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Jörg Brixel
− Slow Killer

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Loneliness is the cloak you wear

a deep shade of blue is always there

Der Mond. Der Mond war das wirklich Ungewöhnliche. Als bleicher Tagwächter tauchte er die doch eigentlich eher heitere Szenerie in ein grüblerisches Licht. Einige diffuse schwarze Striche, die aus der Rahmung hinauszuhuschen versuchten (kitschig, dachte Sarah, wie vom Flohmarkt, Deppenornamente, Blumen des Blöden - passend zum Rest, dieser Rahmen), hätten Rabenvögel darstellen können: ein weiterer Gruß der Nacht, wie schon der Mond, in ein Taggeschehen hinein. Aber, dachte Sarah, es waren wohl einfach noch mehr Kleckse eines großen Klecksers. Das war jetzt nicht ganz gerecht, denn im Grunde genommen war das Ganze diszipliniert gestaltet und gerade nicht dahingekleckst, und besagte Striche waren zunächst das einzige, das man als unkontrolliert, schlendrianhaft, von außen kommend hätte empfinden können. Also doch Rabenvögel? Das böse Wort vom Kleckser war Sarah ja auch nur in den Sinn gekommen, weil von der ganzen Machart her etwas Unzeitgemäßes aus dem Ding herausschwitzte, der völlig zu spät tätig gewordene Adept halt, versucht noch wie Böcklin zu malen, während um ihn herum schon Straßenbahnen fahren und Telefone klingeln (und dann auch noch zu feige, die Nacht zu malen, die er ursprünglich, das war ja jetzt wohl offensichtlich, hatte malen wollen).

Nicht, dass Sarah kunsthistorisch sonderlich informiert gewesen wäre, sie selbst wäre nie auf die Idee gekommen, einen Kunstdruck an die Wand zu hängen, sie gab vor nicht zu wissen, was andere Menschen damit bezweckten; aber sie hatte ein feines Epochengespür und eine gute Nase für Prätentiosität, die in diesem Fall reichlich im Spiel gewesen war. Die Wohnung ihrer Freundin, die ähnlich gestrickt war wie Sarah (andernfalls hätte diese dem Wohnungstausch wohl kaum zugestimmt), umgab ansonsten die Anmutung eines Zengartens, wie so viele Behausungen der gutbezahlten und nervösen Arbeitsnomadinnen unserer Zeit; in der Tat ließ der Ikonoklasmus dieser Wohneinheit nur ein weiteres Bild zu: ein hastig an die Küchenwand gepinnter Ausdruck der Köpfe von Sarah und Kendra, die Opfer einer Gesichtertauschsoftware geworden waren.

Das inkriminierte Bild mit dem Mond, vor dem sich Sarah widerwillig immer häufiger wiederfand (einfach um es zu kritisieren, dachte sie zunächst), war also ein absoluter Fremdkörper, aus einer unbegreiflichen Gnade oder Nachlässigkeit heraus hängengelassen. Aber irgendwann sollte Sarah der seltsamen Gedanke heimsuchen, es hätte da schon immer gehangen, jenseits aller Vormieter, wäre der eigentliche Bewohner, und der Rest hätte sich erst drumherum konstituiert.

Was Kendra wohl darüber dachte? Ob sie es überhaupt wahrnahm, die oh so fokussierte Kendra? Sarah hatte es nicht Affäre nennen wollen, für sich nannte sie es gegenseitige Begutachtung (körperlich und in einigen anderen Zusammenhängen), was K. vermutlich abscheulich fände, aber Sarah brauchte einen nüchternen, gewissermaßen technischen Begriff, einerseits weil es ihr ein Gefühl von abgeklärter Gegenwärtigkeit gab, andererseits wollte sie sich nicht zu nah, von romantischem Vokabular umflattert, darauf einlassen; jedenfalls war Zeit für eine Pause, und es war Kendras Idee mit dem Wohnungstausch (ein halbes Jahr plus Kontaktsperre!), und Sarah hatte zugestimmt, gerade weil es absurd war. Vielleicht hatte K. aber doch etwas gespürt, diesen – Magnetismus, diesen irgendwie ungesunden Sog, und warf Sarah bewusst einer noch unbekannten Macht zum Fraß vor. Sarah fand diesen Gedanken erregend. Sie hatte Kendra fokussiert genannt, aber gleichzeitig war sie kaputt. Auf geheimnisvolle und hübsche Weise kaputt, ein bisschen wie Jennifer Jason Leigh. Sie ließ sich auf dem etwas zu weichen, bei der sanftesten Bewegung leicht schmatzende Geräusche absondernden Ledersofa nieder, das jetzt in idealem Blickabstand zu dem Gemälde aufgestellt war, und machte sich auf die Reise. Heute würde sie vom Mond aus starten. Der Mond.

Früher hatte sie bei jeder Gelegenheit auf dieser Bank gesessen, früher, als es noch keiner übermenschlichen Anstrengung bedurfte, die Wohnung zu verlassen. Vielleicht war es der Anblick einer ersten Hummel vom Küchenfenster aus, gepaart mit dem Geruch von Spargelurin (ihrem eigenen, Nigel hatte ihr grünen vom Markt in Notting Hill mitgebracht), der ihr die Kraft gab, sich in den Frühling aufzuraffen und die Tube zum Park zu nehmen. Von hier aus konnte man mitten in der Stadt die Stadt völlig ausblenden und in ein bald pastorales Ambiente eintauchen, Kopfweiden, Schilfrohr, Schwäne, die von Zeit zu Zeit bösartige Geräusche ausstießen (ihrem Sofa nicht unähnlich), das volle Programm. Einmal hatte sie eine Schildkröte beobachtet und versucht, ihr Zeitlupendasein in sich aufzunehmen, Stunden verbrachte sie damit; ein anderes Mal hielt ihr jemand eine ziemlich große, silbrig schimmernde Muschel entgegen, die er angeblich aus dem Teich gezogen hatte. Aber ihr absoluter Favorit waren die Teichhühner, die, einem unbekannten Muster folgend, das Teichufer entlang irrlichterten (im Wasser waren sie so gut wie nie zu sehen, und wenn doch, sah es wie ein Versehen aus), irgendwie ähnelten sie Geheimnisträgern, nonchalante, verwirrte Todesengel. Sarah kam eine Geschichte in den Sinn, worin es um eine Art Hexenwettbewerb ging, und ein Zauber (es wurden wirklich erstaunliche Dinge gezaubert) bestand darin, Entenküken untergehen zu lassen. Total krank.

Krank sah auch der Typ aus, der sich jetzt der Bank näherte, ruckartige, koboldhafte Bewegungen, womöglich einem Bandscheibenleiden geschuldet, ein amateurhaft gefertigtes Batikshirt, Bermudashorts. Mein Gott, wehe, diese Kreatur spricht mich an. Aber Gott hatte ein Einsehen und ließ die Kreatur vorher abbiegen, und mit kosmischer Unbeholfenheit näherte sie sich dem Teichrand. Der Typ kniete nieder, als wollte er ein Gebet sprechen, und tunkte seinen hirnverbrannten Schädel in die entenkotgesättigte Flüssigkeit. Trank er etwa? Schnell steckte Sarah eine Salzmandel in den Mund (sie trug stets eine Tüte mit sich, etwas anderes bekam sie momentan kaum runter, na gut, der Spargel), damit ihr bei dem Gedanken nicht schlecht wurde. Oder war er Quasimodo als Narziß? Doch dann, nach längerer Beobachtung, begriff sie: Dies war eine Art Übergangsritual, von einem Element in das nächste, der Typ hatte sowas ähnliches wie ein Portal gefunden

Für eine Sekunde schloss Sarah die Augen. Sofort erschien die vertraute unheimliche Landschaft, wie hatte sie sie bloß jemals heiter nennen können, und sie begann sich zu kräuseln wie der Teich, und warum nicht auch einfach mal den Kopf hineintunken? Ein auf unangenehme Weise süßlicher Geruch breitete sich aus. Als Sarah die Augen wieder öffnete, war der Priester verschwunden und die Wasseroberfläche völlig glatt, wie eine Leinwand, bereit für den nächsten aufsehenerregenden Wasservogelstart. Sarah würde nie wieder in ihren Park zurückkehren. Auf der Rückfahrt in der U-Bahn saß ihr ein Inder mit einem übergroßen, freundlichen Gesicht gegenüber. Er schaute sie an, als würde er sie kennen, nur als jemand anderen.

Vor ihrer Haustür auf dem Trottoir erwartete sie eine obszöne Zeichnung, mit blauer Pastellkreide ausgeführt; wobei, von den Dimensionen her war die Zeichnung eher für die Augen von Göttern als die von Menschen bestimmt, erst vom zweiten Stock aus erkannte Sarah, was es darstellte. Vielleicht mögen die Götter ja das Obszöne, falls sie es erkennen.

Man hätte nichts merken müssen, und die meisten merkten auch nichts. Sarah funktionierte, sie applaudierte irgendwelchen Filmchen in den sozialen Netzwerken und reichte sie brav weiter. Es war für sie nicht ungewöhnlich, sich mehrere Wochen nicht blicken zu lassen, und ihre Freunde waren feinfühlig genug, eine verlängerte Winterdepression zu respektieren. Einmal hatte sie Gareth auf eine kleine Party in Islington mitgenommen, und Sarah kam sich sogar einigermaßen geistreich vor, obwohl sie sich fühlte, als müsste sie jede Bemerkung aus einem hunderte Meter tiefen Brunnen hervorholen. Sie brauchte eine Woche, um sich davon zu erholen. Es hätte sie nicht weiter gewundert, ein angegammeltes Kaninchen in ihrer Handtasche vorzufinden. Aber Kaninchen können auch Wegweiser sein. Es gibt fraglos Situationen, in denen nur noch ein Tier weiterhelfen kann, darum ist ihnen in dieser Geschichte ein Platz zugewiesen worden.

Die Exkursionen in das, was sie früher arglos ein Gemälde genannt hatte, als Obsession zu bezeichnen, hätte noch zuviel Platz für eine Distanziertheit gelassen. Gerade betrachtete sie die, wie es schien, einzige menschliche Gestalt in der ganzen Veranstaltung: einen Sikh mit, wie auch anders, verschränkten Armen und kunstvoll gestaltetem Turban, der vor der Mauer, die das gesamte Bild durchzog, postiert war wie ein Türsteher; allerdings konnte Sarah beim besten Willen keine Tür erkennen, sie hatte es aus quasi allen Perspektiven ausprobiert. Fast war sie froh: der Gedanke an eine Tür in der Mauer wäre zuviel für sie gewesen, bei all der Permissivität, die auch ohne Tür schon zu Tage trat. Jedes Mal, wenn ihr Blick den des Sikh traf, wendete sie sich ab. Ein Fleck auf dem Mauerwerk, von Glyzinien umrahmt, den sie früher übersehen hatte und der auf den ersten Blick als abstrakte, der Gesamtkomposition geschuldete Farbsprengsel durchgehen konnte, stellte sich als psychedelisches Plakat heraus, mit menschlichen Köpfen und angeberisch verschwurbelten Schriftzügen, eine Werbung eventuell für ein Event jenseits der Mauer? Und der gestrenge Sikh würde tatsächlich den Eingang kontrollieren? Würde Sarah vor seinen Augen Gnade finden?

Irgendwann fiel Sarah auf, dass sie sich noch nie gefragt hatte, wer der Urheber war. Immerhin handelte es sich um ein Original eines zwar deutlich epigonenhaften, aber doch handwerklich und gestalterisch begabten Künstlers. An manchen Stellen quoll einem die Farbe förmlich entgegen. Auch der versierte Nigel, der an mittelgroßen Auktionen mitarbeitete und sich eine lustlose Expertise abgerungen hatte (er hatte es, strangely enough, ein »Seestück« genannt, Sarah hatte da nicht nachgehakt), wollte diesbezüglich nicht spekulieren. Rechts unten, wo man die Signatur vermuten durfte, war zunächst nichts zu sehen; eine genauere Untersuchung brachte ein paar krümelartige Zeichen hervor, gewissermaßen im Unterholz verborgen, irgendwas zwischen Runen und Termiten. Reine Kaffeesatzleserei, daraus Initialen zu basteln. EAP? HPL? GKC? HGW? RLS? Nein, es waren nur zwei Zeichen... Das erste, da war Sarah sich jetzt sicher, konnte nur ein K sein, das zweite... Moment... es wäre zu grotesk... Fast schien es, als wäre das Zeichen lebendig geworden und würde sich heimtückisch zu dem Buchstaben formen, den Sarah am wenigsten sehen wollte, nicht sehen wollte, einfach um einen fernen absurden Verdacht zu zerstreuen, der aber gewissermaßen durch den Akt des Zerstreuenwollens erst entstanden war. Kein S. Kein S. Kein S.

Aber das Seltsamste kam ja noch. So wie in der Kryptozoologie nach Jahrhunderten der Klassifizierungsarbeit immer noch wie aus dem Nichts neue Walarten entdeckt werden, hatte sie bei ihrem monatelangen Starren das Offensichtliche anscheinend übersehen. Über den Elefanten im Raum unterhält man sich ja auch nicht. Für Sarah war es zu groß. Es gibt Elefanten, die durch die Träume unserer Mütter trampeln. Unsere Mütter waren vielleicht noch stark genug, wir sind es nicht mehr.

Als man ihren leblosen Körper fand, hatte sie das Lächeln der Portalsseligkeit auf den Lippen und das Dunkel des Turmalin in ihren Augenhöhlen. Die Krähen waren inzwischen wieder zurückgeflogen. Der ältere Officer erzählte was von einer leicht defekten Gasleitung und schleichender Vergiftung und so, und der jüngere meinte, na gut, aber das hätte sie doch riechen müssen, und der ältere meinte, na gut, Pollensaison, Nase zu, was weiß denn ich, und der jüngere, aber die Augen, mein Gott, was ist denn mit den Augen, und der ältere, hast du überhaupt mitgekriegt, das ist nicht die Dame, die hier gemeldet ist. Das ist nicht Sarah Lowery. Laut mitgeführtem Bibliotheksausweis handelt es sich um eine gewisse Kendra Smith.

Der jüngere Officer kniete an Kendras Seite nieder, und sein Blick fiel auf eine Tüte angebrochene Salzmandeln, die ihr wohl aus der Hand gefallen waren. Ohne groß nachzudenken, hob er sie auf und wog sie in seiner Hand, als könnte ihr Gewicht irgendwas erklären.

Vladimir Nabokov, der Schmetterlingsliebhaber, hat wohl mal eine Art beschrieben, deren Strategie gegen ihre Fressfeinde der spontane Farbwechsel war. Auch nach dem Verschwinden der Feinde vollzog der Schmetterling diese Farbwechsel noch, aus »reiner Lust an der Transformation«, wie der zum Ästhetizismus neigende Russe notiert. Vielleicht war dieser Fall ja ähnlich gelagert. Aber wer waren Kendras Fressfeinde gewesen?

Kunst-Kurz

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