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Ein Geräusch. Gustav Bülow erwacht. Er weiß nicht, wie lange er geschlafen hat. Das Gefühl für Zeit ist ihm längst abhanden gekommen. Wer wie er in der Epoche der Fantasie aufgewachsen ist, kümmert sich irgendwann nicht mehr um das mechanische Ticken der Uhr. Schlaf ist ohnehin nur eine Ausrede für Versager. Gustav schläft nicht.

Wenn die anderen die Augen schließen, um sich von der Wirklichkeit auszuruhen, schickt er sich erst an, sein wahres Leben zu genießen. Das ist keine Flucht. Er wechselt nur die Ebene, als würde er ein anderes Zimmer betreten. Wie und warum ihm dieser chronologische Zustandswechsel gelingt und anderen nicht, kann er sich nicht erklären, aber – offen gestanden – es hat ihn auch nie interessiert. Er macht es einfach.

Schon sein Vater und seine Lehrer hatten ihn mit ihrer lächerlichen Vorstellung von der Unumkehrbarkeit der Zeit genervt. Zeit ist Geld, nutze den Tag, was du heute kannst besorgen … Alles Unsinn. Jedem steht ein Reich offen, in das er entfliehen kann. Man muss nur die Tür kennen und rechtzeitig nach der Klinke greifen. Doch sein Vater und seine Lehrer, all das ist lange her.

War der Vater ein alter oder junger Mann? Gustav weiß nicht, wie er sich erinnern soll. Gleich wird er wieder die Augen schließen, womöglich wird er ihn dann treffen. Gar nicht mehr lange, dann wird auch sein eigenes Leben Vergangenheit sein. Als würde das etwas ausmachen, denn mit dem Leben verhält es sich ja wie mit dem Wachsein. Alles eine Frage der Luken, durch die man schlüpfen kann.

Aber da war ja noch dieses Geräusch. Gustav liegt in seinem Bett, von dem seine Frau behauptet, es wäre sein Krankenbett. Gustav weiß es besser. Zugegeben, manchmal überkommt ihn diese Müdigkeit, diese unerträgliche Schwere, dann will er sich gar nicht rühren. Und sich erinnern schon gar nicht. Dabei hat er auch immer wieder Momente, in denen er ganz der Alte ist. »Ihr werdet euch noch alle wundern.«

Unterhalb der Zimmerdecke umschwirrt ein Geschwader Fliegen die liebevoll mit Fragmenten von Hirschgeweihen verzierte Lampe, als wäre es eine Raumstation. Gustav versucht sie zu zählen. Es gelingt ihm nicht, es ist ihm noch nie gelungen. Wenn die Viecher doch nicht ständig von ihren Flugbahnen abweichen würden. Für einen Augenblick stellt er sich vor, die schwirrenden Punkte wären Geier und die Enden der Geweihe ferne Andengipfel. Wie imponierend ein Schwarm Fliegen doch aussehen kann, wenn man ihn von der Zimmerdecke in Vorpommern über ein Gebirge am anderen Ende der Welt versetzt. Für das Große im Kleinen hat er schon immer ein Auge gehabt.

Neben seinem schneeweiß bezogenen Bett wartet auf einem dreibeinigen Hocker ein kleiner Teller mit einem halben Wurstbrot und ein paar einsamen Weintrauben darauf, in die Küche zurückgetragen zu werden. Hin und wieder unterbricht eine der Deckenfliegen ihre Lampenumrundung für einen kurzen Besuch auf der Wurstscheibe, um sogleich wieder ans Firmament des Zimmers zurückzuschwirren. Gustav ist für diese Stippvisiten seiner klitzekleinen Mitbewohner dankbar, als würden sie nicht der Wurst, sondern ihm gelten.

Eine winzige Ecke der Brotscheibe fehlt, wahrscheinlich hat er vorhin einmal abgebissen. Er kann sich nicht erinnern. Wozu auch? Früher hat er gern gegessen. Vor allem viel, ein Mann wie er braucht schließlich Kraft. Aber jetzt interessiert ihn Essen nicht mehr.

Eine Zigarette, das wär’s jetzt. Seine Frau – wie hieß sie noch gleich? – erlaubt ihm das Rauchen jedoch nicht, wenn er allein im Bett liegt. Ihr schönes Haus könnte ja abfackeln. Die dumme Kuh. Hat sowieso nie Zeit für ihn. Ständig hört er sie im Untergeschoss mit dem penetranten Pack von Nachbarn quasseln. Sie wartet nur darauf, dass er abkratzt. Gustav muss bei diesem Gedanken lachen.

Das Geräusch kommt von der Tür seines kleinen Zimmers unter dem Dach. Durch das große Fenster dringt die Sonne ein und tastet die Tapeten ab. Die breite Wand gegenüber dem Bett hängt voller Bilder – er und seine Hunde. Ja, das waren die Einzigen, die ihn wirklich verstanden haben. Hunde lügen nicht, sind niemals illoyal, missbrauchen unter keinen Umständen das Vertrauen, das man ihnen entgegenbringt. Die Liebe eines Hundes ist bedingungslos und aufrichtig, sein Gebell niemals geschwätzig. Seine Anhänglichkeit ist ohne jeden Hintergedanken. Mit Hunden kann man das Lager teilen. Sie sind da, wenn man sie braucht.

Vier Hunde hat er gehabt. Sie alle sind längst fort und warten auf der anderen Seite auf ihn. Das wird ein Fest. Auf einer länglichen Holzkommode gegenüber dem Fußende liegen ein paar besonders dekorative Stücke seiner einst ansehnlichen Sammlung von Fossilien und anderen Eigentümlichkeiten der Natur. Bei einigen hat er ein wenig nachgeholfen, um ihnen ihr heutiges Aussehen zu verpassen. Er kann ja nichts dafür, dass selbst die Natur zuweilen ihre Unzulänglichkeiten hat.

Aber wen interessiert das schon, nur der Eindruck zählt. Ein wenig Lack hier, ein paar Pinselstriche dort, auch Leim hat noch nie geschadet, schon wird aus ein paar Scheren und Schalenteilen, die er einzeln am Strand aufgelesen hat, ein kompletter Hummer. Neben der Tür türmen sich die Trinknäpfe seiner Hunde, die er über all die Jahre wie Heiligtümer aufbewahrt hat, zu einem Altar seiner Lebensgeschichte.

Ach ja, die Tür. Da war doch was. Im Moment kann Gustav sich nicht so einfach bewegen wie sonst. Er muss seinem Nacken bewusst den Befehl geben, den Kopf zur Seite zu drehen, selbst dann fällt es ihm noch schwer. Wo er einst Muskeln gewohnt war, reiben jetzt schmerzhaft die Knochen aufeinander. Soll er oder soll er nicht? Dann ein Räuspern von der Tür her. Offensichtlich steht da jemand. Elke – stimmt, das war ihr Name – ist es nicht. Die würde sich nicht diskret räuspern, sondern ihn ohne zu fragen mit ihren dummen Alltäglichkeiten vollquatschen, ihn mit irgendwelchen Pillen oder Tropfen martern, die sie sonst niemandem in ihrer Apotheke aufschwatzen kann, oder stolz reinplatzen und ihn mit den Worten »Weißt du, wer heute zu dir kommt« aus seinen intimen Vorbereitungen reißen. Als ob er hier noch jemanden sehen will. Nein, Elke ist es nicht.

Nun macht er sich doch die Mühe, den Kopf zu wenden. Langsam, ganz langsam. Um keine Energie zu verschwenden, schließt er dabei die Augen. Der Schlaf will schon wieder nach ihm greifen.

Im Türrahmen steht eine Gestalt, offenbar ein Mann. Anfangs nimmt er nur die Umrisse wahr, aber da ist etwas, das ihn zwingt, den Besucher etwas genauer unter die Lupe zu nehmen. Gustav hat ihn noch nie gesehen, und doch wirkt der andere in seiner Durchschnittlichkeit so vertraut, als wäre er ihm schon tausendmal begegnet, ja als hätte er ihn wie sein Alter Ego ein Leben lang begleitet. Mittelgroß, mittelblond, mittleren Alters, der Zweiteiler mittelgrau. In seinem Revers steckt ein winziges goldenes Abzeichen, doch Gustav kann nicht erkennen, was es darstellt. Wo hat die Kuh denn schon wieder seine Brille hingelegt? Dann muss er eben versuchen, seinen unangemeldeten Gast auch ohne Sehhilfe etwas eingehender in Augenschein zu nehmen. Auf seine Sinne konnte er sich ja bis zuletzt ganz gut verlassen.

Unter den immer noch buschigen Brauen kneift er die müden Augen zusammen. Nein, dieses Gesicht sagt ihm wirklich gar nichts. Sowas von unauffällig, absolut nichts Charakteristisches, das er irgendwo in seiner Erinnerung verorten könnte. Nur die Haltungsschwäche sticht ins Auge, der schmächtige Oberkörper leicht nach vorn gebeugt, der Hals vom Kopf in den Rumpf gedrückt, die Knie unentschlossen angewinkelt. Irgendwie weibisch. Unter dem Arm trägt er eine speckige Kunstledermappe. Ein Beamter, der irgendeine Unterschrift von ihm will?

Gustav hat schon lange nichts mehr unterschrieben. Das erledigt jetzt die Frau für ihn. Seine Elke. Wie gut, dass er sie hat. Morgen früh muss er ihr Blumen kaufen. Rosen, einen Riesenstrauß. Hinter den schmalen Schultern des Eindringlings macht er weitere Gestalten aus, doch mit denen wird er sich später beschäftigen.

Gustav nimmt alle Kraft zusammen, um mit seiner Stimme diesen Eindruck von früher hervorzurufen, als er von der Bühne herab mit einem einzigen Wort Hunderte in Erstarrung versetzen oder zu Tränen rühren konnte. Die Bühne und das Leben. Und jetzt?

Er muss Haltung bewahren. In entscheidenden Momenten hat er schließlich immer auf Höflichkeit geachtet. »Guten Tag?« Es ist mehr Frage als Begrüßung.

Eine Pause entsteht. Der Fremde lächelt und schweigt. Gustav weiß nicht, was er davon halten soll. Er beginnt, Vertrauen zu fassen, aber gerade das macht ihn zugleich misstrauisch. Will ihn da jemand mit geheuchelter Nähe einwickeln? Abstand zwischen sich und anderen war ihm stets wichtig. Nur nicht zu schnell die Karten auf den Tisch legen. Nein, das Bild gefällt ihm nicht. Also bloß nicht das ganze Pulver auf einmal verschießen, das trifft es schon eher. Das Kartenspiel war nie seine Sache, die Freuden des Waidmanns hingegen haben seit den Kindheitstagen seine Sehnsucht beflügelt. Im Wald und auf der Heide, wie von selbst spitzen sich seine Lippen, als wollten sie die geliebte Weise pfeifen, wie einst, als er mit den Hunden unterwegs war, als er noch Laub unter den Füßen und Moos unter den Fingernägeln spürte. Ja, ein Mann muss schießen können. Schießen! Damals, als er …

Er will gerade die Augen schließen, um den Schauplatz zu wechseln, da hört er, wie der andere tief durchatmet. Gustav kennt dieses rhetorische Schniefen. Da will sich einer Gehör verschaffen, um etwas Gewichtiges loszuwerden. Na gut, soll er. Die Stimme ist genauso mittelmäßig wie alles andere an dieser armseligen Figur. »Gustav, willst du nicht mitkommen?«

Wieder eine Pause. Wie kommt diese Nervensäge dazu, ihn einfach zu duzen? Woher kennt der eigentlich seinen Namen? Und wohin mitkommen? »Wer sind Sie überhaupt?«, entfährt es ihm missmutig und wesentlich weniger auf Form bedacht als eine halbe Minute zuvor.

»Ich bin der Tod.«

Gerade weil es so sanft ausgesprochen wird, trifft es Gustav wie ein Meteorit. Der Tod? Jetzt? Plötzlich ist er hellwach. Der Unauffällige lächelt und blickt ihn fest an. Seine Haltung wirkt gar nicht mehr so schlaff wie noch vor wenigen Augenblicken. Gustav verspürt das Bedürfnis, die Schuhe des immer noch in der Tür Stehenden zu sehen. Mit Mühe hebt er seinen Kopf über die Bettkante. Gleichzeitig achtet er darauf, dass seine nackten Füße unter der Bettdecke nicht in Richtung Tür zeigen. Unter dem leichten Schlag der grauen Hosenbeine erkennt er schwarze, abgerundete Schuhspitzen, vorn leicht abgestoßen, oben voller Staub und getrockneter Schlammspritzer. Gustav vermutet, dass die Hacken der billigen Gummisohlen schiefgetreten sind. Das soll der Tod sein? Wie banal! Bestimmt nur wieder so ein geschmackloser Scherz seiner dämlichen Nachbarn, die ihn auf diese Weise vorzeitig ins Jenseits befördern wollen.

In einem Volksstück hat er mal selbst den Tod gespielt. Nicht nur das Publikum, auch seine Kollegen erschauerten angesichts seiner Verkörperung des Bösen. Geradezu lachhaft, wie dieser Todesschnösel da auftritt. In dieses angenehme Gefühl der Überlegenheit drängt sich wie ein schneidender Luftzug durch die Hintertür seiner Gedanken die Formulierung »der Tod kommt auf leisen Sohlen«. Gustav wird nachdenklich: »Haben Sie vielleicht eine Zigarette?«

»Tut mir leid, ich rauche nicht.«

Von wegen. Gustav weiß sich zu helfen. Lange und genießerisch stößt er Luft zwischen den Lippen hervor und folgt mit den Blicken vergnügt den tanzenden Schimären des erdachten Tabakrauchs. »Wieso der Tod?« Jetzt ist er es, der eine rhetorische Pause einlegt. Und nach einer kleinen Ewigkeit und weiteren Zügen aus der unsichtbaren Zigarette: »Der Tod ist doch nicht so freundlich wie Sie. Er ist grausam und unbarmherzig. Er bittet nicht, sondern fordert. Meist nicht einmal das, er klopft kurz an die Tür und holt ohne Worte, wen er will. Ich weiß, wovon ich rede.« Gustav spürt, wie seine Stimme an Schärfe verliert. Hoffentlich hat er es diesem sichtlich um Harmlosigkeit bemühten Wichtigtuer jetzt gegeben. Der Fremde aber tut, was er die ganze Zeit schon getan hat. Er lächelt.

Was soll das? Wo bleibt der Respekt? Es reicht. Gustav hat von diesem Gespräch genug. Der Schlaf wartet, er schließt die Augen und will seinem Körper das Kommando geben, sich zur anderen Seite zu drehen. Doch wieder vernimmt er dieses Räuspern. Offenbar lässt der penetrante Eindringling nicht so leicht locker. Gustav kann sich nicht dagegen wehren.

»Es gibt viele Tode«, hört er den anderen sagen.

Im Zimmer ist es totenstill. Gustav lauscht. Der Unscheinbare redet mit ihm wie mit einem Kind, langsam, nachsichtig und mit vielen Pausen, fast als würde er singen. »Es gibt den grausamen Tod, den heimtückischen Tod, den plötzlichen Tod, den Tod durch Fremdverschulden, den Freitod, den langwierigen Tod, den lauernden Tod, den lächerlichen Tod, den plötzlichen Kindstod, nicht zu vergessen das Massensterben – und ich bin eben der freundliche Tod. Ich weiß, ich werde immer mit schwarzem Umhang und Sense dargestellt, aber das ist ja nur ein billiges Klischee. Wer unter den Lebenden hätte mich schon jemals so zu Gesicht bekommen, dass er von mir hätte erzählen können? Der eine oder andere ist mir vielleicht im letzten Augenblick von der Schippe gesprungen. Auch das ist wieder nur so eine Redensart, aber bitte, niemand soll mir Kleinlichkeit nachsagen. Die Erinnerung dieser Deserteure habe ich sowieso stets sofort gelöscht. Im schlimmsten Fall haben sie von Nahtod-Erfahrung erzählt. Reine Einbildung, ein Nahtod ist mir wirklich noch nicht begegnet. In Wirklichkeit ist alles ganz anders, als die Normalsterblichen es glauben. Aber wer sollte das besser wissen als du, Gustav? Ich meine, das mit der Wirklichkeit. Kommst du jetzt mit oder nicht?«

Gustav ist wieder hellwach. Das Wort Deserteur hat ihn an etwas erinnert. Nichts Angenehmes. Aber darüber kann er jetzt nicht nachdenken. Langsam beginnt ihm zu dämmern, dass dies hier kein Scherz seiner Nachbarn ist. Verdammt, wo ist nur diese Scheißbrille? Sein Blick richtet sich mit der ganzen Restschärfe auf das kleine goldene Abzeichen. Kaum zu erkennen, aber es handelt sich tatsächlich um eine Sense.

In der Gefolgschaft der grauen Erscheinung beginnt es unruhig zu werden. Zum ersten Mal unterzieht Gustav die Menschentraube einer genaueren Prüfung. Sie hat sich im Rücken ihres merkwürdigen Anführers devot gruppiert wie ein Rudel christlicher Märtyrer hinter einer mittelalterlichen Darstellung des Heilands. Das sind doch Hartmut, Fritz und Günter, die nicht aus dem Krieg zurückgekommen sind. Und sein langjähriger Freund, der Schauspieler Paul Borchert, mit dem er früher regelmäßig auf Sauftour war. Seitdem der Arsch als Fernsehkommissar dauerbesetzt war, hatte er den Kontakt abgebrochen. Pauls Erfolg war für Gustav wie ein Verrat an der gemeinsamen Freundschaft. Was hätte er selbst für einen Kommissar abgegeben! Als der Kumpan von früher vor ein paar Jahren nicht mehr aus dem Koma erwachte, weinte er ihm keine Träne nach. Das hatte er nun davon, der alte Suffkopp. Und – sein Herz schlägt fast bis zum Kieferknochen – da ist sein Vater.

Er selbst ist jetzt zwei Jahre älter als sein alter Herr damals war, als ihn völlig unerwartet der Schlag hinstreckte. Kaum zu glauben. Doch hier steht der Vater als junger Mann. So, wie Gustav als Junge von unten zu ihm aufgesehen hat, stark war er, entschlossen, streng, unnachgiebig und doch in geheimen Momenten, die nur ihnen beiden gehört hatten, liebevoll und gütig. Auch in anderen Silhouetten glaubt er ehemalige Wegbegleiter zu erkennen, die der Tod bereits mit sich gerissen hat.

Die Sonne hat sich aus dem Zimmer zurückgezogen. Die Hundebilder an der Wand sind nur noch neutrale Vierecke in Grau. Keine geliebte Schnauze mehr, die ihm ihre rosafarbene Zunge schlabbernd entgegenstrecken würde. Ist es Abend oder sind einfach nur Wolken aufgezogen? Vielleicht weigert sich das ewige Symbol des Lebens auch nur, Zeuge dieser düsteren Szene zu sein. Gustav versucht noch einmal, das Gesicht des unheimlichen Besuchers abzutasten, doch das liegt jetzt im Halbschatten, als hätte er klammheimlich doch noch eine Kapuze über seine grausige, hier auf Unschuld getrimmte Visage gezogen. Kein Zweifel, das ist der Tod, wenn auch der freundliche.

»Elke!« Er ruft, so laut er kann, doch sie hört ihn nicht. Niemand hört ihn in diesem Augenblick, in dem der Sensenmann in seiner Tür steht. Sein kultiviertes Benehmen und die lächerlich moderne Aufmachung ändern ja nichts an der Tatsache, um wen es sich da handelt. Verdammter Mist!

»Elke!« Der flehende Ruf nach seiner Frau erstickt in seiner trockenen Kehle und hinterlässt ein stumpfes Echo unterhalb seiner Schädeldecke. Ihm ist, als würde der Tod ihn leise auslachen, doch genau weiß er es nicht. Flüsternd wendet er sich an sein Gegenüber. »Wollen Sie nicht endlich abhauen? Ich verliere auch kein Sterbenswörtchen darüber, dass Sie hier waren.«

»Ich habe Zeit«, säuselt die sanfte Stimme unbeeindruckt. Immer wieder dieses unsinnige Wort Zeit. Selbst Gevatter Tod ist davon besessen. Einmal mehr muss Gustav grinsen, denn er glaubt, seinen Gesprächspartner durchschaut zu haben. Zum Glück ist der einzige Hocker im Zimmer mit dem Teller blockiert. Elke ahnt gar nicht, was sie ihm da für einen Gefallen getan hat. Nicht auszudenken, wenn dieser lästige Freundlichtuer sich jetzt auch noch zu ihm ans Bett setzen würde. »Du kannst ruhig mitkommen, es ist gar nicht so schlimm, wie du denkst«, raunt es aus der Entourage des Jenseitigen.

»Früher oder später wirst du sowieso mitkommen, ob du willst oder nicht«, beharrt er jetzt in deutlich sachlicherem Ton, und dann unerwartet distanziert: »Sei froh, wenn ich dich hole und nicht eines Tages einer meiner Kollegen in deiner Tür steht.«

Wie bitte? Das wäre ja noch schöner. Den Augenblick seines Abgangs will Gustav immer noch selbst bestimmen. Als hätte er sich jemals etwas vorschreiben lassen. Wenn seine Gliedmaßen ihm gehorchen würden, dann würde er es diesem ungehobelten Kerl zeigen. Soll ihn doch der Teufel holen. Lustige Vorstellung: Der Teufel holt den Tod. Gustav versucht sich vorzustellen, wie das in einer Theaterinszenierung aussehen würde. Welche Rolle würde er lieber spielen, Teufel oder Tod? Er entscheidet sich für den Teufel. Mephisto hatte er nie spielen dürfen, immer nur Faust.

Er weiß nicht, ob er zwischendurch wieder eingeschlafen war. Das Zimmer ist dunkel. Ist der Graue noch da? Gustav kann ihn nicht mehr sehen. Besser so. In diesem Erlösung verheißenden Moment des unwiderruflichen Loslassens hat er nämlich ganz plötzlich noch etwas anderes zu klären. Er gerät in Panik.

Da steht diese eine Frage im Raum, vor deren Beantwortung er sich ein Leben lang erfolgreich gedrückt hat. Seine Augen sind wieder geschlossen. Gustav hat das Gefühl, immer leichter zu werden, abzuheben und von einer Anhöhe aus ein letztes Mal auf sich selbst herabzublicken, wie er da unten in seinem Bett liegt. Doch die Züge seines Spiegelbilds beginnen sich in ihrer Umgebung aufzulösen.

Er versucht seinen Blick für diese allerletzte Begegnung zu fokussieren wie das Teleobjektiv seiner Kamera, die ihn über all die Jahre ebenso treu begleitet hat wie seine Hunde, und sich selbst in ein Gespräch zu verwickeln. Aber wer soll den Anfang machen? Gustav weiß nicht, ob er es laut ausspricht oder einfach nur die Atemluft unter seinen Bartstoppeln hervorstößt. »Wer bin ich?«

Hat er tatsächlich eine Antwort erwartet? Statt abschließender Klarheit breitet sich ein verklärtes Lächeln in seinen Zügen aus. Na klar, er ist immerhin ein Auserwählter. Während alle anderen vor, hinter und neben ihm nur stupide ihrem Lebensfaden folgen, dessen einzige vorgegebene Richtung keinerlei Abweichung zulässt, hat er nicht ein, sondern viele Leben gelebt. Gustav hat es besser gemacht. Aber jetzt – buchstäblich im Angesicht des Todes – muss er eine Entscheidung treffen. »Wer?«, fleht es immer eindringlicher in ihm. Er möchte aufspringen, die Arme hochreißen, doch die Kräfte verlassen ihn.

Da spürt er auf seiner Haut wieder den Atem seines Gastes, der ihn umhüllt wie einst die Mutter, wenn sie ihn ein ganzes Menschenleben zuvor mit einem Tuch aus der Badewanne hob. Gerade noch die liebe Mutter und jetzt der Tod. Sein Herz schlägt an, er will erschauern, doch der Hauch des Todes riecht nicht etwa verfault oder muffig, nein er riecht nach Wald, Moos, morgendlichem Nebel und den nassen Felsen des Elbsandsteingebirges. Bald wird ein Baum aus seinen Eingeweiden wachsen. Und Gustav wird zu Hause sein. Er atmet tief ein. Bevor er die allerletzte Möglichkeit verpasst, will er sich ein einziges Mal zu dem winzigen Krümelchen Lebenswirklichkeit bekennen können, das ihm geblieben ist. Gleich, gleich …

Gustav

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