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Wenn sich Gustav Bülow an seine Kindheit erinnerte, hatte er ein unübersichtliches Mosaik vor Augen, das sich aus Hunderten zusammenhangloser Einzelbilder aufbaute. Nur der verbindende Kitt der elterlichen Erzählungen machte daraus einen kontinuierlichen Film der Ereignisse mit Anfang und viel zu frühem Ende. Aus der Sicht des Erwachsenen konnte Gustav natürlich nur schwer unterscheiden, welche Szenen auf eigener Erinnerung beruhten und welche von den Begleitern seiner unbeschwerten Kindheitstage ergänzt worden waren.

Doch das machte ihm gar nichts, denn zu diesen beiden Säulen des Denkens an seine ersten Tage kam noch eine dritte tragende Komponente hinzu, die seine Lebenschronik erst zu dem machte, was sie war. Eine Unzahl von gehörten, angelesenen und in Wachträumen ersehnten Begebenheiten, die sich genau so zumindest hätten ereignet haben können und auf deren Glorie Gustav keineswegs verzichten wollte, verdichtete seine Kindheit zu einem einzigen langen Abenteuer. Doch wer wollte ihm das jetzt noch vorhalten? Der Schleier der Lebensjahre hatte die Grenzen zwischen Sehnsucht und Wahrheit ohnehin längst aufgehoben.

Gustav Bülow durfte auf eine knallbunte Kindheit zurückblicken. Seine Erinnerungen hatten so gar nichts gemein mit den im Kino oft in Schwarzweiß getunkten Rückblenden, mit denen die Vergangenheit im Auge des Betrachters von der Gegenwart abgesetzt werden soll, als ließe sich die Erinnerung in eine Ära vor und nach Einführung des Farbfernsehens einteilen.

Für Gustav war es genau umgekehrt. Je weiter sich sein Alltag von der unverschämten Grenzenlosigkeit der Knabenzeit entfernte, desto praller wurde deren retrospektive Farbenpracht. Die schwarzen und graubraunen Tage, von denen es nicht wenige gab, blendete er einfach aus. Damals war er ein Abenteurer, stets auf der Suche nach neuen Herausforderungen, ein später Kumpan von Tom Sawyer und Huckleberry Finn. Mit dem kleinen Unterschied, dass er beide gleichzeitig sein durfte.

Am nordwestlichen Stadtrand von Dresden herrschte sommers wie winters Idylle. Die Elbe schleppte sich träge und ölig dahin, überflutete in manchen Jahren die sie umfangenden Wiesen, um den Stadtteil Cotta erstreckte sich ein Gürtel von Parks, Wäldern und Feldern. Als Junge genoss Gustav alle erdenklichen Freiheiten – solange er allein war. Nach Erledigung seiner schulischen Pflichten, die ihm im Grunde ziemlich egal waren, rannte er, so schnell ihn seine Füße trugen, in den nahe gelegenen Zschoner Grund, ein Wäldchen, das trotz seiner relativ geringen Ausdehnung mit Bächen, Hängen und Felsen wie das endlose Labyrinth eines amerikanischen Canyons wirkte. Was er am Abend zuvor in den Büchern Karl Mays oder Friedrich Gerstäckers gelesen hatte, konnte Gustav nach dem Unterricht sogleich in handfestem Spiel nacherleben. Im Zschoner Bach wusch er Gold, auf der Wiese zwischen den Hängen erlegte er Büffel und manchen Desperado brachte er furchtlos zur Strecke.

In der Erinnerung herrschte in der Zschone, wie Gustav sein Wäldchen liebevoll nannte, immer Spätsommer. Noch Jahrzehnte später hörte er die Melodie der Grillen über dem von der Sonne verbrannten Gras. Woran mag es liegen, dass dieses Zirpen nie wieder jenen verführerischen Klang der Weite Afrikas hatte wie in jenen Jahren zwischen zehn und vierzehn, die Gustav als die glücklichsten seines Lebens abspeicherte?

Die Schleuse zwischen den letzten villenartigen Häusern von Cotta und der Zschone bestand aus einigen herrenlosen Obstbäumen hinter einem niedergetrampelten Lattenzaun, an deren zu Boden gefallenem Überfluss er sich schadlos halten konnte. Äpfel, Birnen und Pflaumen, so viel er wollte und die Wespen zuließen. Vor den Stechinsekten hatte er einen Mordsrespekt, denen wollte er nichts von dem Fallobst streitig machen. Und doch liebte er die kleinen Flügeltiere wegen des akkuraten Schwarzgelbs ihres Streifenkostüms und nicht zuletzt auch wegen ihrer Wehrhaftigkeit. Die Natur war doch ein famoser Maler, dessen Form- und Farbenpracht keine Grenzen kannte. Gustav hielt in Zeichnungen fest, was er sah.

Mehr noch, er sprach mit den Bäumen, konnte stundenlang auf Rehe warten, die früher oder später an einer bestimmten Lichtung vorbeikommen mussten, beobachtete den Mäusebussard, wenn er ein Kaninchen in seinen Horst in den Wipfeln trug. Von den Augen in der Buchenrinde fühlte er sich beobachtet, in jeder Astgabel vermutete er eine Eule. In der Dämmerung verfolgte er den Flug der Fledermäuse und versuchte Nachtfalter zu kategorisieren. Es wäre ihm nicht im Traum eingefallen, eines der schönen Tiere zu fangen und zu töten. Nein, er liebte die Natur lebend, wurde zum Teil von ihr. Hier im Wald war er zu Hause, und seine Eltern ließen ihn gewähren, solange er draußen war.

Zeit existiert in der Kindheit nicht. Kinder lernen die Uhr lesen, wollen aber nicht einsehen, wozu. Warum etwas messen wollen, das man nicht festhalten kann? Zeit ist eine Erfindung der Erwachsenen, die nur dazu dient, das Unendliche einzugrenzen. Etwas völlig Unbegreifliches, in jeder Hinsicht Überflüssiges. Ein Tag, eine Woche, ein Jahr, das machte überhaupt keinen Unterschied. Im Spiel konnte Gustav Jahrhunderte überspringen.

Nur einmal im Jahr, wenn der Geburtstag naht, wird Zeit wichtig. Wie lange noch? Und wie würde es sich anfühlen, wenn man wieder ein Jahr älter wäre. Wenn man aber nachmittags auf dem Rücken liegend nichts tut, als die Wolken über sich hinweg ziehen zu lassen, gibt es weder Morgen noch Gestern und schon gar kein nächste Woche. Jeder einzelne Augenblick dehnt sich im Universum aus. Spielt es für die Wolke eine Rolle, wie lange sie braucht, um ihre Gestalt zu verändern? Wie würde es sich anfühlen, eine Wolke zu sein? Eben noch ein Krokodil, das einen Vogel verschlingt, und im nächsten Augenblick ein riesiger Hase, eine Dampflok oder ein gewaltiger Blumenkohl. Gustav würde gern zum Himmel aufsteigen und wie eine Wolke seine Umrisse wechseln. Und wie mochte es erst einmal über den Wolken aussehen? Die Sterne lagen ihm näher als das Nachbarhaus. »Wenn du groß bist, werdet ihr auf dem Mond spazieren gehen«, hatte der Vater gesagt. Gustav bezweifelte keinen Augenblick, dass sein alter Herr recht hatte.

Freunde hatte Gustav nicht, aber er brauchte auch niemanden zum Spielen. Die sportlichen Wettkämpfe seiner Schulkameraden langweilten ihn. Fußball hasste er ebenso wie Völkerball. Wenn beim Mannschaftssport die Aufstellungen gelost wurden, blieb er immer bis zum Schluss stehen. Keiner wollte ihn in der Mannschaft haben. Anfangs wurmte ihn das, nach einer Weile hielt er es für ein Privileg. Im Wald übte er heimlich Speerwerfen und Bogenschießen, Klettern und Laufen. Er spielte Bergsteiger und Großwildjäger, suchte sich Verstecke, falls ihn einst Banditen durch das kleine Tal jagen würden. Hier kannte er jeden Winkel, keiner würde ihm überlegen sein. Nein, nicht er war der von den anderen Jungs Geschmähte, sondern er ließ sie nicht an seiner Lebenswelt teilhaben. So einfach war das.

Hin und wieder traf er auf den saftigen Wiesen neben dem Bach oder unter den Obstbäumen einen Schäfer. Die zottelige Gestalt sah aus, als wäre sie gerade aus einer fernen Vergangenheit aufgetaucht, braun gebrannt, mürrisch, mit undefinierbaren graubraunen Lumpen behängt, deren ursprüngliche Bestimmung nicht mehr erkennbar war. Sein Gesicht war stets unrasiert, ein Bart, der diesen Namen verdient hätte, wollte ihm trotzdem nicht sprießen. Wangen und Kinn waren eher von einer Art schwarzem Unkraut überwuchert. Die struppige Frisur ließ sich unter dem breiten, ausgefransten Schlapphut nur erahnen. So mussten wohl die Trapper ausgesehen haben, von denen Gustav in seinen Abenteuerbüchern las.

Wie der Schäfer hieß, sollte Gustav nie erfahren. Er nannte ihn Vogelscheuche, ohne ihn allerdings jemals direkt mit diesem Namen anzusprechen. Gustav war fasziniert von dieser Naturerscheinung in Menschengestalt, hatte aber auch ein wenig Angst vor ihr. Vogelscheuche redete so gut wie nie. Und wenn er es doch tat, hatte Gustav Mühe, ihn zu verstehen. Er sprach nie in Sätzen, sondern stieß einzelne Wörter hervor, die von gutturalen Geräuschen und unbändigem Fluchen unterbrochen waren. Vogelscheuche vermied es, Gustav direkt in die Augen zu sehen. Und doch spürte der Knabe, dass diese seltsame Figur, die so gar nicht in die Zeit passen wollte, ihn mochte.

Manchmal stibitzte Gustav aus der elterlichen Küche etwas Essbares, um es seinem unkonventionellen Kameraden mitzubringen. Dann zog sich über das narbige Gesicht des Schäfers ein breites, tonloses Lachen, das einen kläglichen Rest verfaulter Zähne zum Vorschein brachte. Wenn Vogelscheuche die Geschenke aber sogleich laut schmatzend, spuckend und pausenlos fluchend verspeiste, hätte sich Gustav am liebsten die Ohren zugehalten. So sehr er die gedeckte Tafel der Natur bevorzugte, lagen ihm doch die strengen väterlichen Tischsitten weitaus mehr als Vogelscheuches Rumgemansche.

Der wortkarge Einzelgänger hatte einen Hund namens Wolf, mit dem sich Gustav schnell anfreundete. Vogelscheuche erzählte ihm auf seine umständliche Art, dass Wolf tatsächlich von Wölfen abstammen würde. Früher hätten seine Vorfahren Schafe gerissen, heute passte Wolf auf, dass kein Schaf verloren geht. Der rasselose Vierbeiner schien völlig verwildert, seinen Pelz bevölkerten ganze Stämme von Läusen und Flöhen, doch wenn Vogelscheuche einen heiseren Pfiff ausstieß, parierte er sofort. Auf Kommandos von Gustav reagierte Wolf nicht. Gustav konnte Knüppel werfen, so oft er wollte, das ignorante Hundevieh blieb träge liegen. Und doch war Gustav stolz darauf, dass Wolf ihn als Teil der Herde akzeptierte und ihm nach den ersten Begegnungen laut bellend und schwanzwedelnd entgegenstürmte, wenn er sich Vogelscheuche und seinen Schafen näherte.

Von dem Hirten lernte Gustav nicht nur schnitzen, pfeifen, spucken, nach Herzenslust fluchen, Feuer machen, Fährten lesen und den Kot unterschiedlicher Tiere zu unterscheiden. Er verinnerlichte auch das Gesetz des Überlebens. Der heranwachsende Städter sog jede Bewegung seines burlesken Lehrmeisters auf, der ihm viel mehr Achtung abrang als das steife Lehrergesocks in der Schule, das so oft über ihn spottete. Er lernte, in der Natur den Körper vom Bewusstsein zu trennen, einzuschlafen, aber sofort hellwach zu sein, wenn die Situation es erforderte, zum Beispiel, wenn sich ein Fremder der Herde näherte.

Stundenlang konnte er mit Vogelscheuche und Wolf unter einer durchlässigen Plane im heftig prasselnden Regen sitzen und nichts tun, als wortlos vor sich hin zu starren. Zeit spielte keine Rolle. Beim ersten Mal störte ihn die durchdringende Nässe noch, aber er biss die Zähne zusammen und ließ sich nichts anmerken. Der Schäfer warf ihm eine nach Schaf und Erde riechende Decke hin und Gustav wickelte sich ein. Nass wurde er trotzdem, aber er fühlte sich wie ein Indianer vor seinem Tipi. Und bald machte ihm der Regen nichts mehr aus.

Schlotternd vor Kälte und am ganzen Körper verdreckt kam er an solchen Tagen nach Hause. Die Mutter wollte wissen, warum er sich nicht untergestellt hätte oder früher nach Hause gekommen wäre. Doch Gustav strahlte sie so glücklich an, dass sie nicht weiter insistierte. Hin und wieder erzählte Gustav den Eltern von Vogelscheuche, aber die hielten das für eine der vielen Fantastereien ihres Sohnes. Der war zunächst beleidigt, im Grunde war ihm das Unverständnis seiner Alten jedoch nicht einmal unrecht, fürchtete er doch, der Vater könnte ihm den Kontakt zu seinem so gar nicht salonfähigen Gefährten womöglich verbieten. Dann wäre es mit seinem Leben als Abenteurer vorbei gewesen, bevor es überhaupt angefangen hatte.

Mit Spannung hatte Gustav die Berichte des schwedischen Weltreisenden und Naturschützers Bengt Berg gelesen. Auch der war seit den Tagen seiner Kindheit ein bedingungsloser Liebhaber der Natur geworden. In seinen Büchern machte er aus seiner Verachtung der Zivilisation mit all ihrer Berechnung und Zerstörungswut keinen Hehl. In eindrucksvollen Bildern schilderte er die Schönheit und Empfindlichkeit, aber auch die Unbarmherzigkeit der Natur. Der Stärkere setzt sich durch. Immer und überall. Gustav musste stark sein, lernen, in einer feindlichen Umgebung zu überleben und all die Dinge, vor denen die Verfechter der Zivilisation flohen, zu seinem Vorteil zu nutzen. Wie Bengt Berg. Sich in Pfützen zu waschen und mit der Feldflasche das Regenwasser aufzufangen.

Bergs Bücher über Wildgänse und Adler ließen den wissbegierigen Jungen nicht mehr los. Er las sie immer wieder, bis er das Gefühl hatte, selbst all diese Abenteuer erlebt zu haben. Wie gern wäre er einer der sechs deutschen Jungs gewesen, die sich in dem Film »Sehnsucht nach Afrika« von Bergs Schilderungen berauschen ließen. Er sah den Film so oft, bis er ihn auswendig kannte. Doch er absorbierte nicht nur die Bilder und Aussagen, er studierte auch seine Machart. Die suggestive Kraft, die von den Naturbildern ausging, faszinierte ihn. Was wären diese Aufnahmen wohl ohne das gesprochene Wort, ohne die Anleitung, wie man sie zu betrachten und zu bewerten habe. Ein und dasselbe Bild, das wurde Gustav klar, konnte ganz unterschiedliche Geschichten erzählen. Erst die begleitende Schilderung machte es zu dem, was es in der Erinnerung des Betrachters blieb. Das Gesetz der Bilder stand in erstaunlichem Gegensatz zum Gesetz der Natur.

Der Schwede war auch Fotograf. Seine Fotos waren sensationell. Niemand sonst kam so dicht an die Tiere heran wie er. Wenn er Vögel fotografierte, wurde er selbst zum Vogel. Gustav wünschte sich nichts sehnlicher als eine Spiegelreflexkamera, um die Tiere im Zschoner Grund zu fotografieren. Später würde es auch ihn ins Himalaya, in die Serengeti und in die Rocky Mountains verschlagen. Wie sein Vorbild würde er den Kindern in der Heimat von seinen großen Forschungsreisen erzählen. Die Klassenkameraden von heute würden dann ihre Söhne und Töchter in seine Vorträge schicken und damit prahlen, dass sie einst mit Gustav die Schulbank gedrückt hatten. Der Blick des Expeditionsleiters in spe schweifte in die Wolken und er freute sich auf diesen Augenblick.

Zu Hause in der kleinen Drei-Zimmer-Wohnung am Stadtrand von Dresden galt freilich ein anderes Regiment. Das Leben hangelte sich an einer Reihe fester Rituale entlang, die sich vom Tages- und Wochenablauf über die Verteilung der häuslichen Pflichten bis zum Essensplan erstreckten. Gustav konnte sich zum Beispiel nicht erinnern, dass es sonntags jemals etwas anderes zu Mittag gegeben hätte als Schnitzel mit Salzkartoffeln und Mischgemüse. Der Vater wollte es so und niemand hätte gewagt, einen anderen Vorschlag zu unterbreiten. Warum auch, es war völlig in Ordnung. Der kleinste Bruch einer jener niemals schriftlich oder mündlich fixierten, sondern als unumstößlich empfundenen Regeln wurde nicht etwa bestraft, er lag schlicht außerhalb alles Vorstellbaren. Gustav und seine sechs Jahre ältere Schwester Ingeburg hätten nicht im Traum an einen Verstoß gegen das Vaterrecht gedacht.

Allerdings wusste Gustav, dass Ingeburg ihm gegenüber im Vorteil war, und das ärgerte ihn. Sie musste nur das Gesetz der Eltern einhalten, er zusätzlich die Lex Ingeburg, die nicht immer zum Regelkanon der Altvorderen kompatibel war. Gegen die Schwester aufzubegehren kam ihm zwar hin und wieder in den Sinn, doch wurde seitens Ingeburgs jede Übertretung ihrer willkürlichen Zusatzparagrafen mit harten Strafen bedacht. Kleinere Vergehen wurden mit einem ausgeklügelten System von Demütigungen geahndet, die selbstredend nur in Anwendung kamen, wenn die Eltern nicht zugegen waren. Darüber hinaus musste Gustav regelmäßig häusliche Obliegenheiten von Ingeburg übernehmen und sich dann anhören, wie ihr Pflichtbewusstsein von den Eltern gelobt wurde. Wie hasste er sie dafür!

Kam es ganz schlimm, musste er stundenlang Publikum spielen, wenn Inge ihre Kleider vor dem Spiegel ausprobierte. Und wehe, eine der Kostümierungen gefiel ihm nicht. Dann setzte es die nächste Gemeinheit. Von manchen Vergehen wusste Gustav nicht einmal, dass er sie begangen hatte. Zum Beispiel die Hände in den Hosentaschen halten oder Rotz hochziehen. Er hatte den Vater nie darüber reden hören, aber Inge versicherte ihm, die Strafe der Eltern wäre weit strenger als die ihm von ihr auferlegte Buße.

Wenn er sich Inge nicht gefügig zeigte, musste er sich von ihr anhören, dass er eigentlich gar nicht der Sohn seiner Eltern sei, sondern ein Findelkind, das sie, Ingeburg, vor ein paar Jahren beim Spielen im Gebüsch des nahe gelegenen Leutewitzer Parks entdeckt habe. Ihr allein habe er es zu verdanken, dass Mutter und Vater sich seiner angenommen hätten. Sie könne die Eltern bewegen, ihn wieder auszusetzen.

Gustav spürte zwar intuitiv, dass diese Fabel nicht stimmte, und doch hasste er sie, weil Inge sie immer erzählte, wenn er im Bett lag. Er konnte dann nicht einschlafen. Was, wenn sie doch recht hatte? Müsste er vielleicht ins Waisenhaus, wenn er sich Inge gegenüber nicht dankbar erwies? Nein, auf keinen Fall, nicht umsonst lernte er, in der Natur auf sich selbst gestellt zu überleben. Sie sollten nur versuchen, ihn ins Heim zu stecken, er würde weglaufen und sich im Zschoner Grund so verstecken, dass sie ihn nie finden würden. Erst aus seinen später von Millionen Kindern gierig verschlungenen Abenteuerberichten würden sie in vielen Jahren erfahren, was aus ihm geworden war. Dieser Gedanke beruhigte ihn.

Süßigkeiten besaß Gustav fast nie. Oder zumindest nie lange. Die Eltern beschenkten zwar beide Kinder mit allerlei Zuckerkram, da sie selbst gern naschten, aber die von Ingeburg erdachten Strafzölle brachten Gustav um einen wesentlichen Teil seines Vorrats. Den kläglichen Rest nahm sie ihm ohne Begründung trotzdem weg. Er konnte sein Naschzeug noch so gut verstecken, sie fand es immer. Fragte er, wo seine Kekse oder sein Kandis wären, zuckte sie nur schnippisch mit den Achseln. Drohte er aber, dem Vater davon zu erzählen, setzte sie ein derart strenges Gesicht auf, dass er sich die Strafe für seine Petzerei gar nicht ausmalen wollte und es lieber bleiben ließ.

Einmal wagte Gustav es dennoch, die Mutter ins Vertrauen zu ziehen. Er konnte seine Traurigkeit über den Verlust eines kostbaren Schokoladenschatzes einfach nicht verbergen. »Gustav, was hast du denn«, fragte Clara Bülow.

Er wollte mit der Wahrheit nicht heraus, wusste er doch, was ihm dafür blühte. Doch die Mutter ließ nicht locker, streichelte ihm über den Scheitel und fragte immer wieder. Da berichtete Gustav von dem Diebstahl.

»Passiert das öfter«, wollte die Mutter wissen. In solchen Momenten konnte ihre Stimme hart wie Stahl sein. Wieder zögerte er mit der Antwort, aber die Mutter schaute ihn so ernst an, dass er nicht mehr wusste, vor welchem der beiden weiblichen Mitglieder der Familie er sich mehr fürchtete. Schweren Herzens beichtete er, dass er sich nicht erinnern könne, wann es anders gewesen sei. Die Mutter war außer sich und Gustav überlegte, was er wohl falsch gemacht hatte. Gleich würde sich ein häusliches Gewitter entladen. Aber die Mutter schickte ihn nur aus dem Zimmer und rief nach Inge.

Er rannte zu seinen Bäumen und Wiesen. Was sich an diesem Nachmittag genau zwischen Mutter und Schwester abgespielt hatte, sollte er nie erfahren und vorsichtshalber wollte er auch nicht fragen.

Am Abend schaute Ingeburg ihn ein einziges Mal kurz aus den Augenwinkeln an, doch dieser Blick erschütterte ihn bis ins Mark. Danach sprach sie drei Wochen lang kein einziges Wort mit ihm. Sie schien es nicht einmal zu bemerken, wenn er im Raum war. Gustav stellte die Schachtel mit seinen Bonbons offen auf den Tisch des gemeinsamen Zimmers, doch Inge rührte nichts von dem Naschzeug an. Diese Strafe war schlimmer als alle Drangsalierungen, die er zuvor seitens der Schwester zu erdulden hatte.

Inge konnte unerbittlich sein. Gustav liebte sie, aber er fürchtete sich auch vor ihr, weil sie der einzige Mensch auf der Welt zu sein schien, dem er nichts vormachen konnte. In Sekundenschnelle vermochte sie ihn mit ihren Röntgenaugen zu durchdringen, ihm jedes Geheimnis zu entlocken, noch bevor er sich dessen selbst bewusst war. Ihre kühle, unnachgiebige Art hatte sie vom Vater. Am meisten störte ihn ihre herablassende Nachsicht. Wenn er ihr begeistert vom Wald erzählte und sie ihm nichts anderes entgegnete als: »Ach Gustav, du musst noch viel lernen«, spürte er, wie es in ihm kochte.

Fast täglich dachte er sich neue Geschichten aus, um die Schwester zu beeindrucken. Zwei größere Jungs hätten ihm an den Obstbäumen aufgelauert. Er hatte sie nicht bemerkt, und als er sich nach Äpfeln und Birnen bückte, gingen sie plötzlich von hinten auf ihn los. Gustav versuchte, nach einem Knüppel zu greifen, doch die beiden Großen waren schneller und wollten zuschlagen.

Da kam Gustav plötzlich eine Idee, wie er seine Überlegenheit ausspielen könnte. Auf der den Angreifern abgewandten Seite einer angefaulten Birne bemerkte er zwei Wespen, die er blitzschnell als Waffe einzusetzen beschloss. Er tat so, als wolle er nach der Birne greifen, bewegte sich aber so langsam und auffällig, dass es den beiden Wegelagerern nicht entgehen konnte. Einer der beiden trat auf seinen Arm und langte nun selbst ganz langsam und seine Überlegenheit auskostend nach dem Stück Fallobst. In dem Augenblick, als er aber zugriff, stachen Gustavs unfreiwillige Alliierten zu. Der Junge schrie laut auf, seine Hand zuckte zurück. Gustav nutzte den Moment der Verwirrung seiner Kontrahenten, griff nach dem Knüppel und zog dem Unversehrten der beiden eins über den Schädel. Heulend suchten die zwei viel Größeren das Weite.

Je ausführlicher Gustav dieses oder andere Abenteuer schilderte, desto mehr glaubte er die Geschichte selbst. Er spürte buchstäblich die Blessuren der Keilerei. War es nicht so passiert, dann wäre es doch genau so und nicht anders geschehen, wenn ihm wirklich zwei Größere aufgelauert hätten.

Und Ingeburg? Die wandte sich nicht einmal von ihrem Spiegel ab und ließ nur ein lakonisches »Aha, Gusti der große Held von Dresden« vernehmen. Er kam gegen diese Mauer der Dominanz seiner Schwester nicht an, fühlte sich hilflos und ausgeliefert.

Manchmal fügte er sich selbst leichte Verletzungen zu, um seinen Geschichten mehr Nachdruck zu verleihen – niemals so, dass es wirklich wehtat, denn vor körperlichem Schmerz hatte er große Angst. Oder er zog ein Bein nach, wenn er aus dem Wald nach Hause kam, spulte mit einstudierter Beiläufigkeit seine Geschichte ab, wie er mit einem Wildschwein aneinandergeraten oder von einem Felsvorsprung gefallen war, nur damit Inge ihm anschließend belustigt hinterherrief: »Gusti, hinken nicht vergessen!«

Familie Bülow erhielt selten Besuch. Waren doch mal Gäste im Haus, betonten seine Eltern immer wieder lauthals, wie sehr Inge dem Vater ähnelte. Gustav fand diese Bemerkungen unerträglich. Er glich angeblich seiner Mutter, dabei hätte er doch auch so gern wie der Vater ausgesehen. Vor dem Spiegel übte er heimlich den ernsten Blick und die würdevolle Haltung seines Vaters, aber so sehr er sich auch mühte, es wollte ihm nicht gelingen. Wie würde er wohl wirken, wenn seine Wangen etwas kantiger wären und nicht so rundlich und mädchenhaft wie bei seiner Mutter? Er versuchte in seinem Mund ein Vakuum zu erzeugen, um so das weiche Wangenfleisch nach innen zu ziehen. Aber so konnte er ja nicht ewig herumlaufen. Vielleicht war es ja einfach nur eine Frage des Alters, wann er es mit dem Äußeren seines Vaters aufnehmen könnte.

Einen Bart würde er sich später wachsen lassen, daran hatte er keinen Zweifel. Wenn er in den Spiegel schaute, was er freilich nur tat, wenn er sich unbeobachtet wusste, versuchte er sich vorzustellen, wie sein Gesicht mit Bart aussehen würde. Er deckte Kinn, Wangen und Oberlippe mit Tüchern und Lappen ab, um dieser Fantasie mehr Realität zu verleihen. Ein wenig schämte er sich für diese Bartschau, denn genau genommen mochte er es überhaupt nicht, sich im Spiegel zu betrachten. Das war etwas für Mädchen. Hätte Vogelscheuche jemals einen Spiegel benutzt? Gustav fand es viel spannender, sich im Wasser eines Baches zu spiegeln, wenn die sich kräuselnden Wellen und die unter der Oberfläche liegenden Steine das Abbild bis zur Unkenntlichkeit verfremdeten. Man brauchte den Kopf nur ein paar Zentimeter nach links oder rechts zu drehen und schon blickte man in ein völlig anderes Gesicht, das eines Trappers oder Beduinen.

Vom Wasser haben wir’s gelernt – wie recht das Volkslied doch hatte. Gustav lernte, lernte und lernte. Er fühlte sich wie ein Mooskissen unten am Zschoner Bach, das sich statt mit Wasser mit Wissen vollsog. Wissen war sein Wasser. Er zeichnete alles auf, ordnete zu, beschrieb. Pilze, Blumen, Zapfen, Gräser, Vögel, Insekten, Fährten, Blätter, Mineralien, Rinden – alles musste erfasst werden. Wer weiß, wofür er diese Aufzeichnungen eines Tages noch gebrauchen könnte, wenn er angesichts von Lämmergeiern oder Seeelefanten keine Zeit mehr hatte, den Flug des Rotkehlchens zu studieren.

Gustav

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