Читать книгу Nur ein letzter Schuss noch… Berlin 1968 Kriminalroman Band 42 - Wolf G. Rahn - Страница 7
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Karsten Friedemann schwitzte. Vom Rudern war ihm warm geworden. Die Sonne meinte es ziemlich gut. Es war wohl einer der heißesten Tage dieses Sommers.
Und einer der unerfreulichsten. Das Gespräch mit der Frau, die ihm gegenübersaß, war mit ziemlicher Lautstärke geführt worden. Nur gut, dass sie draußen auf dem Wasser keiner hatte hören können. Es war keine schlechte Idee gewesen, mit dem Boot hinauszufahren.
Aber er hätte ein Motorboot nehmen sollen. Das hätte ihn weniger angestrengt.
Nun ja, jetzt hatte er es ja hinter sich. Das Gespräch und die Schufterei. Zum Glück. Unangenehmen Dingen ging Karsten Friedemann gern aus dem Weg.
Während der letzten Minuten hatte keiner von ihnen mehr geredet. Alles war gesagt.
Er trieb das Boot mit wuchtigen Stößen ans Ufer. Allerdings hatte er den Eindruck, dass er die Stelle verfehlt hatte, von der aus sie losgefahren waren. Vom Wasser aus sah alles so ähnlich aus. Die kleine Bucht und das Schilf.
Die Strömung hatte sie vermutlich etwas abgetrieben. Aber er dachte nicht daran, gegen sie anzukämpfen. Lieber ließ er das Boot liegen und ging den Rest zu Fuß zurück. Weiter als ein paar hundert Meter würde es hoffentlich nicht sein.
Die Frau sah aus, als lachte sie. In Wirklichkeit verzog sie aber nur das Gesicht, weil sie in die tiefstehende Sonne sehen musste. Ihr war auch keineswegs zum Lachen zumute.
Sie war nicht glücklich über das Resultat der Aussprache. Sie hatte sich mehr davon versprochen.
Aber eigentlich hätte sie damit rechnen müssen. Karsten war kein Mann, den man umstimmen konnte, wenn er einmal einen Entschluss gefasst hatte. Das war ein typischer Eisenkerl.
Sie beobachtete, wie der Mann ins Wasser watete, nachdem das Boot auf Grund gelaufen war. Er half ihr zwar heraus, doch sein Gesicht war dabei abweisend.
„Meine Tasche!“, rief sie erschrocken und wandte sich um. Um ein Haar hätte sie ihre Handtasche liegenlassen. Sie bückte sich und presste den ledernen Beutel so fest an ihre Brust, als enthielte er eine Kostbarkeit.
Der Mann achtete nicht darauf. Nachdem er das Boot vollends an Land gezogen hatte, stapfte er davon. In südwestlicher Richtung. Dort vermutete er die Bucht, in deren Nähe er den Wagen geparkt hatte.
Karsten Friedemann trug einen leichten Sommeranzug. Die Hosenbeine waren nass geworden. Er hastete vorwärts. Das angestrengte Keuchen der Frau hinter ihm, die Mühe hatte, ihm zu folgen, war ihm egal.
Auf dem Wasser tummelten sich nur wenige Wasserfahrzeuge. Auf der Spree musste man schließlich aufpassen, nicht auf DDR-Seite zu geraten. Die Markierungen und Bojen waren keineswegs überall erkennbar, und die zahlreichen Grenzzwischenfälle bewiesen, dass die VoPos geradezu auf der Lauer lagen, um einen West-Berliner zu erwischen.
Doch Karsten Friedemann hatte keinen Blick für seine Umgebung. Mit seinen Gedanken war er längst wieder unterwegs. Er hastete am Ufer entlang und teilte von Zeit zu Zeit das Schilf, wenn es ihm den Weg versperrte.
Manchmal knackte es neben ihm. Er hörte gar nicht hin. Am Wasser gab es ständig irgendwelche Geräusche. Vielleicht lag auch ein Liebespaar im Schilf. Warum nicht? Ein durchaus erwägenswerter Gedanke, den er sich merken wollte.
Die Frau hinter ihm holte auf. Sie schimpfte leise vor sich hin. Oh, wie gemein er war!
Sie fiel in Laufschritt und war nun dicht hinter ihm. Auch sie schwitzte längst. Das fehlte noch, dass er ohne sie zurückfuhr und sie hier sitzenließ. Zuzutrauen war es ihm.
Sie öffnete während des Laufes ihre Handtasche und griff hinein.
Die Tasche entglitt ihr. Hastig bückte sie sich danach.
Karsten Friedemann zuckte zusammen. Etwas warnte ihn. Er konnte es nicht deuten.
Bevor er sich darüber den Kopf zerbrechen konnte, krachte ein Schuss.
Der Mann lief noch ein paar Schritte weiter, bevor er plötzlich stehenblieb, als wäre er gegen eine gläserne Wand gerannt.
Er presste beide Hände gegen die Brust und drehte sich halb um.
Die Frau lag auf dem Boden. Sie starrte ihn mit großen Augen an. In der Linken hielt sie die Tasche umkrampft. In ihrer Rechten blitzte etwas Metallenes.
„Du – du bist wahnsinnig“, würgte Karsten Friedemann hervor. „War es das wert?“
Er taumelte und suchte nach einem Halt.
Außer ein paar Schilfrohren befand sich nichts in der Nähe. Er riss sie mit sich zu Boden.
Dumpf prallte sein Körper auf. Seine Finger krallten sich in die feuchte Erde am Uferrand.
Er versuchte, in die Höhe zu kommen, fiel aber wieder zurück.
Seine Finger streckten sich. Auf dem Rückenteil seines Sakkos bildete sich ein hässlicher, roter Fleck.
Die Frau starrte fassungslos auf das Glitzerding in ihrer Hand. Aufschreiend warf sie es weg, als hätte sie sich daran verbrannt.
Karsten Friedemann rührte sich nicht mehr. Er gab auch keinen Laut von sich. Nicht einmal ein Stöhnen.
Er war tot. Darüber gab es keinen Zweifel.
Aber sie hatte ihn nicht getötet. Sie nicht.
Doch wer sonst?
Karsten war erschossen worden. Sie hatte den Knall in ihrer nächsten Nähe gehört.
O Gott! Der Mörder musste sich noch in unmittelbarer Nähe befinden. In seiner Waffe steckte bestimmt nicht nur diese eine Kugel. Auch für sie war noch genügend Munition im Magazin.
Musste der schreckliche Kerl nicht auch sie töten? War sie nicht eine gefährliche Zeugin?
Er konnte ja nicht wissen, dass sie ihn überhaupt nicht gesehen hatte.
Die Frau begann zu zittern. Das Bewusstsein, dass ihr Leben an einem seidenen Faden hing, brachte sie fast um, ohne dass auf sie geschossen wurde.
Sie raffte die Handtasche an sich und stürzte davon.
An dem Toten vorbei, der ihr Furcht und Entsetzen einjagte. Nur fort von hier!
Im Schilf bewegte sich etwas. Es kam hinter ihr her. Es lief in die gleiche Richtung wie sie.
‚Er holt dich ein‘, dachte sie angstvoll. ‚Er ist bestimmt schneller als du. Und er hat die Waffe, mit der er treffsicher umgehen kann‘.
Sie drehte sich um und sah, wie sich das Schilf bewegte. Mehr konnte sie nicht erkennen.
Sie sank mit ihren Schuhen im Matsch ein. Daraufhin schleuderte sie die Pumps von den Füßen, bereute es aber gleich wieder.
Sie war eine Närrin. Ohne Schuhe würde sie schon bald auffallen. Aber gerade das musste sie vermeiden. Es brauchte niemand zu wissen, dass sie als letzte mit Karsten zusammen gewesen war. Bei der Suche nach seinem Mörder würde die Polizei ihr sonst eine Reihe unangenehmer Fragen stellen, deren Beantwortung nicht den hässlichen Verdacht von ihr nehmen konnte.
Sie rannte, so schnell sie nur konnte.
Und der Tod folgte ihr.
Der unsichtbare Tod, den sie zwar fühlte und hörte, der sich ihr aber nicht zeigte.
‚Warum?‘, fragte sie sich. ‚Warum musste Karsten sterben? Und warum gerade an dieser Stelle? Wer hatte wissen können, dass er sich hier aufhielt?
Sollte der Verdacht absichtlich auf sie gelenkt werden? Das war verrückt‘.
Darin sah sie keinen Sinn.
Die Gegend kam ihr immer unbekannter vor. Lief sie in die verkehrte Richtung? Stand der Wagen gar nicht dort?
Erst jetzt fiel ihr ein, dass sie keinen Schlüssel für das Fahrzeug bei sich trug. Der steckte in Karstens Jackentasche. Es war also völlig gleich, wohin sie lief. Hauptsache, sie entkam dem Mörder.
Das Herz schlug ihr bis zum Hals. Das Blut rauschte in ihren Ohren. Ihr war schwindlig. Lange hielt sie diese wilde Jagd nicht mehr aus.
Das Schilf wurde lichter. Die ersten Spaziergänger kamen in Sicht. Der eine oder andere gaffte sie verwundert an. Die Leute konnten sich nicht erklären, warum sie bei dieser Hitze so rannte. Noch dazu in voller Bekleidung.
Die Frau verlangsamte ihr Tempo. Sie sagte sich, dass der Mörder es nicht mehr wagen würde, sie jetzt noch abzuknallen. Er hatte den richtigen Augenblick verpasst.
Aber wahrscheinlich war er ihr gar nicht gefolgt. Zweifellos hatte er abgewartet, bis sie davongelaufen war, um sich danach ungestört Karstens Taschen zu widmen.
Dieser Schuft!
Sie wurde nur äußerlich etwas ruhiger.
Sie hatte das Gefühl, jeder müsste ihr das Schreckliche ansehen. Unwillkürlich betrachtete sie ihre Hände. Aber sie konnte kein Blut daran entdecken. Natürlich nicht! Sie hatte ihn ja gar nicht berührt.
Jetzt durfte sie nur die Nerven nicht verlieren. Was geschehen war, konnte sie nicht mehr rückgängig machen. Sie musste nur sehen, wie sie ungeschoren aus der Sache herauskam. Sie durfte keinen Fehler begehen.
Am ersten Kiosk kaufte sie ein paar einfache Badeschuhe. Die passten zwar nicht zu ihrem Kleid, aber nun war sie wenigstens nicht mehr barfuß.
Sie ging noch ein Stück weiter und ruhte sich auf einer niedrigen Steinmauer aus.
Um sie her war ein Lachen und Schreien. Ein paar Kinder spielten mit einem Ball. Eine riesige Dogge wollte mitspielen und kam bedrohlich in ihre Nähe. Ein Bengel lachte, weil sie erschrocken aufsprang.
Eilig ging sie weiter und entfernte sich vom Flussufer.
In der Nähe eines Parkplatzes nahm sie ein Taxi und ließ sich in die Stadt bringen.
Irgendwo unterwegs entdeckte sie ein Schuhgeschäft, ließ den Fahrer halten und kaufte ein paar leichte Slipper.
Mit einem anderen Taxi setzte sie ihren Weg fort, stieg noch zweimal um, einmal davon in einen Bus, und hatte sich einigermaßen gefangen, als sie zu Hause ankam.
Sie fürchtete sich vor den nächsten Stunden. Sie würden ihr weiteres Schicksal bestimmen.