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6.

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Im Januar 1945 sah Gustav seinen großen Moment endlich gekommen. Die Lebensbedingungen in Dresden hatten sich unerträglich zugespitzt. Am 7. Oktober des Vorjahres war auch die sächsische Hauptstadt erstmals englischen Bombern ausgeliefert gewesen. Die Schäden hielten sich zwar in Grenzen, doch von nun an war es mit dem Mythos der Unverwundbarkeit der Elbresidenz vorbei. Die Nahrungsmittel wurden immer knapper und das Wenige galt es auch noch zu teilen. Es gab kaum noch eine Familie, die keine Opfer zu beklagen hatte. Täglich trafen neue Flüchtlinge aus Schlesien ein, die das Gelände um den Hauptbahnhof komplett in Beschlag nahmen. Traurige Gestalten, die im sicheren Dresden zur Ruhe hatten kommen wollen und nun merkten, dass der Krieg sie selbst am vermeintlichen Ziel ihrer Flucht nicht in Ruhe ließ. Ihre Blicke verrieten Angst und Desillusionierung, aber auch Neid und Gier. Die Dresdner trauten ihnen nicht. Besser, man kam ihnen nicht zu nahe.

Familie Bülow war wieder vollzählig. Der Vater hatte auch seine Stellung in Füssen verloren. Unverbesserlich, wie er war, wollte er sich dem braunen Kadavergehorsam nicht beugen. Entgegen den Anordnungen der Partei hatte er darauf bestanden, die eingesetzten Zwangsarbeiter genauso zu verpflegen und zu behandeln wie die letzten verbliebenen Angehörigen der Stammbelegschaft. »Solange ich hier was zu sagen habe …«

Aber er hatte nichts mehr zu sagen und niemand stand ihm zur Seite. »Sie lassen sich hier besser nicht mehr sehen, ansonsten müsste ich Sie wegen Kollaboration anzeigen. Sie wissen, was das bedeutet«, hatte ihm ein Vertreter der Partei empfohlen, von dem Bülow nicht genau sagen konnte, ob er es gut mit ihm meinte oder den unbequemen Geschäftsführer einfach nur loswerden wollte. Diesmal machte die Mutter kein Aufhebens um den Verlust des Postens. Sie war froh, ihren Gatten in den Zeiten des Untergangs wieder zu Hause zu wissen.

Um wenigstens für das Nötigste zu sorgen, schlug sich Walter Bülow als Englischlehrer durchs Leben. Zwar wollte es noch niemand offen zugeben, aber Englisch stand hoch im Kurs. An den Endsieg glaubten nur noch die Wenigsten und sich mit den Siegern verständigen zu können, schadete nichts. Die Angst vor den russischen Barbaren war groß, aber Engländer und Amerikaner gehörten ja zivilisierten Völkern an. Der ehemalige Fabrikbesitzer ließ sich in Naturalien bezahlen, ein paar Kartoffeln hier, ein halbes Brot da, ein Päckchen Butter dort. Man kam über die Runden, so gut es ging. Immerhin war Bülow einer der Wenigen, die in dem allgemeinen Chaos überhaupt noch Arbeit fanden und darüber hinaus weiterhin mit Respekt behandelt wurden.

Wenn der Vater zu Hause war, blätterte er wie abwesend in seiner Bibel, dem dicken Napoleon-Buch, las immer wieder voller Interesse dieselben Textpassagen, als würde er zum ersten Mal auf sie stoßen, und starrte unter Umständen minutenlang auf einzelne Illustrationen. Hin und wieder nickte er, zuweilen murmelte er auch etwas Unverständliches vor sich hin.

Was will der Vater mit diesem korsischen Froschfresser, fragte sich Gustav, wenn uns doch der größte Heerführer der Menschheitsgeschichte gerade mit sicherer Hand dem Endsieg entgegenführt. Doch er sparte es sich, seinem Häuptling derartige Fragen zu stellen, denn dessen lakonische Antwort kannte er nur zu gut. Wenn Hitler so ein Genie der Kriegsführung ist, warum wird Deutschland dann von allen Seiten eingekesselt, warum werden unsere Städte in Schutt und Asche gelegt, warum geht eine ganze Generation an der Front zugrunde? Warum haben wir nichts mehr zu fressen und warum arbeiten in unseren Fabriken nur noch Polen, Russen und Juden, obwohl der arische Arbeiter zu ganz anderen Leistungen in der Lage ist? Warum tyrannisiert die Gestapo ihr eigenes Volk?

Der Vater wollte einfach nicht begreifen, dass eine historische Umwälzung auch Opfer verlangt. Als ob nicht gerade Napoleon am Ende gescheitert wäre, weil er zu weich war. Adolf Hitler weiß, was er tut. Immer und ohne Ausnahme. Scheitern ausgeschlossen. Eines Tages, da war sich Gustav ganz sicher, würde sein alter Herr seine Irrtümer einsehen und ihm, dem Sohn, für seine Standhaftigkeit und seinen Weitblick dankbar sein.

Die Gelegenheit, seine Liebe zum Vaterland zu beweisen, sollte für Gustav nicht lange auf sich warten lassen. Es war ein Dienstag, einer jener langweiligen Schultage, an denen eigentlich nichts mehr gelernt wurde. Die Schüler saßen die Zeit ab, die Lehrer hatten längst begriffen, dass es für ihre Schützlinge Wichtigeres gab, als den Unterrichtsstoff zu pauken. Eigentlich hätte man auch zu Hause bleiben können.

Plötzlich ging die Tür auf. Der greise Direktor trat mit einem drahtigen Major der Wehrmacht ein und noch bevor das Schuloberhaupt seine Aufforderung aussprechen konnte, sich von den Plätzen zu erheben, stand die ganze Klasse stramm hinter den Bänken. »Heil Hitler!«, brüllte der abgehetzt wirkende Offizier und die Klasse erwiderte den Gruß, als ginge es ums Leben.

Tatsächlich ging es auch um nicht weniger als das Leben. In knappen Worten erinnerte der Uniformierte die Jungen an ihren Eid, den sie dem Führer geleistet hatten, und am nächsten Montag hieß es einrücken.

Die Jungs hatten schon seit Wochen auf diesen Augenblick gewartet. Sie versuchten sich gegenseitig mit Geschichten zu übertrumpfen, wie sie den Iwan mit einem kräftigen Tritt in den Hintern aus Deutschland befördern und den Ami vom Himmel holen würden. Die deutschen Panzer sind die besten und der deutsche Kampfgeist ist sowieso jedem anderen überlegen. Hitlers Befehl, bis zum letzten Atemzug für den Endsieg zu kämpfen, war gerade erst im Radio übertragen worden. Man munkelte, dass er noch eine Wunderwaffe im Ärmel hätte, die das Kriegsgeschehen drehen würde. Der Feind mochte getrost schon Deutschlands Niederlage feiern, bevor der Führer zum vernichtenden Schlag ausholte. Seine Entschlossenheit übertrug sich auf jeden Einzelnen von ihnen. Der deutsche Cäsar hat uns so viel geschenkt, er hat uns Stolz und eine Zukunft gegeben, jetzt heißt es, ihm etwas zurückzugeben. Auf wen soll der Führer sich verlassen, wenn nicht auf uns?

Gustav schlug das Herz bis zum Hals. Er rannte den halben Kilometer von der Schule nach Hause. Zu seinem Erstaunen fand er die Mutter in Tränen aufgelöst. Sie hatte den Einberufungsbefehl in der Hand und wollte ihren einzigen Sohn in die Arme schließen, doch der Vater hielt sie zurück. »Komm lass«, sagte er knapp, und sein Blick befahl Gustav unmissverständlich, das Zimmer zu verlassen. Der Junge ließ die Tür angelehnt und versuchte zu lauschen, worüber die Eltern sprachen. »So schlapp und schmächtig, wie der ist, nehmen die ihn sowieso nicht. Er muss ja noch zur Musterungsuntersuchung.«

Gustav war wütend. Schlapp und schmächtig, als ob es darauf ankäme. Dass ihm ausgerechnet seine eigene Familie in dieser Schicksalsstunde so in den Rücken fallen musste. Denen würde er es schon zeigen. Die Szene mit den verräterischen Eltern erinnerte ihn an Hänsel und Gretel.

Am nächsten Tag ging es zur Musterungsuntersuchung. Dazu musste Gustav ein paar Straßen weiter zu Doktor Bernhard gehen, der sich um ihn gekümmert hatte, solange er zurückdenken konnte. Husten, Masern, Scharlach, der Blinddarm, eine Stirnhöhlenentzündung, weil er immer den Rotz hochgezogen hatte, ein Hornissenstich, eine ausgekugelte Schulter, nachdem er von der Schaukel gefallen war – immer war Doktor Bernhard zur Stelle gewesen.

Der schmale und doch athletisch wirkende Mann mit der hohen Stirn und dem streng nach hinten gescheitelten Haar flößte Gustav Vertrauen ein. In seinem männlich galanten Auftreten erinnerte der große Blonde ihn an den Schauspieler Hans Albers. Nach jeder Behandlung durfte er in eine grüne Metalldose greifen, um ein Bonbon oder ein Stück Zucker zu ergattern. Daran hatte sich nicht einmal in den Jahren des Mangels etwas geändert. Seit einiger Zeit trug Doktor Bernhard unter seinem weißen Kittel Schaftstiefel und eine SA-Uniform. Diese Kombination aus Barmherzigkeit und Kampfeswillen rang dem angehenden Rekruten nur noch mehr Respekt ab.

Am liebsten wäre Gustav allein zu Doktor Bernhard gegangen. Aber die Mutter wollte unbedingt mit. Von dem Besuch bei Bernhard versprach sie sich ein Wunder, denn der Arzt stand neuerdings in einem besonderen Verhältnis zu Familie Bülow. Der Mediziner, eine der angesehensten Persönlichkeiten in Dresden-Cotta, pflegte seit einigen Monaten eine intime Beziehung mit Inge. Das durfte natürlich niemand wissen, denn Bernhard war verheiratet. Doch, so munkelte man schon lange, die Ehe des Doktorenpaars lief nicht gut. Er wäre in der heutigen Zeit nicht der Erste, der sich ein zweites Mal verheiraten würde.

Clara Bülow konnte den arroganten Lackaffen zwar nicht leiden und der Vater ging sowieso nicht zu diesem Bonzen, aber Inge, das wusste Mutter, konnte in diesen Tagen des Umbruchs nicht besser fahren. Seit sie ihre Ausbildung hatte abbrechen müssen und zurück im elterlichen Haus war, traf sie sich regelmäßig mit dem wesentlich älteren Arzt. Auch das war Gustav peinlich, vor allem heute, weil er sich mithilfe der Lasterhaftigkeit seiner Schwester nicht vor der Pflicht drücken wollte.

»Na, junger Mann, jetzt wird’s ernst«, begrüßte ihn der Doktor in einer Mischung aus förmlicher Freundlichkeit und feierlichem Missionseifer. Er stand hinter dem Schreibtisch auf, streckte seinem Patienten die Hand entgegen und zwinkerte ihm vertraulich zu. Die Mutter wollte ihren heimlichen Schwiegersohn kurz ins Nebenzimmer bitten, aber der setzte ein breites Grinsen auf, das zum akkuraten Krachen seines Stiefelleders passte, und bot ihr mit einer Geste, die keinen Widerspruch duldete, einen Stuhl im Behandlungszimmer an. Clara Bülow verstand sofort, was die Stunde geschlagen hatte. »Mein Gott, sehen Sie doch mal, wie schmächtig der Junge ist. Der hält an der Front keine zehn Minuten durch.«

Das Betteln der Mutter war Gustav unerträglich. »Lassen Sie das mal meine Sorge sein, liebe Frau Bülow«, entgegnete der Arzt herablassend. Und dann wandte er sich mit einem Zwinkern in Gustavs Richtung: »Der Krieg hat noch niemandem geschadet. Sie werden Ihren Jungen nachher nicht wiedererkennen. Gerade wer ein bisschen schwach auf der Brust ist, kommt von der Front als ganzer Mann zurück. Oder, Gustav?«

Der Angesprochene wäre am liebsten im Erdboden versunken. Diese Mütter. Die Untersuchung ging ganz schnell, ein bisschen Abhören, ein paar Kniebeugen, ein Seh- und Hörtest, das war’s. »Meinen Glückwunsch, du kannst einrücken und dem Führer deinen Mut beweisen. Glückwunsch auch an Sie, Frau Bülow, Sie können stolz auf diesen Prachtkerl sein. Er wird uns allen Ehre machen.«

Geschafft, seufzte Gustav innerlich. Ab Montag wird er Soldat im Ehrendienst für Volk und Vaterland sein. Mit seinen Fähigkeiten und seiner Wendigkeit in der Natur wird ihn der Feind schon nicht erwischen. Der Waldgeist ist stets auf seiner Seite.

Zurück in der Wohnung, brach zwischen den Eltern und Inge ein heftiger Streit aus. »Du musst mit deinem Verlobten noch mal reden, er darf Gusti nicht in den Krieg schicken«, flehte die Mutter ihre Tochter an, doch Inge blieb kalt.

»Erstens ist Doktor Bernhard nicht mein Verlobter«, sagte sie mit gespielter Beiläufigkeit, »was sich zwischen uns abspielt, geht außer uns beiden niemanden etwas an. Und zweitens, frag doch mal deinen Gusti, was er selbst will. Der kann’s ja gar nicht abwarten, Krieg zu spielen. Wenn du mich fragst, weiß der nämlich viel besser als du, was er sich und uns allen schuldig ist. Oder willst du etwa, dass die Bolschewiken über uns herfallen und uns alle schänden? Du hast doch selbst gehört, was im Osten an der Tagesordnung ist. Guck dir doch mal diese armen Frauen am Hauptbahnhof an. Die können dir haarklein erzählen, was du von den Russen erwarten kannst, diesen Untermenschen!«

Bis zu diesem Zeitpunkt hatte Walter Bülow immer erregter, aber trotzdem noch still zugehört. Seine Nasenflügel bebten, sein Unterkiefer rotierte wie ein Mühlstein, der die Bemerkungen seiner Tochter pulverisierte. Aber er hielt sich zurück, solange er konnte. Bei Inges letztem Ausspruch konnte der Mann, der sonst stets die Form wahrte und sich lieber jeden Kommentar verbiss, nicht mehr an sich halten.

Er sprang aus dem Sessel auf, raste auf seine erwachsene Tochter zu und packte sie fest bei den Oberarmen, um sie ungewöhnlich scharf anzuherrschen. »Es reicht! Merkst du eigentlich, wie du mit deiner Mutter redest? Wenn du bei deinen Parteibonzen bist, kannst du solchen Mist quatschen, aber in diesen vier Wänden behältst du deine Nazi-Scheiße für dich. Das ist keine Bitte, sondern eine klare Anordnung. Wenn du damit nicht leben kannst, ist das deine Sache, aber dann mach, dass du hier wegkommst, auf der Stelle, hast du mich verstanden? Und jetzt geh mir aus den Augen, sonst vergesse ich meine Kinderstube und die Tatsache, dass du meine Tochter bist!«

Clara Bülow duckte sich, als müsste sie vor den verbalen Geschossen ihres Mannes in Deckung gehen. Inge aber blieb wie angewurzelt stehen. So hatte der Vater nicht mehr mit ihr gesprochen, seit sie zehn war. Nur Gustav sah zu, dass er das Weite gewann, bevor auch er noch sein väterliches Fett abkriegte. Zur Schule musste er für den Rest der Woche nicht mehr. Er konnte sich die Zeit in der Zschone vertreiben, die jetzt von einer dicken Schneeschicht bedeckt war. Vorsichtig stapfte er durch die Vorstadtstraßen. An manchen Stellen spürte er unter dem frischen Pulverschnee Glatteis. Bloß nicht noch vor der Einberufung ausrutschen und ein Bein brechen. Das könnte als Selbstverstümmelung gewertet werden, und darauf stand seit kurzer Zeit die Todesstrafe.

Kaum war er im Wald angelangt, wurde ihm bei der Erinnerung an Vogelscheuche und Wolf ein wenig klamm. Seinen alten Freund hatte er seit Jahren nicht mehr gesehen. Als der Schäfer eines Tages nicht mehr da war, dachte Gustav noch, er sei mit seiner Herde weitergezogen, weil alles abgegrast war, und würde selbstredend nach ein paar Wochen wiederkommen. Aber er kam nicht.

Einer seiner Klassenkameraden, dessen Vater, so wurde behauptet, bei der Gestapo arbeitete, meinte, den alten Zigeuner hätten sie wohl abgeholt. Gustav mochte sich gar nicht vorstellen, was das bedeutete. Abgeholt. Und wieso Zigeuner? Das machen sie doch nur mit den Juden. Und den Kommunisten. Die hatten’s ja auch nicht besser verdient. Aber Vogelscheuche? Wer konnte etwas gegen diesen mürrischen, zotteligen Herumtreiber haben, der niemandem im Weg war? Vielleicht würde er ihn ja nach dem Krieg wiedertreffen?

Gustav erwischte sich dabei, wie er sich wehmütig von Bäumen, Lichtungen, Felsen und dem Bach verabschiedete. Auf der kleinen Brücke, die über das schmale Bächlein führte, blieb er eine Weile stehen und sah dem Wasser unter der dünnen Eisschicht beim Fließen zu. Jetzt war der Krieg bei ihm angekommen.

War er wirklich so mutig, wie er vorgab? Ist es nicht doch ein großer Unterschied, von Kriegsabenteuern zu träumen und tatsächlich in die Schlacht zu ziehen, wo sie einem die Eingeweide aus dem Leib schießen, ein Schrapnell einem das halbe Gesicht wegreißen kann oder man in der Gefangenschaft wie ein Vieh krepiert? Das Wasser fließt einfach immer weiter, egal ob er heil von der Front zurückkommt oder nicht. Plötzlich schossen ihm Tränen aus den Augen.

Er weinte und weinte und weinte, hier, wo er sich unbeobachtet wusste und noch ein letztes Mal Junge sein durfte. Was war das für ein Scheißdreck mit diesem Krieg? War Adolf Hitler nicht auch irgendwann mal ein Junge gewesen, der einfach nur leben und glücklich sein wollte? Was machte aus einem Jungen einen Führer, der über ein Volk und die ganze Welt bestimmen kann? Und was würde aus ihm, Gustav, werden, wenn er den Krieg überleben sollte? Er versuchte sich vorzustellen, als Trapper durch die Rockies zu streifen, mordgierige Rothäute im Rücken, denen er entkommen musste. Es gelang ihm nicht.

Das Wochenende zog sich mit lästigen Verwandten- und Bekanntenbesuchen in die Länge. Alle wollten das jüngste Familienmitglied noch einmal sehen, bevor es in diesen aussichtslosen Krieg ziehen musste. Gustav fand die Prozedur lästig, aber die Mutter duldete keinen Widerspruch. Der Vater blieb zu Hause. Er hatte keine Lust, diesen Haufen von Spießern und Opportunisten, wie er sich ausdrückte, zu sehen.

Diesmal konnte Gustav den alten Herrn gut verstehen. Auch er war froh, als der peinliche Schaulauf endlich vorbei war. All diese Tränen nervten ihn. Am Sonntagabend holte der Vater eine Flasche Cognac, die er seit Friedenszeiten in der Kredenz aufbewahrt hatte. »Hier mein Junge, wer im Krieg für den Führer den Arsch hinhalten kann, der darf sich auch besaufen.«

Am Montagmorgen begleitete der Vater seinen Sohn zu der Kaserne, in der er sich bis neun Uhr einfinden musste. Das alte Gemäuer in Dresden-Übigau war gar nicht weit vom Elternhaus entfernt. Einfach nur auf der anderen Seite der Elbe. Den hohen Turm der Drillanstalt konnte man von Cotta aus mit bloßem Auge sehen. Diesmal war die Mutter zu Hause geblieben. Ungewohnt liebevoll bedeutete Walter Bülow seiner Frau, dass er gleich zurück sein werde. Mensch, der Alte zeigt Gefühl, schoss es Gustav durch den Kopf. Schon in den letzten Tagen hatte er sich mehrfach gehen lassen. So kenne ich diesen komischen Kauz gar nicht.

Auf dem Weg redeten die beiden kaum miteinander. Gustav war schon gedanklich mit den Kameraden an der Ostfront. Er freute sich auf seine schneidige Uniform, mit der er dem Feind trotzen würde. Das stolze Grau der Wehrmacht war doch etwas anderes als das kindliche Paradebraun der HJ-Kluft. Hinter den markanten Brauen des Vaters, die sich über die Augen zogen wie Baldachine, kämpften mehrere Dragonerregimenter ihre eigene Völkerschlacht, deren Ausgang ungewiss schien. Gustav hätte einiges darum gegeben, für einen Augenblick hinter dieses dichte Buschwerk dringen zu können.

Als Vater und Sohn sich am Tor verabschiedeten, presste der alte Herr die Lippen fest zusammen, klopfte dem angehenden Rekruten auf den Oberarm und ließ ein hanseatisch knappes »Bis bald« hören. Dann drehte er sich ruckartig weg und ging, ohne sich umzublicken, zurück zu seiner Frau nach Cotta.

Erst jetzt spürte Gustav, wie ein Gefühl von Abschied in ihm aufstieg. Auch wenn er in letzter Zeit immer seltener mit dessen Ansichten übereinstimmte, war der Vater doch immer für ihn dagewesen. Wann würde er seinen geliebten Beschützer wiedersehen? Und was würde aus Dresden werden, wenn er der Heimatstadt den Rücken kehrte?

Doch er hatte nicht viel Zeit, sich seiner Wehmut hinzugeben. Die Kaserne saugte ihn ein. »Rekrut Bülow meldet sich zum Dienst, Heil Hitler!« Mit aller Kraft knallte er seine Hacken zusammen. Der Eindruck aber verpuffte im Schneematsch, denn die weichen Winterschuhe verursachten keinerlei Geräusch. Dem künftigen Kriegshelden stieg die Schamesröte ins Gesicht. Das fing ja gut an.

Bei der Einkleidung herrschte ein unermessliches Durcheinander. Überall quirlten bewegliche Trauben von jungen Männern. Sie balancierten Berge von mausgrauen Kleidungsstücken durch die Gegend. Ständig fiel etwas runter, keiner wusste, was wem gehörte und wohin er sich wenden musste. Die Feldwebel versuchten mit ihren Kommandos vergeblich eine Struktur in diese Abläufe zu bringen. Durch die langen Gänge der Kaserne hallte ohrenbetäubender Lärm. Niemand verstand die blechernen Parolen, die aus den Lautsprechern dröhnten. Schlimmer kann es auf dem Schlachtfeld auch nicht werden, wurde Gustav von irgendwem zugeraunt. Hin und wieder entdeckte er in dem Gewimmel Gesichter einzelner Schulkameraden.

Zu seinem großen Verdruss musste sich Gustav eine Uniform verpassen lassen, die ihm viel zu groß war. Die Hose reichte ihm fast bis unter die Achselhöhlen und nur das Koppel hielt alles notdürftig zusammen. Das hatte er sich anders vorgestellt. Er wollte gegen diese Zumutung protestieren, musste sich aber anschnauzen lassen, er sei hier nicht in einem Modehaus und solle sich mit dem zufriedengeben, was er bekomme. Den Russen interessiert es einen Scheiß, ob er mit Manschettenknöpfen oder in Unterhosen auf ihn schießt. Hauptsache er trifft.

In der viel zu weiten Wehrmachtskluft fühlte sich Gustav gleich noch viel verlorener. Zum Glück gab es nirgendwo in der Kaserne einen Spiegel, der ihm die äußerliche Schmach vor Augen geführt hätte. Ach was, immerhin kommt es ja auf die inneren Werte an, Siegeswille, Kampfkraft, Entschlossenheit und Treue zu Volk und Führer. Doch so oft Gustav diese Formel auch vor sich hinbetete, das Heimweh, das ihn schon nach wenigen Stunden befallen hatte, wollte nicht weichen.

Die Grundausbildung war kurz und hart, aber oberflächlich. Alles Wesentliche hatten die Jungs ja schon auf dem Schulhof oder an den Wochenenden in der Sächsischen Schweiz gelernt. Es ging noch einmal darum, sich im Zug aufeinander einzuspielen, sich zu hundert Prozent aufeinander zu verlassen. Gustav mochte seine Ausbilder nicht und bis auf einen seiner ehemaligen Klassenkameraden, Hartmut, konnte er auch seine Zimmergenossen nicht sonderlich leiden. Es war saukalt und die Aussicht, an die noch viel kältere Ostfront zu müssen, bereitete niemandem Vergnügen. Andererseits konnte es keiner abwarten, es dem Russki mal so richtig zu zeigen. Nach zwei Wochen Ausbildung sollte es ins Feld gehen.

Gustav

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