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Siegfried Grosse
− Morgenritual
ОглавлениеIch wache auf.
Durch die Ritzen der Jalousie erhellt die Sonne mein spartanisches Zimmer.
»Sein oder Nichtsein« schießt es mir durch den Kopf.
Hamlet springt aus dem Bett
und windet sich in voller Körpergröße zum Mephisto.
»Ich bin ein Teil von jener Kraft, die stets das Böse will und stets das Gute schafft«.
Wohlan.
Den Weg ins Bad nehme ich als König Lear
in einer vom Alter fürchterlich gebeugten Haltung:
»Du jüngste, nicht geringste«.
Der gütige Satz verleiht mir Kraft.
Ich richte mich auf und schaue in den Spiegel.
»Spieglein, Spieglein an der Wand« höre ich mich äffen.
Soll ich nun den charmanten Märchenprinz abgeben,
der die böse Schwiegermutter verführt?
»Oh nein, oh nein!« Ich reiße voller Entsetzen die Arme in die Höhe,
tue es Michael Kohlhaas gleich,
den das Schicksal erneut gebeutelt hat.
Grimassiere Trauer und Verzweiflung in den Spiegel.
Charakterwechsel. Emotionswechsel.
Ich tänzele in die Küche ganz im Stile Charlie Chaplins.
Mit imaginiertem Stock in der rotierenden Hand.
Bewegung ist alles. Und die habe ich voll drauf.
Ich schaue mich um und höre mich mit heiserer Stimme Satchmo singen:
»What a wonderful world!«
Ja, so souverän kann es weitergehen.
Ich kann überzeugend schauspielern und glänzend singen!
Warum nicht als Graf Krolov im Musical »Phantom der Oper«?
Ich schmettere aus voller Brust »Die unstillbare Gier«.
Ich bin eben auch ein Musicalstar. Und was für einer!
Ich finde mich einfach toll. So Leute wie mich will der Zuschauer haben.
Was bin ich heute wieder gut! Applaus, Applaus!
Beim Gang an den Kühlschrank fällt mir spontan Moliere ein.
Als eingebildeter Kranker krümme ich mich von Koliken geplagt
alleine schon beim Gedanken ans Essen.
Ich zucke und stöhne voll hypochondrisch geimpft
und rufe mit durchdringender Forderung »Jedermann. Jedermann!«
Ich sehe mich auf der großen Bühne in Salzburg.
Natürlich bin ich für die großen klassischen Rollen geboren.
Das Brotmesser in der Hand erinnert mich an Othello. Warum nicht?
Ich bin Othello: »Die Bosheit wird durch Tat erst ganz gestaltet«.
Nahtlos bin ich wie auf das Stichwort bei James Bond.
Ich blase mich auf, befeuchte die Lippen und springe aufs Sofa,
wo ich – inzwischen voll in der Rolle von Tarzan -
Jane aus den Armen des Biestes rette.
Ich trommele wild entschlossen auf die Brust und rufe:
»Ich fühle mich wie neu geboren!"
Energisch spiele ich Riffs auf meiner Luftgitarre
und gröle »We will, we will rock you!«
Das kracht. Das groovt.
Es ist eben alles immer nur eine Frage der Übung.
Und ich bin voll im Saft.
Als junger Liebhaber. Als unwiderstehlicher Don Juan.
Als umschwärmter Popstar. Als Weltstar.
Es ist Zeit für eine Telenovela:
»Irgendwoher kenne ich dich. Wollen wir einen Kaffee trinken gehen?«
Der Spruch ist zwar platt,
ich spreche ihn aber ganz lasziv als Casanova.
Ich bin außer Rand und Band. Meine Gefühle drehen durch.
Volles Adrenalin. Ich wechsele das Fach
und schleiche als fieser Mörder im Regio-Krimi durch den Raum.
Blutrünstig. Unbarmherzig. Mächtig.
Ich stehe regungslos im Flur an der Garderobe
und warte, dass das ahnungslose Opfer den Raum betritt.
Ich starre auf die Tür. Gleich ist es soweit.
Gleich. Ich bebe innerlich. Schnaufe durch.
Ich spüre, dass gleich etwas passiert.
Mein Blick fällt auf die Wanduhr.
11.20 Uhr. Es müsste Zeit sein.
Ende der Vorstellung.
Ich verlasse unvermittelt meine Wohnung.
Der Hausflur ist kalt und dunkel.
Und schmutzig. Die Wände beschmiert.
Niemand unterwegs.
Leise und angespannt schleiche ich die Treppe hinunter.
Zum Briefkasten.
Der Schlüssel dreht sich im kleinen Schloss.
In meinem Kopf hämmert der Satz »The winner is!«
Zittrig klappe ich die Briefkastentür auf.
Leer. Leer. Leer.
Wie kann das sein?
Mein Agent hatte doch für heute einen Brief angekündigt.
Die Einladung zu einem Castingtermin und genaue Infos dazu.
Mein Herz rast. Es pocht bis zum Hals hinauf. Adrenalin pur.
Nein, ich mache jetzt nicht das Rumpelstilzchen.
Vom Theater habe ich für heute genug.
Deprimiert erreiche ich meine Wohnung.
Jetzt spielt Jonny Walker die Hauptrolle.
Und um 12.30 Uhr ist wieder
ein Termin bei der Agentur für Überlebenskünstler.
[aus: Siegfried Grosse »Auch Schritte wachsen – Reibungen und Reifungen« edition federleicht 2018.]