instanz drei Millionen Dollar erstritten hatte und das Urteil in zweiter Instanz bestätigt worden war, ging der Fall an das oberste Gericht. Es sah ganz so aus, als könnte Willie im Alter von 33 Jahren ein Anwaltshonorar in Höhe von 300 000 Dollar kassieren ... Doch wenn in Willies Leben ein großes Ereignis bevorstand, kam ihm mit Sicherheit im entscheidenden Moment irgend etwas in die Quere – in diesem Fall der Koreakrieg, der aus dem Anwalt Croft den Sergeant Croft von der Dixie-Division machte. Willie mußte sein Mandat einem Kollegen übertragen, das Urteil wurde in letzter Instanz kassiert, und mit den drei Millionen Dollar Sozialleistungen für Polizisten und Feuerwehrleute löste sich auch sein 300 000-Dollar-Honorar in Luft auf.
Nach seiner Rückkehr aus Korea ließ er sich in einem kleinen heruntergekommenen Bürogebäude in der Nähe des Gerichts als Anwalt nieder und übernahm für den Anfang kleine Strafsachen, mit denen sich keiner der anderen Anwälte herumschlagen wollte. Nach und nach scharten sich immer mehr solcher Mandate um ihn, und so blieb es dabei – nur kam das Gebäude, in dem er sein Büro hatte, in den folgenden neun Jahren noch weiter herunter.
Wie jeden Montag morgen erhob sich ein leises Gemurmel, als Willie vom Parkplatz auf das Gericht zuging.
Die Fenster der Zellen fingen die ersten Strahlen der Sonne ein, die gerade über der Bucht aufging. Hinter den Gittern tauchten erwartungsvolle Gesichter auf, und Willie wurde von einem leisen Summen begrüßt, das zu einem Sprechchor anschwoll, als er die Straße überquerte. Willie vermutete, daß sie ihn an seinem hellbraunen Popelinemantel schon von weitem erkannten.
Heute kamen ihm die Stimmen lauter vor als sonst:
»Hol uns raus! Hol uns raus!«
Der Sprechchor verschaffte ihm eine zweifelhafte Befriedigung.
In der Halle kam er am Gerichtsdiener Burt vorbei, der wie üblich im Halbschlaf an einer großen korinthischen Säule lehnte.
Willie beugte sich vor, bis sein Mund Butts Ohr beinahe berührte.
»Hallo, Burt!« brüllte er.
Der Gerichtsdiener fuhr hoch und versuchte sich von seinem Schreck zu erholen. Seine Mütze saß schief auf dem Kopf.
»Morgen, Mr. Croft«, sagte er. Willie war längst weitergegangen und erwiderte den Gruß mit einem kurzen Winken.
»Heute sind ziemlich viele da oben« rief ihm Burt nach.
Willie nickte diesem und jenem bekannten Gesicht zu, während er durch die Halle ging.
Er betrat den Saal, in dem die Vernehmungen zur Anklage stattfanden, nicht durch den breiten Eingang, sondern durch die schmale Tür, die eigentlich dem Richter vorbehalten war und zuerst in einen kleinen Vorraum führte. Dort blieb er vor dem Spiegel stehen, rückte seine Krawatte zurecht und setzte eine hochoffizielle Miene auf.
Genau fünf Minuten vor neun trat er von diesem Vorraum in den Gerichtssaal, und sogleich richteten sich zwei Dutzend Augenpaare auf ihn. Unterhalb des Richtertischs blieb er abrupt stehen.
»Erheben Sie sich«, befahl er.
Langsam, aber ohne Ausnahme, standen alle Anwesenden auf.
»Wir singen jetzt gemeinsam ›America, the Beautiful‹«, verkündete Willie feierlich und stimmte sogleich mit getragener Stimme die erste Strophe an. Die meisten fielen nach den ersten paar Versen ein, und auch die wenigen, die nicht mitsangen, blieben stehen.
Als das Lied verklungen war, wurde es ganz still im Saal.
»Setzen Sie sich«, sagte Willie hoheitsvoll.
Alle kamen der Anordnung schweigend nach.
»Wer mit Rechtsanwalt Willie Croft sprechen möchte, wird gebeten, in die Halle zu gehen. Der Anwalt wird sich gleich um Sie kümmern.«
Ungefähr ein Dutzend Personen erhoben sich, und Willie sah zu, wie sie hinausgingen. Dann verließ er den Saal durch dieselbe Tür, durch die er ihn betreten hatte, nahm im Vorraum seinen Regenmantel und seine Aktentasche an sich und ging in die Halle, um sich an die Arbeit zu machen.
In den nächsten Stunden vertrat er einen Autodieb, zwei Männer, die ihre Frauen geschlagen hatten, einen Würfelspieler, der sich nicht schnell genug davongemacht hatte, einen vermeintlichen Vergewaltiger und einen Mann, der mit einem Rasiermesser auf einen früheren Freund losgegangen war. Abgesehen von dem Würfelspieler, der nicht zum erstenmal mit dem Gesetz in Konflikt geraten war, wurden alle gegen Kaution auf freien Fuß gesetzt. Die Honorare, die Willie bei den Verwandten und Freunden der Delinquenten einsammelte, beliefen sich auf 225 Dollar Bargeld, einen 50-Dollar-Scheck und diverse Versprechen, die sich auf 275 Dollar addierten – zahlbar vor Prozeßbeginn.
Kurz vor Mittag war Willie in seinem Büro. Er hörte den Anrufbeantworter ab, der. mehrere Nachrichten aufgezeichnet hatte, und las die Post, bevor er über den »Promenadeplatz« ging, um in Traylors Austernbar sein Mittagessen einzunehmen.
Es war ein wunderschöner Herbsttag. Durch das Laub der Eichen, die den Grasplatz beschatteten, drangen einzelne Sonnenstrahlen. Sie fielen auf Penner, die auf den Bänken lagen, und auf die gebeugten Rücken von Leuten, die Eichhörnchen und Tauben mit Erdnüssen fütterten. Als Willie durch die St. Raymond’s Street ging, wollte es der Zufall, daß ihm auf der anderen Straßenseite in einem dunklen dreiteiligen Anzug und mit einer Zeitung unter dem Arm die große, steife Gestalt des Anwalts der Familie Holt, Augustus X. Tompkins, entgegenkam.
Am besten rede ich jetzt gleich mit ihm, sagte sich Willie. Es war nämlich nicht leicht, Augustus Tompkins auf neutralem Terrain anzutreffen, da er nur selten persönlich im Gericht erschien. Zu einem Besuch in Willies kleinem Büro hätte er sich schon gar nicht bewegen lassen. Es war ein Glücksfall, daß er ihm einfach so auf der Straße begegnete.
Doch genau in dem Moment, als Willie einen Schritt auf die Fahrbahn machte, um auf ihn zuzugehen, blieb Tompkins stehen, sah sich verstohlen um und verschwand blitzschnell im einzigen unanständigen Kino der Stadt. Verdutzt blieb Willie stehen. »Schulmädchenspiele« lautete der Titel der Vorstellung, und das Filmplakat deutete an, was man sich darunter vorzustellen hatte.
Willie eilte über die Straße, bezahlte die zwei Dollar Eintritt und folgte Tompkins in den dunklen Saal. Ungefähr ein Dutzend Männer waren in die sexuellen Aktivitäten auf der Leinwand vertieft, die nicht nur unmoralisch, sondern schlichtweg illegal waren. Willie setzte sich auf einen hinteren Platz, von dem aus er den Kopf und die Schultern von Augustus Tompkins im Blick hatte. Auf der Leinwand sah man, wie sich ein flotter Dreier stöhnend auf dem Bett herumwälzte. Willie wartete, bis die Szene ihren Kulminationspunkt erreicht hatte, und rief dann mit verstellter, möglichst respektheischender Stimme:
»Mr. Augustus Tompkins wird verlangt!«
Mehrere Männer blickten nervös über die Schulter, doch Augustus Tompkins blieb wie erstarrt sitzen. Als eine Szene, die im Dämmerlicht spielte, den Zuschauerraum dunkler werden ließ, rief Willie seinen Anwaltskollegen noch einmal aus. Diesmal drehten sich mehrere Männer wütend um, während Tompkins zunächst wieder keine Reaktion zeigte, dann aber aufsprang, das Kinn auf die Brust preßte und durch den Gang zum Ausgang hastete.
Willie holte ihn vor dem Kino auf der Straße ein.
»Herrgott, Croft! Waren Sie das?« polterte Tompkins, ohne stehenzubleiben.
»Ich muß unbedingt mit Ihnen reden«, sagte Willie mit Unschuldsmiene.
»Mein Gott!« rief Tompkins. »Ist Ihnen klar, was passiert, wenn das bekannt wird? Wenn jemand da drin war, der mich kennt, könnte das ...« Er beendete den Satz nicht, sondern sagte statt dessen: »Das ist überhaupt nicht komisch.«
»Ich muß mit Ihnen reden«, wiederholte Willie.
»Worüber?« fragte Tompkins im Gehen. Er war sichtlich bemüht, aus der näheren Umgebung des Kinos wegzukommen.
»Über die Holts und das Öl in Creoletown.«
Tompkins blieb abrupt stehen und sah Willie mißtrauisch an.
»Wie bitte? Die Holts und das Öl?« fragte er und schob die Lippen vor.
»Über den Versuch der Holts, einer alten Frau für 25 000 Dollar ihren Besitz abzuhandeln, weil die Ölgesellschaften Interesse daran zeigen«, erläuterte Willie.
Augustus Tompkins schüttelte langsam den Kopf. »Davon ist mir nichts bekannt«, sagte er.
»Nun kommen Sie schon, Augustus«, sagte Willie kühl. »Einer ihrer Klienten verlegt sich auf das Geschäft mit Bohrrechten, und Sie wissen nichts davon? Sie belieben zu scherzen.«
»Daß man da oben Öl vermutet, ist ja nicht neu. Es werden schließlich schon seit Jahren Probebohrungen niedergebracht«, sagte Tompkins. Allmählich fing er sich wieder. »Im übrigen frage ich mich, welches Interesse Sie an der Sache haben. Entfernen Sie sich damit nicht allzuweit vom Tätigkeitsbereich Ihrer Kanzlei, Willie?«
»Mein ...« Willie wollte das Wort »Mandant« vermeiden. Er wußte ja noch gar nicht, ob er überhaupt ein Mandat hatte, und wenn ja, wen er vertrat – Priscilla? Ihre Mutter? Ihren Bruder? Außerdem war er sich noch gar nicht sicher, ob er wirklich Leute, die nur ein Erfolgshonorar bieten konnten, ausgerechnet gegen die Holts vertreten wollte, also gegen einen Prozeßgegner, der ihn mit Anträgen auf Vorladungen, Vertagungen und Einstellungen des Verfahrens endlos hinhalten und zur Vorlage von Hunderten von Dokumenten zwingen könnten. »Mein Interesse rührt daher, daß ich von einem Mitglied der betroffenen Familie gebeten wurde, mir die Sache etwas genauer anzusehen.«
Tompkins schüttelte erneut den Kopf. »Aus reiner Herzensgüte haben die Holts diese Familie da oben wohnen lassen. Diese Leute haben keinen Rechtstitel, folglich haben sie auch keinen Anspruch. So einfach ist das.«
»Das stimmt wohl nicht ganz«, sagte Willie. »Der Vater der Holts hat offenbar Mrs. Backus und ihren Kindern über hundert Hektar Land geschenkt, und es gibt eine Schenkungsurkunde, die seine Unterschrift trägt.«
Augustus Tompkins ließ seine stahlblauen Augen auf Willie ruhen, ohne zu antworten. Offenbar hoffte er, so herauszufinden, wieviel Willie wußte, ohne selber etwas preisgeben zu müssen. Willie parierte dieses Manöver, indem er sich informierter gab, als er tatsächlich war.
»Meinen Informationen zufolge geht es bei der Ölsache in Creoletown um sehr viel Geld. Es wird Ihnen also nicht gelingen, Mrs. Backus mit lumpigen 25 000 Dollar abzuspeisen. Soweit ich es im Moment überblicke, würde ich sagen, daß sie einen ziemlich gesicherten Rechtsanspruch auf das Land hat – nicht nur aufgrund der Schenkungsurkunde, sondern allein schon deshalb, weil sie seit langer Zeit dort lebt. Folglich werden Mrs. Backus und ihre Kinder nicht so schnell auf das Land verzichten wollen. Aber vielleicht könnte man doch zu einer Einigung gelangen.« Willie wußte sehr wohl, daß er im Nebel herumstocherte.
Mit einem tiefen Seufzer schüttelte Tompkins nun schon zum dritten Mal den Kopf.
»Niemand versucht die Frau billig abzuspeisen, Willie. Soweit ich weiß, hat Brevard Holt ihr im Auftrag der ganzen Familie einen Betrag angeboten, mit dem sie sich irgendwo anders ein schönes Haus kaufen kann. Diese Ölgeschichte ist doch reine Spekulation. Wie gesagt, die bohren dort oben schon seit Jahren.«
Die beiden Männer fixierten einander: hier der aristokratisch auftretende Seniorpartner der größten Anwaltskanzlei der Stadt und dort der Verteidiger von Kleinkriminellen in seinem schmuddligen hellbraunen Regenmantel.
Dann sagte Tompkins mit einem freundlichen Lächeln: »Ich muß in die Kanzlei – Termine mit Klienten«, und nickte Willie auf väterliche Weise zu. »Ich würde mich an Ihrer Stelle nicht in diese Niggergeschichte verwickeln lassen. Kein Gericht würde die rechtsgültige Eigentumsurkunde der Holts beiseiteschieben. Das Land ist seit über 250 Jahren im Besitz der Familie. Wenn Sie das nicht akzeptieren, bringen Sie die Frau nur um ihre 25 000 Dollar.«
Willie Croft schaute zum Promenadeplatz hinüber. Die Penner lagen inzwischen auf den Bänken in der Nordwestecke, um in den Genuß der Nachmittagssonne zu kommen. Über ein paar Straßenzüge hinweg hörte man das Signalhorn eines Frachtschiffs im Hafen.
»Kann schon sein, Augustus«, sagte Willie. »Wir werden ja sehen.«
Sie gingen schweigend nebeneinander her, bis sie die Straße erreichten, in der Tompkins Büro lag.
»Diese Sache vorhin im Kino – so etwas kann man doch nicht machen«, sagte Tompkins gekränkt.
»Finde ich auch«, erwiderte Willie.
Ohne Händedruck gingen die beiden Männer auseinander.
Als Willie am Abend nach Hause kam, roch es in der Wohnung intensiv nach Schmorbraten. Er legte seinen Regenmantel über einen Küchenstuhl, ging zum Herd und hob den Deckel der großen Kasserolle. Außer dem Fleisch hatte er nur Kartoffeln und Zwiebeln eingekauft, doch Priscilla war offensichtlich in den Laden gegangen und hatte auch noch Karotten, Sellerie und eine Rübe besorgt, um dem Braten mehr Geschmack zu verleihen. Außerdem stand ein frisch gebackener Apfelkuchen zum Abkühlen auf dem Küchentisch. Willie ging ins Wohnzimmer, zog das Jackett aus, lockerte die Krawatte und nahm sich die Abendzeitung vor, von der ihn eine riesige Schlagzeile förmlich ansprang. Die Union Oil Corporation hatte bekanntgegeben, daß sie in der Gegend von Creoletown auf ein bedeutendes Ölvorkommen, vielleicht sogar auf eines der größten amerikanischen Ölfelder überhaupt gestoßen sei. Der Ölfund sei zweifellos für die Wirtschaft Bienvilles und des Countys, ja für ganz Louisiana von größter Bedeutung, hieß es in dem Artikel. Eine Stunde später hatte Willie zwei Gläser Early Times Bourbon weggeputzt. Seine Gedanken überschlugen sich, und er brauchte unbedingt frische Luft. Er ließ die Zeitung auf dem Boden liegen, schenkte sich noch ein Glas ein und nahm es mit in den frischen Herbstabend hinaus. Dann überquerte er die Straße und ging in den kleinen Park, der ringsum von eleganten alten Häusern gesäumt war.