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Sabine Frambach
− Willkommen in Art World!
Оглавление»Zwei Erwachsene, bitte.«
Die Verkäuferin musterte sie durch die Glasscheibe, tastete nach den Eintrittskarten und lächelte. »Willkommen in Art World! Möchten Sie auch den Survival Guide kaufen?«
»Nein, danke. Wir finden uns so zurecht.«
Das Lächeln verschwand. Mit zitternden Händen hielt die Verkäuferin das Heftchen hoch und starrte sie an. Eindringlich flüsterte sie: »Schauen Sie, Hochglanzaufnahmen jeder Attraktion, ein Übersichtsplan, Hinweise und Verhaltensregeln. Ich empfehle Ihnen dringend, den Survival Guide zu kaufen! Erst gestern ist ein unvorsichtiger Besucher in Monets Seerosenteich ertrunken. Unsere Art World läuft außerdem derzeit noch im Test-Modus.«
Das Paar lachte. »Was kostet das Heftchen denn?«
»Dreißig Euro.«
»Dreißig? Nein, wirklich nicht. Wir nehmen nur die Eintrittskarten.«
Die Verkäuferin schob ihnen zwei Karten durch den Schlitz im Fenster.
»Das macht dann zwanzig Euro. Viel Vergnügen in der Art World, Europas erstem Freizeitpark der Kunst. Der Ort, an dem Bilder Wirklichkeit werden!«
Das Paar steckte die Karten ein und ging den staubigen Weg entlang. Die Hinweisschilder wiesen in verschiedene Kunstrichtungen: Impressionisten, Kubisten, Moderne, Expressionisten. Er starrte auf die Begriffe und kratzte sich am Bauch. »Es war deine Idee«, murmelte er. »Wohin möchtest du?«
Sie knuffte ihn sanft in die Seite. »Ein wenig Begeisterung, bitte! Ich brauche das für mein Referat über die Renaissance. Hiermit bekomme ich bestimmt den Schein! Ich will erst in den Hieronymus-Bosch-Garten. Die Figuren sollen so beeindruckend sein!«
»Den Garten der Lüste!« Seine Stimme bekam den Klang nach Zweisamkeit und Federbett. »Wir sind die einzigen Besucher, soweit ich sehe.« Seine Hand tastete unter ihr Oberteil.
Sie kicherte und schob ihn weg. »Lass das, du Flegel!«
Kurz darauf traten sie vor eine Kugel, die sich wie von Zauberhand vor ihnen öffnete und den Blick freigab auf einen Bogen, über dem mit verschnörkelten Buchstaben stand: Garten der Lüste.
Eine riesige Landschaft lag ihnen zu Füßen; in der Ferne sahen sie blaue Berge. Vögel rauschten über ihnen, krächzend flatterten sie durch eine entfernte Skulptur.
Sie trat weiter hinein, als er sie ruckartig zur Seite riss. »Vorsicht!«
Neben ihnen ringelte sich eine Schlange an einem Baumstamm entlang. Sie trat einen Schritt zur Seite und starrte hinauf. »War die echt? Sie sah echt aus.«
Er lachte schallend. »Und das Einhorn da vorne ist auch echt?«
Sie griff nach seinem Arm und folgte ihm in Richtung des plätschernden Wassers. »Das ist fantastisch animiert! Man glaubt, mitten im Bild zu stehen!«
Im selben Moment begann ihr Begleiter, nach etwas zu treten.
»Was hast du?«
Er klopfte seine Beine ab und schaute hektisch um sich. »Da war etwas, es ist an mir hochgekrochen. Schwarz und klein.«
Sie kicherte. »Die gibt es im Bild auch; sie kriechen aus dem Wasser, glaube ich. Offenbar funktioniert diese Animation nicht nur visuell. Ich habe gelesen, dass die Landschaften so authentisch nachgebildet sind, dass unsere Sinne die fehlenden Elemente hinzufügen; wir nehmen auch den Geruch wahr. Ich rieche die …«
»Etwas ist an meinem Bein hochgekrabbelt!«, beharrte er.
»Es ist, als ob du an Läuse denkst und dein Körper den Juckreiz erzeugt. Dein Gehirn vervollständigt das Bild.« Unwillkürlich schrie sie auf. »Ein Elefant!«
Er stürzte, sie fiel auf ihn; der gigantische Fuß strich knapp an ihrem Kopf vorbei, sie spürte den Luftzug und zitterte. Als sie es wagte, die Augen zu öffnen, stand der Elefant friedlich am Wasser und trank.
»Wahnsinn! Täuschend echt!« Sie erhob sich und klopfte die Erde von den Beinen.
Reglos lag er da, die Arme über den Kopf gelegt.
Sie fasste ihn an der Schulter. »Komm, wir gehen weiter!«
Als er sie ansah, ließ sie die Hand sinken. »Hilf mir!«, flüsterte er, und der Klang erinnerte an verwelkte Blumen. Seine Haut färbte sich gräulich; darunter huschten Schatten entlang, ringelten sich über sein Gesicht und verdunkelten seine Augen, füllten sie aus mit sattem Schwarz. Sein Mund war ein endloser Schrei. »Hilf mir!«
Sie taumelte zurück, rannte los, wich der herabbaumelnden Schlange aus und erreichte das Tor. Zunächst prallte sie gegen das Innere der Kugel, doch als sie mit prasselnden Fäusten dagegen schlug, öffnete sie sich und gab den Weg frei. Hektisch zerrten ihre Finger das Handy hervor. Kein Empfang. Sie keuchte, rannte weiter, den Weg zurück bis zum Eingang, dort, wo die Verkäuferin hinter ihrem Schalters saß. »Schnell! Mein Freund, er ist verunglückt!
Wir brauchen einen Notarzt!«
»Ich bedaure. Unsere Anschlüsse sind noch nicht alle ausgebaut – selbst ich kann hier noch nicht senden. Freies W-Lan und einen Notrufknopf finden Sie im Kommunikationsbereich.«
»Wo?«
»Laufen Sie geradeaus über die Edward-Munch-Brücke, dann werden Sie es sehen. Das weiße Gebäude, an dem es Tag und Nacht zugleich ist.«
Sie rannte; das Wasser unter ihr toste, der Himmel tobte, die Sterne glänzten wie erstarrt, alles verschwamm in tiefem Blau. Da sah sie es, direkt vor sich. Sie presste die Hände an ihr Gesicht und schrie.
Die Verkäuferin schüttelte den Kopf. Dieser Themenpark war wirklich ein Reinfall. Reihenweise starben die Besucher; dabei hätten sie wissen müssen, welche Schrecken in der Kunst auf sie warteten. Schrecken, die sich die Natur nicht vorstellen kann, haben die Maler aller Zeiten auf Leinwand gebannt.
Diese Besucher hatten wirklich keine Ahnung, sie rutschten auf den zerflossenen Uhren aus, sie stürzten von unmöglichen Brücken im Escherhaus, wurden von blauen Pferden zu Tode getrampelt. Und die Betreiber des Parks hatten offenbar an Schutzmaßnahmen nicht gedacht. Wie sollte dieser Park dann jemals ein Geschäft werden? Vielleicht wäre es angezeigt, dass sie sich vorsichtshalber schon mal nach einem neuen Job umsah.
Und ihren Survival Guide wollten die meisten Besucher auch nicht kaufen.
»Geizige Kunstbanausen!«, murmelte die Verkäuferin, schüttelte den Kopf und holte einen Eimer, um die Reste von der Brücke zu entfernen.