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2. Kapitel 2
ОглавлениеSighold
Der kleine, grob gearbeitete Pavillon, unter dem Charis von Stennward seit einer Weile in engen Bahnen auf und ab ging, lag am Rande einer lichten Waldung, gerade noch in Sichtweite der Festung des Königs. Es war ein schmuckloser Bau, der zwischen den kahlen Birken und vereinzelten Eichen ebenso tot wirkte, wie die Bäume selbst. Raues Holz war zweckdienlich und robust zusammengehauen worden, und bot leidlich Schutz vor der Witterung. Vor nicht allzu langer Zeit wäre es der Königin kaum möglich gewesen, allein und unbemerkt hierher zu kommen. Seit Generationen waren keine Wegelagerer oder Feinde des Königs mehr so nahe an die Burg und Hauptstadt herangekommen. Trotzdem hätte Randolf ein solches Risiko für einen Angehörigen seiner Dynastie noch vor Kurzem nie zugelassen. Mittlerweile waren die Tage, an denen die Mitglieder der Familie derer von Stennward nur unter Bewachung die schützenden Mauern der Heimstatt verlassen durften, vorbei. Etwas Besseres, als das uns irgendein Lump auf offener Straße erschlägt, kann ihm gar nicht passieren, dachte Charis. Aber den Gefallen wird ihm kaum jemand tun.
Inzwischen konnte die Königin sich so frei in und um Sighold und selbst der Stadt bewegen, wie nie zuvor. Sie hatte die Wachen schon vor Wochen angewiesen, ihr keine Eskorte mehr an die Seite zu stellen, wenn sie die Burg verlies. Dem Befehl war nachgekommen worden, und weder Randolf noch van Dahlenbrugge oder sonst jemand, hatte ein Wort darüber verloren. Auch die Ausfahrten von Benjamin und Griselda gingen inzwischen unbewacht vonstatten. Was Ginevra anging, hatte sie sich bei ihren Ausritten ohnehin stets ein Maß an Freiheit herausgenommen, von dem andere Töchter der Aristokratie nur träumen konnten. Nicht herausgenommen, korrigierte sie sich stumm, diese Freiheit hat sie sich erkämpft. Und es erfordert Tapferkeit, gegen einen Vater wie Randolf zu kämpfen. Vielleicht mehr, als auf so manchem Schlachtfeld einem Feind gegenüberzutreten.
Was Schlachtfelder anging, so wusste Charis aus eigener Erfahrung nichts über sie. Schon bald würden sie allerdings eine gewichtige Rolle für das Königreich spielen. Als sie vom nahenden Krieg mit Norselund in Kenntnis gesetzt wurde, waren unterschiedliche Gefühle in ihr hochgestiegen. Keines davon war sonderlich angenehm. Der dumpfe Schrecken, den jeder normale Mensch im Angesicht eines Krieges seines Landes empfindet, wurde gefolgt von der Angst um die eigene Familie. Die Lage, in der sie sich durch Benjamins Zustand befanden, war heikel genug.
Als sie erfahren hatte, dass Randolf gedachte, persönlich nach Norselund zu reisen, war sie unsicher gewesen, ob sie den Krieg als eine Chance sehen durfte. In dem unwahrscheinlichen Fall, dass der König fiel, würde Benjamin ihm auf den Thron folgen. Diese schwache Hoffnung hatte jedoch nur kurz zur Linderung ihrer Sorgen beigetragen. Allzu bald wurde ihr klar, wie wackelig ein Thron mit einem König stehen würde, der gleichzeitig so blutjung und so todkrank war. Es hatte in der Geschichte einige junge Könige gegeben, nicht zuletzt Randolf selbst. Auch von schwerer Krankheit oder Verletzung gebeutelte Regenten hatten das Vermächtnis von Stennward nicht nachhaltig zu schwächen vermocht. Kam aber beides zusammen und nahm man die instabile Lage des Reiches hinzu, war die Zukunft bestenfalls gefahrvoll und unsicher. De Bois Guilbert würde vermutlich loyal sein, wenn man eine Hochzeit zwischen seinem ältesten Sohn und Ginevra arrangierte. Alle anderen, die Herzögen wie auch Kirche und Orden, waren wesentlich unberechenbarer.
Sie seufzte tief und versuchte, ihre Gedanken zu reinigen, um sich ganz auf das bevorstehende Treffen konzentrieren zu können. Sie quälte sich seit Wochen mit diesen Problemen, ebenso in zahllosen Stunden allein mit sich, wie auch in Gesprächen mit Mina, die nach wie vor ihre einzige echte Vertraute war. Ohne konkrete Anhaltspunkte zu haben, glaubte sie zu spüren, wie sich die Schlinge um ihren Hals langsam enger zog. Und damit auch um die ihrer Kinder. Sie hatte gemeinsam mit Mina beschlossen, dass es an der Zeit war, Ginevra zumindest teilweise einzuweihen. Sie würde erst ausloten müssen, wie viel von ihren Ängsten sie mit der jungen Frau teilen konnte. Und wie viel, oder ob überhaupt, sie in die Vorbereitungen eingeweiht werden sollte, die getroffen worden waren.
Charis war ob der Entscheidung hin- und hergerissen. Zum einen widerstrebte es ihr zutiefst, ihre Tochter mit diesen Sorgen zu belasten. Sie wusste, dass ihr Leben auch ohne dies nicht leicht war und ahnte, wie sehr sich Ginevra davor fürchtete, was das Erwachsenwerden ihr bringen mochte. Nur eine Närrin würde das an ihrer Stelle nicht tun, dachte sie, und wenn mein Kind auch ein seltsames Geschöpf ist, eine Närrin war sie nie. Sie glaubte nicht, irgendein Kind zu kennen, dass weniger naiv war als ihre Tochter. Aber vielleicht, hoffte sie im Stillen, werden die übertriebene Ernsthaftigkeit, ihre geistige Frühreife und ihr Hang zur Melancholie und Bitterkeit ihr noch gute Dienste leisten. Für eine Prinzessin oder Herzogin sind diese Wesenszüge wenig dienlich, aber das Leben, dass ihr und uns unter Umständen bevorsteht, mag gänzlich andere Anforderungen stellen.
Trotz des Wunsches, die Tochter vor den schreckensvollen Realitäten zu schützen, verspürte sie auch eine vage Hoffnung auf Erleichterung. Sie war es müde, diese Dinge nur mit Mina besprechen zu können. So sehr sie den Beistand und die Unterstützung der Freundin schätzte, schmorten sie doch seit Monaten nur gemeinsam im eigenen Saft. Sie hatten mit der Anwerbung der Söldner längst alles getan, was in ihrer Macht stand. Was danach folgte, war nur endloses Warten und nach Anzeichen dafür Ausschau halten, dass ihre Befürchtungen sich bewahrheiteten. Die Tatsache, dass ihre akute Sorge um das Leben des Prinzen seit geraumer Zeit vorbei war, brachte nur wenig Linderung. Noch immer schmerzte es sie, ihren Sohn in diesem schwächlichen Zustand zu sehen. Es schien ihr oft, als wäre er während seiner Erkrankung um 60 Jahre gealtert. Sowohl seine körperliche Verfassung wie auch die ironische Melancholie, die ihn stets umfing, ließen ihn mehr wie einen greisen Vater, denn wie einen Sohn wirken.
Charis hielt in ihrem gleichmäßigen und rastlosen Herumstreunen inne. Sie zog den Kragen des langen, gefütterten Mantels enger um ihren Hals und kniff die Augen zusammen. Einen Augenblick später erkannte sie, dass sie sich nicht geirrt hatte. In der Ferne kam ein einzelner Reiter auf sie zu. Ginevra musste die Burg wie üblich über die hinteren Ställe gen Nordosten verlassen haben. Von dort aus war sie ein Stück nach Norden geritten, in die Richtung, in der sie für gewöhnlich ihre Ausritte absolvierte. Danach hatte sie eingeschwenkt und kam jetzt auf die kleinen Wäldchen zu. Diese Gegend war jene, in der Griselda und Benjamin zumeist mit dem Wagen ausfuhren. Es war früher Mittag, und der Prinz würde ruhen. Außer den Mitgliedern der königlichen Familie hielt sich in diesen Ländereien so nahe der Burg nur selten jemand auf. Die Straße, die von Westen her an Sighold vorbei und zu den Toren der Hauptstadt führte, verlief einige Landmeilen entfernt.
Mit gemischten Gefühlen beobachtete sie, wie ihr ältestes Kind auf sie zuritt. Als Ginevra näherkam, erkannte sie, dass sie wie üblich ihre Reithosen trug und das Pferd ritt wie ein Soldat. Sie trug kniehohe Stiefel, grobes Hemd und Jacke und darüber einen schlichten, gefütterten Umhang. Der Winter würde bald auf dem Rückzug sein, aber noch klammerte er sich erfolgreich an das gefrorene Land. Die letzten Tage waren zumindest frei von Schnee gewesen und die Kälte war beißend, aber trocken. Sogar der Wind war heute gnädig gestimmt und verschärfte die klirrende Luft nicht zusätzlich. Es war im Grunde kein schlechter Winter gewesen, kam es Charis in den Sinn, obwohl er so bitterkalt war. Vielleicht erschien er den Menschen auch nur als Gnade, weil er die Ausbreitung der grauenvollen Krankheit gestoppt zu haben schien. Eine weitere Angelegenheit, über die sie tunlichst nicht ständig nachzudenken versuchte.
Sie ist gerade fünfzehn Jahre alt, dachte die Königin, als ihre Tochter nahe genug war, dass sie eben noch ihr Gesicht erkennen konnte. Sie wirkt nicht nur vom Wesen älter, sie sieht auch so aus. Wenn ich es nicht besser wüsste, würde ich sie keinen Tag jünger als zwanzig schätzen. Ist es möglich, dass die Bitterkeit einem so jungen Menschen schon das Gesicht zeichnet? Ach Gin, du bist wirklich nie für dieses Leben gemacht gewesen. Ich hätte dir so gerne geholfen, aber es gab nichts, was ich tun konnte. Du wärst ein glücklicheres Mädchen gewesen, wenn ich dich nach deiner Geburt in die Hände einer wohlhabenden Familie von Gutsbesitzern gegeben hätte.
Charis schluckte schwer bei diesem spontanen Gedanken. Sie machte sich keine Vorwürfe, was ihre Tochter anging, doch es war ein bitterer Gedanke für eine Mutter. Er wog umso schwerer, weil er der Wahrheit entsprach. Andererseits, kam ihr in den Sinn, wird sie vermutlich besser mit der Situation klarkommen als sonst jemand von uns, wenn wirklich alles in die Brüche geht. Ein Leben auf der Flucht erscheint mir unerträglich, während es für sie vielleicht eine Erleichterung sein wird.
Ihre Gedanken wurden von dem leisen Wiehern ihres Pferdes unterbrochen, das den Einspänner zog, mit dem sie hergefahren war. Der Schimmel, der in der verschneiten Landschaft beinahe zu verschwinden schien, stampfte in seinem Zaumzeug mit den Hufen. Er schaute dem Neuankömmling offenbar erwartungsvoll entgegen. Ginevra, die ihr Pferd im leichten Galopp über die schneebedeckte Wiese hatte laufen lassen, drosselte jetzt das Tempo. Charis sah, wie ihre tiefgrünen Katzenaugen aufmerksam herumhuschten und den Rand des Wäldchens überflogen. Bevor sie das Tier in einem Kantern auslaufen ließ, warf sie einen Blick zurück und auf die umliegende Landschaft. Schließlich hob sie eine Hand zum Gruß und brachte die wallnussbraune Stute neben dem Gespann und dem erfreuten Schimmel zum Stehen.
Sie ist unglaublich vorsichtig, dachte Charis. Was in gewisser Weise verständlich ist, weil die Art dieses Treffens sie verwirren muss. Es ist das erste Mal, dass ich darum gebeten habe, sie hier draußen zu treffen. Heimlich und außerhalb der Mauern von Sighold. Sie muss wissen, dass es um nichts Gutes gehen kann. Wer weiß, wie viel von dem, was vor sich geht, sie schon ahnt oder sich selbst zusammengereimt hat. Diese instinktive Vorsicht mag natürlich auch einfach daher rühren, jemanden wie Randolf als Vater zu haben. In dieser Familie ist ein gewisses Maß an Paranoia wohl unausweichlich.
Ginevra glitt vom Pferd und machte ihre Zügel lose an dem Einspänner fest. Sie tätschelte ihrem Pferd den Hals und kam dann zu Charis herüber.
»Eine eigenartige Einladung zu einem Treffen, Mutter«, sagte sie, während sie unter den dürftigen Schutz des Pavillons trat. »Und ein ungewöhnlicher Ort.«
Charis hatte Melina gebeten, ihrer Tochter erst kurz vor ihrem täglichen Ausritt die Nachricht zu überbringen, in der sie um eine Zusammenkunft an diesem Ort bat. Sie selbst hatte Sighold zu der Zeit bereits verlassen. Vermutlich war dieses Vorgehen übertrieben vorsichtig. Womit wir wieder bei der Paranoia wären, dachte die Königin. Aber lieber paranoid als tot. Die eigene unsichere Lage hatte ebenso dazu beigetragen, wie die angespannte Atmosphäre der letzten Wochen innerhalb der Mauern der Burg. Die Wände in Sighold hatten schon immer Augen und Ohren gehabt. Sie konnte sich nur zu gut vorstellen, dass sie derzeit in besonderem Maße geschärft und gespitzt waren. Und nicht zuletzt vornehmlich auf ihre Person ausgerichtet.
»Was ich mit dir besprechen möchte, muss unter uns beiden bleiben«, erwiderte Charis. »Du weißt, dass man sich dessen in unserem Zuhause nie ganz sicher sein kann. Dieser Tage weniger denn je.«
»Ich würde nicht so weit gehen, es ein Zuhause zu nennen«, gab Ginevra trocken zurück. »Wenn es so wichtig und heikel ist, wird es wohl bedeuten, dass mein Vater endlich zu einer Entscheidung gekommen ist, was?«
Sie sprach das Wort »Vater« mit solcher Verachtung aus, dass es beinahe wie ein Schimpfwort klang. Charis fühlte sich gleich in mehrfacher Hinsicht überrumpelt, riss sich aber sofort zusammen.
»Wie meinst du das, zu einer Entscheidung worüber?«, fragte sie mit so ruhiger Stimme, dass sie selbst überrascht war.
»Ach Mutter«, seufzte Ginevra und lehnte sich mit den Ellenbogen auf das Geländer der Pavillons. Sie war eine Handbreit größer als die Königin, doch nun befanden sich ihre Augen auf gleicher Höhe. Das Maß an Müdigkeit und Resignation, dass Charis in den smaragdgrünen Augen ihrer Tochter sah, stand ihrem eigenen Befinden um nichts nach.
»Ich bin jung, aber nicht blöd«, fuhr Ginevra fort. »Ich weiß, was für ein Problem für die Thronfolge Benjamins Zustand bedeutet. Wenn er kurz nach dem Biss gestorben wäre, würden wir hier heute vielleicht schon nicht mehr stehen. Und so, wie er geworden ist, dürfte er kaum in der Lage sein, um dem König auf den Thron zu folgen, selbst wenn er so lange leben sollte.
Wir sind Ballast und eine Gefahr für die ach so heilige Dynastie von Randolf. Er hat in solch einer Situation noch nie lange gezögert. Und die Tatsache, dass Skrupel diesem Mann fremd sind, brauche ich dir wohl nicht in Erinnerung zu bringen, du hast schließlich das Missvergnügen, ihn länger zu kennen als ich. Worum ich dich nicht beneide.«
Der Graben zwischen den beiden ist noch tiefer und endgültiger, als ich vermutet habe, dachte Charis. So traurig das für uns als Familie sein mag, ist es vielleicht genau das, was uns jetzt retten kann. Oder zumindest das, was sie retten kann.
»Ich wusste nicht, dass du dir um diese Dinge Sorgen machst«, sagte Charis traurig. »Hätte ich das geahnt, hätten wir früher darüber sprechen können. Ich wollte dich nicht zusätzlich belasten. Es war offensichtlich, wie sehr dich Benjamins Zustand mitgenommen hat.«
»War es das?« Ginevra runzelte die Stirn und sah für einen Augenblick wieder so alt aus, wie sie tatsächlich erst war.
Charis lächelte dünn. »Nun, zumindest für mich. Du bist ein verschlossenes kleines Ding geworden, aber ich bin immer noch deine Mutter. Anderen ist es vielleicht nicht so sehr aufgefallen. Darüber gesprochen hast du ja mit niemandem. Jedenfalls nicht mit mir.«
»Du schienst auch genug zu tun zu haben«, gab Ginevra abweisend zurück, lächelte aber, als sie weitersprach. »Außerdem habe ich im Laufe der Jahre festgestellt, dass es mir am besten bekommt, wenn ich die Dinge mit mir selbst ausmache. Das ist mir bis jetzt immer gut bekommen.
Aber du hast mich nicht zu einem Gespräch zwischen Mutter und Tochter hierherbestellt. Jedenfalls zu keinem der Art, in die sich das hier zu entwickeln droht. Sag mir bitte, worum es geht. Viel schlimmer als die Möglichkeiten, die ich mir in den letzten Monaten ausgemalt habe, kann es kaum werden, glaub mir.«
Charis schluckte schwer und nickte. Tatsächlich hatte sie sich das hier als eine Art Gespräch von Mutter zu Tochter vorgestellt. Nun schien es fast, als entwickle es sich eher zu einer Diskussion auf Augenhöhe. Doch auch wenn es sie ein wenig aus der Fassung brachte, konnte das von Vorteil sein. Je realistischer Ginevra die Dinge sah, umso deutlicher war sie sich der Tatsache bewusst, wie wichtig Stillschweigen war und wie sehr ihre Zukunft davon abhing, dass sie kooperierte.
»Ich weiß nicht, wie weit du über die Pläne des Königs informiert bist, was den bevorstehenden Angriff auf Norselund betrifft«, sagte sie schließlich.
»Soweit ich es mitbekommen habe, landet die Flotte aus der Nordmark vor den anderen, um den Weg für die Heere zu bahnen«, erwiderte Ginevra. »Vater gedenkt, persönlich mit dem Hauptteil der Truppen zu landen und die Schlachten selbst zu leiten. Das ist alles, was ich in Erfahrung bringen konnte. Vielleicht haben wir ja Glück, und diese blassen Riesen erschlagen ihn. Wenn ich an unser kurzes Treffen mit den Jarlen vor dem letzten Lebensfest denke, möchte ich nicht gegen ein ganzes Heer von denen stehen.«
Erneut rang Charis um Fassung und ein spöttisches Lächeln ihrer Tochter zeigte ihr, dass sie ihre Reaktion diesmal nicht ganz hatte verbergen können.
»Geht dein Hass auf deinen Vater tatsächlich schon so tief?«, fragte sie leise. Ihr Ton war sanft und ohne eine Spur von Vorwurf, worauf hin das Lächeln von Ginevra traurig wurde. Ihre Augen funkelten dabei so kalt wie grüne Bergseen.
»Das ist es nicht einmal«, sagte sie. »Aber wenn ich schon irgendwann durch einen Dolch im Rücken oder ein Gift in meinem Essen jung sterben soll, währe es mir lieber, dass es von einem der Herzöge kommt, als von meinem eigenen Vater.
Schau nicht so, ich kenne Randolf ebenso, wie du es tust. Und wie ich schon sagte, bin ich nicht dumm. Ich weiß gut genug, wie es im Reich steht, um zu wissen, dass selbst ein früher Tod von Randolf in der Schlacht unsere Lage nicht viel besser machen würde. Wenn Benjamin gesund wäre, hätten wir vielleicht eine Chance. Er ist viel zu jung, aber mit dir, van Dahlenbrugge und der Unterstützung durch die Kirche könnte es reichen. Ich müsste vermutlich schnell einen der herzöglichen Söhne heiraten, die ich alle gleichermaßen verabscheue, aber wir würden es irgendwie überleben.
So, wie Benjamin jetzt ist, stünden unsere Chancen ohne Randolf nicht besser, als mit ihm. Und ich kann mir auch vorstellen, wie sich ein Krieg auf das Reich auswirkt, selbst wenn er an den Ufern von Norselund geschlagen wird. Schließlich wir der König mehr als tausend Landmeilen weit weg sein. Welcher Zeitpunkt wäre besser geeignet, um sich um uns zu kümmern?
Ein Rückfall der schrecklichen Krankheit für Benjamin, ein Reitunfall für mich und was immer man sich für dich ausdenken mag. Vielleicht sind erst Benjamin und ich dran, und du nimmst zwei Wochen später aus Verzweiflung um deine toten Kinder Gift? Ich bin sicher, Randolf hat genügend Männer mit ausreichend Phantasie und Möglichkeiten. Van Dahlenbrugge sehe ich da ganz oben auf der Liste. Und wenn es stimmt, dass de Bois-Guilbert den König in dessen Abwesenheit vertritt, haben sie doch alle völlig freie Hand.«
Sie stieß sich von dem Geländer ab, ging einige Schritte weiter und wand sich dann zu ihrer Mutter um. Sie verschränkte die Arme vor dem Körper und presste sie gegen die Kälte so fest an den Leib, wie sie konnte.
»Waren das die Dinge, über die du mit mir sprechen wolltest?«, fragte sie mit einem müden Lächeln.
»Das waren die Dinge, von denen ich erwartet habe, sie dir zunächst erklären zu müssen«, gab Charis gefasst zurück. »Jedenfalls teilweise. Ich dachte mir, dass du einiges davon ahnst, aber ich wusste nicht, wie klar du all das siehst. Ich weiß, dass wir ... das du vieles für dich behältst. Vielleicht hätte ich eher mit dir darüber sprechen sollen, aber ich wollte wirklich nur ...«, sie stockte, als Ginevra eine Hand hob.
»Es ist gut«, sagte sie. »Lass das, Mutter. Ich komme mit meinem Leben zurecht, so gut es geht. Ich muss das auf meine Weise tun. Wie du siehst, brauchst du mir nicht viel zu erklären. Aber was wolltest du mir dann sagen? Ich habe mir lange genug den Kopf zerbrochen, ohne eine Lösung für unsere Lage zu finden. Ich bin für jeden Vorschlag dankbar. Viel schlimmer kann es für uns drei nicht mehr werden.«
Charis ließ für einen Moment den Kopf sinken und schloss die Augen. Für einen kurzen Augenblick kämpfte sie gegen die Tränen, bis sie sich wieder gefasst hatte. Die Mischung aus Bitterkeit, stiller Verzweiflung und Resignation, die sie an ihrer Tochter spürte, schnitt wie eine Klinge in ihr Herz. Ich hätte viel früher mit ihr sprechen sollen, schalt sie sich. Ich darf sie diesen Panzer, den sie sich geschaffen hat, nicht auf Dauer so tragen lassen. Sie stirbt sonst darin. Ich werde das ändern, wenn wir das hier überstanden haben. Noch ist er ihr von Nutzen, aber wenn sie ihn so weiterträgt, wird sie daran ersticken.
Sie hob den Kopf und schlug die Augen auf. Dankbar dafür, dass sie trocken waren, fixierte sie den Blick ihrer Tochter.
»Du hast recht mit deiner Einschätzung unserer Lage«, sagte sie. »Es spielt im Grunde keine Rolle, ob Randolf bei der Invasion von Norselund fällt oder nicht. Unter Umständen droht uns schon Gefahr, während er noch auf dem Weg zur Küste ist. Obwohl ich davon ausgehe, dass wenn etwas passiert, damit gewartet wird, bis er mindestens das Festland verlassen hat. Und wenn er nicht zurückkommt, sehe ich unsere Situation durch Benjamins Zustand ebenso ausweglos, wie du es tust.
Ich habe diese Entwicklung schon ab dem Zeitpunkt befürchtet, da dein Bruder erkrankt ist. Damals habe ich mit Mina lange über einen Ausweg gegrübelt. Sie ist die Einzige, der ich mich anvertraut habe. Ich wollte dich so lange wie möglich außen vor lassen, damit du dir nicht ebensolche Sorgen machst wie ich. Ich hatte gehofft, du würdest die Dinge nicht ganz so schnell und ganz so klar erkennen. Jedenfalls haben wir schon seit Monaten behutsam Vorkehrungen für eine Flucht getroffen. Ich möchte dich jetzt einweihen, damit du weißt, was zu tun ist, wenn es so weit ist.«
»Ich bin ganz Ohr«, sagte Ginevra. »Aber wie sollte das mit Benjamin während einer Flucht auf Dauer funktionieren.«
»Es wird irgendwie gehen müssen«, sagte Charis entschlossen. »Denn einen anderen Ausweg als diesen gibt es nicht. Anfangs bin ich davor zurückgeschreckt, weil es Benjamin noch so schlecht ging. Inzwischen kann er ein wenig alleine gehen und er ist kräftig genug für Ausfahrten. Wir werden einen Wagen benötigen, aber es wird gehen müssen.
Mina und ich haben schon vor Monaten, mit Hilfe eines Freundes von ihr, eine kleine Gruppe Söldner angeheuert. Es sind keine besonders guten Leute, aber relativ zuverlässig. Dankbar könnte man es wohl eher nennen. Sie sind alt, aber wir werden sie hoffentlich auch nicht zum Kämpfen benötigen. Wir haben sie in der näheren Umgebung von Sigholm untergebracht, wo sie versorgt werden und darauf warten, dass wir sie brauchen. Wenn es so weit ist, werden sie dich, mich, Benjamin, Mina und Griselda, wenn sie mitkommen möchte, aus der Stadt bringen.«
Die Tatsache, dass ich dich mit dem einzigen zuverlässigen Mann alleine weiterziehen lassen werde, sobald sich die Gelegenheit bietet, ist für den Moment unwichtig, dachte sie. Das wirst du erst in dem Augenblick erfahren, wenn es so weit ist. Und selbst dann wird es schwer genug werden, deinen Sturkopf zu überrumpeln.
Ginevra runzelte die Stirn und sah ihre Mutter einen Moment lang stumm an.
»Das ist ein etwas abenteuerlicher Plan«, meinte sie schließlich nachdenklich. »Aber andererseits ist die Situation auch alles andere als normal. Wie stellst du dir das vor, mit der Flucht an sich, mit dem Aufbruch? Willst du, dass wir uns irgendwann nachts aus Sighold schleichen? Wie sollte das unbemerkt funktionieren bei den straffen Wachplänen? Ich glaube kaum, dass es im Reich einen Ort gibt, der besser bewacht wird als diese Festung.«
»Das ist der kritische Punkt in dem Plan, unbemerkt aus der unmittelbaren Umgebung von Burg und Stadt zu kommen. Dafür habe ich auch noch keine Lösung«, gab Charis zu. »Nun, zumindest ist es der erste kritische Punkt von vielen. Mina hält ihre zahlreichen Augen und Ohren offen und versucht etwas aufzuschnappen, dass uns helfen oder warnen könnte. Ansonsten warten wir darauf, dass während des Krieges etwas passiert, das Unruhe aufkommen lässt, oder einfach auf einen günstigen Moment.«
»Etwas wie die Nachricht, dass der König in der Schlacht gefallen ist, zum Beispiel«, sagte Ginevra. »Wobei wir damit wirklich nicht rechnen sollten. So viel Glück werden wir kaum haben und der König mag vieles sein, aber ein Narr ist er nicht. Ebenso wenig, wie er für seine Unbesonnenheit bekannt ist. Wir lauern also im Grunde in unseren Löchern und hoffen auf Glück.
Aber wie dem auch sei. Gehen wir einmal davon aus, dass wir es von Stadt und Burg wegschaffen. Was dann? Wohin sollen wir gehen?«
»Langfristig weiß ich das selber nicht so genau«, gestand Charis ein. »Erst einmal so schnell und weit wie möglich weg von Sigholm. Danach auf wenig befahrenen Wegen in die Randgebiete des Reiches. Dorthin, wo niemand vorbeikommt, der in ein paar einfach gekleideten Reisenden die königliche Familie wiedererkennen würde. Dabei kommt praktisch jedes Grenzgebiet in Frage, wobei die Nordmark und die östliche Grenze unvorteilhaft sind. Der äußere Osten ist im Grunde eine gesetzfreie Zone, außerdem weiß kein Mensch, was dort im Moment vor sich geht.«
»Und der Norden mit Padermünde und den vielbefahrenen Handelsstraßen ist ebenfalls ungünstig«, fuhr Ginevra an ihrer statt fort. »Dort ist die Gefahr am größten, dass wir auf Menschen treffen, die öfter in Sigholm zu Besuch sind. Wer oft genug in der Stadt war, kann unsere Gesichter kennen. Oder wird vielleicht schon bei der Personenbeschreibung misstrauisch. Besonders durch Benjamin.«
»Richtig«, nickte die Königin. »Aber im Süden oder in abgelegenen Teilen der Westmark sollte es keine großen Probleme machen, einen entsprechenden Ort zu finden, an dem wir uns verstecken können. Was wir dann langfristig tun sollen, sehen wir danach. Es zeugt schon von Optimismus, überhaupt so weit zu planen.«
»Das klingt irgendwie alles ziemlich verzweifelt«, seufzte Ginevra. »Aber das ist es wohl auch.«
»Genauso, wie unsere Situation«, sagte Charis. »Wie wir uns auch drehen und wenden, es ist unsere einzige Chance. Ich zweifle ebenso wenig wie du daran, dass der König nicht mehr lange zögern wird, das Problem zu lösen, das Benjamin für die Thronfolge darstellt. Wenn er es nicht schon längst vorhatte, wird die Bedrohung durch den Krieg ihn anstacheln. Er bekommt noch einmal vor Augen geführt, wie schnell sein Reich bedroht werden kann. Das schüttet nicht nur Öl in das Feuer seiner Entschlossenheit, es gibt ihm auch die Möglichkeit, das ganze unter Umständen relativ unbeschadet durchzuführen. Wir müssen auf der Hut sein, und jederzeit dazu bereit aufzubrechen.
Deswegen wollte ich dich endlich einweihen. Es ist wichtig, dass jeder von uns weiß, was er zu tun hat, wenn es an der Zeit ist. Hätte ich geahnt, wie viel du von all dem schon selber mitbekommen hast, hätte ich es früher getan. Aber ich wollte dich einfach schützen so lange es ging. Ich hoffe du trägst mir die Geheimnistuerei nicht nach.«
Ginevra machte eine wegwerfende Handbewegung. »Schon gut«, sagte sie müde. »Benjamin wird ja wohl hoffentlich nichts von all dem wissen? Er denkt sich zwar auch seinen Teil, aber der Gedanke an eine bevorstehende Flucht würde ihn aufregen. Es ist besser, wenn er in körperlich so guter Verfassung ist, wie er es eben sein kann, wenn es losgeht.«
»Selbstverständlich nicht«, sagte Charis erschrocken. »Was meinst du damit, er denkt sich seinen Teil? Ist ihm etwa auch die Idee gekommen, sein Vater könnte ihm oder uns etwas antun?«
»Er ist ebenfalls nicht dumm«, lächelte Ginevra traurig. »Und die Monate in Krankheit und Elend haben ihn nicht nur sehr schnell erwachsen werden lassen. Er hatte auch sehr viel Zeit zum Nachdenken und ist weniger naiv, als ich gehofft hatte. Er hat eine recht gute Vorstellung davon, was sein Vater und die Herzöge von ihm als Thronfolger halten. Er weiß, dass du keine weiteren Kinder mehr bekommen kannst, und er kennt seinen Vater leider besser, als wir alle dachten.
Das Gute daran ist, dass er sehr wahrscheinlich kaum bis gar nicht protestieren wird, wenn wir ihn am Tag der Flucht vor vollendete Tatsachen stellen. Ich glaube nicht, dass er sich gegen den Plan zur Wehr setzen wird. Das gilt übrigens auch für Griselda. Sie hat Benjamin lieb gewonnen, und ... mich glaube ich auch irgendwie. Wenn du sie darum bittest, wird sie mit uns kommen. Und das sollte sie auch, es wäre wichtig für Ben. Nicht nur aus praktischen Gründen. Er vertraut ihr und fühlt sich in ihrer Gegenwart sicher. Das spürt man.«
Langsam nickte Charis und versuchte, ihre Gedanken zu ordnen. Sie hatte sich dieses Gespräch unzählige Male vor Augen geführt. Jeder mögliche Verlauf war ihr in schlaflosen Stunden durch den Kopf gegangen. Nie im Leben hätte sie gedacht, dass es so leicht und schnell erledigt sein würde. Einerseits war sie erleichtert, dass sie in der Tochter eine so willige Verbündete gefunden hatte. Um ihre Verschwiegenheit hatte sie sich so oder so keine Sorgen gemacht.
Andererseits machte es sie traurig, dass ihre fünfzehn Jahre alte Tochter sich schon so lange mit solchen ernsten Gedanken beschäftigte. Kein Kind sollte darüber nachgrübeln müssen, ob und wann der eigene Vater ihm ans Leben wollte. Nicht, dass die Bedrohung durch Fremde im Falle des Todes des Königs so viel besser war. Doch allein die Gedanken, die Ginevra sich darüber hinaus über Benjamin machte, zeigte, dass ihre traurige Kindheit im Grunde längst vorbei war. Sie war hart und kurz gewesen, selbst für ein Kind aus der hohen Aristokratie des Reiches.
»Nun gut«, sagte sie schließlich. »Das war es, worüber ich mit dir sprechen musste. Ich bin froh, dass du verstehst, warum ich das tue. Du hältst dich also bereit und wartest darauf, dass ich dir Bescheid gebe?«
Ginevra zuckte mit den Schultern. »Natürlich. Es bleibt mir ja kaum eine Wahl. Eine bessere Idee habe ich nicht, und zu dem, was du tust, haben mir die Mittel gefehlt. Aber du solltest Griselda nicht im letzten Augenblick einweihen. Ich bin nicht sicher, ob es klug wäre, jetzt schon mit ihr darüber zu sprechen. Aber warte nicht bis zum Tag des Aufbruchs. Ich glaube, sie wird zumindest ein paar Tage brauchen, um sich darauf einzustellen.«
»Ich werde darüber nachdenken, wann und wie ich sie ins Bild setze«, nickte Charis. »Noch denke ich auch, dass es zu früh ist. Aber ich lasse dich wissen, wenn ich es tue. Vielleicht können wir es sogar gemeinsam tun.«
»Ja, das wäre gut«, sagte Ginevra lächelnd. »Ich mag die Frau wirklich. Was bei mir nicht oft vorkommt. Also, dann sind wir fertig? Ein bisschen ungewöhnlich ist unser Treffen hier schon, wir sollten so wenig Aufmerksamkeit erregen wie möglich.«
»Ja«, seufzte Charis, »das sollten wir wohl.«
Sie zog ihre Tochter kurz in ihre Arme und war froh, dass sie es zuließ. Sie versteifte sich nicht einmal, sondern erwiderte die Umarmung. Nur sehr kurz, wie es ihre Art war, aber wenigstens fest und aufrichtig.
Ohne ein weiteres Wort drehte die Prinzessin sich um und ging raschen Schrittes zu ihrem Pferd. Mit einem schnellen Handgriff war der Zügel des Tieres von dem Einspänner er Königin gelöst. Ein kurzer, ansatzloser Sprung und Ginevra saß wieder im Sattel. Sie hob noch einmal mit einem kurzen Lächeln die Hand zum Gruß. Dann stieß sie dem Pferd sanft die Hacken in die Seiten und einen Augenblick später galoppierten sie wieder in die Richtung, aus der sie gekommen war.
Charis sah ihnen nach, bis Pferd und Reiter in der diesig werdenden Luft über den Wiesen um Sighold herum verschwanden.
Ich habe dich trotz allem, was zwischen uns war oder nicht war, nie wirklich gehasst, dachte sie im Stillen beim Gedanken an den König. Aber wenn ich sehe, was du unseren Kindern antust, tue ich es jetzt. Ich wünschte, du würdest auf der Insel, die du erobern willst, krepieren.
Ich hoffe, einer dieser Barbaren schlägt dir den Kopf von den Schultern.