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La Grande Nation und das Küssen
ОглавлениеNein, nein, damit ist nicht das lustvolle Küssen von Schmollmündern einer Brigitte Bardot oder einer Catherine Deneuve gemeint, auch nicht das pflichtgemäße Abknutschen sozialistischer Brüder.
Küssen ist in Frankreich eine Art Volkssport geworden: Jeder küsst jeden, jede jede, sobald man sich mehr als einmal gesehen hat. Hände schütteln ist hier eine veraltete Form der Begrüßung, die höchstens noch mit Ausländern oder unliebsamen Mitmenschen praktiziert wird.
Geküsst wird von morgens bis abends ohne Rücksicht aufs Geschlecht, quer durch alle sozialen Schichten. Wie gesagt, es ist das Begrüßungsküssen, ziemlich genau das Gegenteil des intimen Kusses zwischen Liebenden. Beobachtet man die aktiven Begrüßungsküssenden genau, so scheinen sie dabei zu leiden. Man geht aufeinander zu, bringt durch Bücken oder Strecken die beiden Köpfe auf das gleiche Niveau und es ist verblüffend, wie schon dieser vorbereitende Vorgang von der gesamten Bevölkerung automatisch und ohne mentale Vorarbeit beherrscht wird. Man wartet den Bruchteil einer Sekunde ab, für welche Gesichtshälfte sich das Gegenüber entscheidet, – wobei einzig in dieser Phase der sozial höher Gestellte das größere Entscheidungsrecht hat, – schließt die Augen, presst die Lippen zusammen und schmatzt ähnlich eines nach Luft schnappenden Fisches am Ohr des zu Küssenden vorbei, während man gleichzeitig die Wangen aneinander reibt. Dieser Vorgang wiederholt sich mindestens einmal bei flüchtigen Bekannten, drei Küsse dieser Art werden es bei Freunden und vier bei Familienmitgliedern.
Es ist ein soziales Begrüßungszeremoniell, das länger als das Beschnuppern bei Hunden dauert und weltweit nur durch das Aneinanderschlagen der Köpfe bei Eskimos überboten wird.
Im Tagesverlauf eines durchschnittlich küssenden Franzosen kommt eine volkswirtschaftlich kaum vertretbare Zeit zusammen, denn begrüßt und geküsst wird dauernd und überall:
Die Mutter all ihre Kinder, immer viermal, am Morgen, vor der Schule, nach der Schule, vor dem Spielengehen, nach dem Spielengehen, am Abend; der Vater seine Kinder; die Eltern, die Verwandten, die Bekannten, die Kollegen, die guten und die schlechten Freunde, den Chef eher seltener, die Bedienung in der Bar, und als wäre noch nicht genug geschmatzt: ältere Damen haben mit dem Küssen ihrer Hunde und Katzen angefangen und der Trend scheint auf die jüngere Generation überzugreifen.
Als Ausländer ist man lange vom Zwang des Küssens befreit, doch irgendwann hat ein Einheimischer das Gefühl, man wäre schon lange genug dabei und bedient den bisher Fremden in schematischer Ausübung des Begrüßungskussaktes mit seinen ersten beiden Küssen. Dieser Partner wird einem peinlichst genau in Erinnerung bleiben, denn ähnlich wie bei einer Entjungferung: das erste Mal wird ein ganzes Leben lang verbinden. Spätestens jetzt wird man den tiefen Sozialfaktor verstehen, denn beim aktiven Erleben des Vorganges erkennt man, dass viel, viel mehr geschieht als scheinbar sinnloses In-die-Luft-Küssen:
Die Hände müssen einen Weg zum Gegenüber finden; ein sicheres Zeichen friedlicher Absichten.
Die Wangen berühren sich und übertragen männliches Rasierwasser und französisches Parfum; bei ungeschickten, ruckartigen Bewegungen, was bei Anfängern häufiger vorkommt, ein ungewolltes Übertragen von Make-up, was bei Damen zum Nachschminken aufs nächste WC führt, bei Herren zum selben Ziel, allerdings zum sich Säubern. In jedem Fall führt der Austausch von Gerüchen und auch Farben wiederum zu mehr Gemeinsamkeit und damit zu mehr Frieden in der Gesellschaft. Spätestens jetzt kann man erklären, warum sich zum Beispiel Politiker und Streikführer nie küssen, sondern sich ohne irgendwelche Kontakte zu Verhandlungen hinsetzen. Die Resultate sind hinlänglich bekannt.
Da diese Kuss-Sitte natürlich auch für Männer gilt, wird auf einfache und friedliche Weise die Hackordnung untereinander bestimmt. Beim Berühren der Wangen berühren sich auch die Bärte: Wer da mehr kratzt, muss wohl der männlichere Typ sein.
Schlussendlich bietet der Zwang zum Kuss kontaktarmen Menschen eine problemlose Integration in die Gesellschaft, denn ob man verkrampft oder locker in diese Angelegenheit hineingeht, spielt keine Rolle.