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3. Kapitel 3
ОглавлениеSnaergarde
Ihre Konzentration auf den schwarzen Klumpen, der in weniger als vier Schritten Entfernung vor ihr auf dem Steinboden lag, war vollkommen. Sie sah ihn nicht nur, nahm ihn nicht einfach wahr, sondern war bei und um ihn herum, war im Geiste beinahe ein Teil von ihm. Sie spürte sein unglaubliches Alter, die raue, grobporige Oberfläche und die Kraft und Wärme, die in seinem Inneren schlummerte. Kein menschliches Wesen ohne ihre Gabe war je dazu in der Lage gewesen, so in ein Ding zu dringen und zu verstehen, wie sie es mit diesem gut faustgroßen Gegenstand tat. Der Brocken Steinkohle stammte aus den Minen im Norden von Ulfrskógr und lag jetzt vor dem hohen gemauerten Kamin des kleinen Saals, in dem sie sich befand.
Für Catherine gab es in diesem Moment nichts anderes, als dieses Stück schwarzes Sediment. Sie tastete danach, fühlte es, und ließ vorsichtig etwas von ihrer neu entdeckten Energie hineinfließen. Dabei formte sie diese so behutsam, wie ein unerfahrener Glasbläser seine ersten Werkstücke. Sie nahm den Raum um sich herum ebenso wenig wahr, wie die stille Gesellschaft des Mannes, der bei ihr war. Auch ihr Körper und das Medaillon, das sie nach wie vor trug, waren ihr entrückt. Im Moment gab es kein schützendes Schild um sie herum, das Medaillon war da, ruhte aber für den Augenblick passiv und nutzlos an ihrem Hals.
Es war nun fast zwei Wochen her, seit der Zauberer ihr beigebracht hatte, wie sie es nach Belieben aktivieren und deaktivieren konnte. Sie fühlte sich nach wie vor unter dem goldenen Schimmer, mit dem es sie im aktiven Zustand umgab, am sichersten. Dennoch geriet sie mittlerweile nicht mehr in Panik, wenn sie eine Weile schutzlos war. Sie gewann langsam gegen das Grauen ihrer Kindheit an Boden. Allmählich verloren die verstörenden Eindrücke der Geisterwelt ihren Schrecken. Mit der Zeit würde sie lernen, diese Dinge ebenso abzublocken, wie es bislang noch das Geschenk des Zauberers für sie tat.
Wenn sie mit ihrer eigenen Gabe arbeitete und übte, wie sie es jetzt tat, war das Schild störend und blieb aus. Sie hatte zuvor überhaupt nicht gespürt, dass die Energie des Medaillons ihre eigene Gabe dämpfte. Allein wäre sie dieses Wagnis niemals eingegangen. Doch der Zauberer war von seinem Aufenthalt am Wall zurückgekehrt und sie hatte sich auf Snaergarde eingefunden, um so viel zu lernen, wie er ihr in der Zeit, die ihnen verblieb, beibringen konnte. In den letzten zwei Wochen hatte sie größere Fortschritte gemacht, als in den Monaten davor, in denen sie allein ihre Übungen durchgeführt hatte. Trotzdem war diese Zeit für sich keine verlorene gewesen. Die Gabe der Magie, die ihre ganze Jugend über unbemerkt in ihr geschlummert hatte, war ihr nicht mehr fremd. Es war noch immer aufregend und oft verstörend, doch durch die tägliche Beschäftigung damit hatte sie ihr Talent als Teil ihrer selbst akzeptiert. Sie empfand noch immer Respekt und etwas Furcht davor, aber sie nahm an, dass es einem Gaukler ähnlich gehen musste, wenn er lernte, wie man mit brennenden Fackeln jonglierte.
Feuer war es auch, was sie in dieser Übung erreichen wollte. Sie hatte die Steinkohle zuerst mit ihrer Geisthand erkundet. Danach hatte sie begonnen, ihre Energie vorsichtig fließen zu lassen und in den Strom der Magie, die durch alles und jeden floss, einzugreifen. Sie fühlte, wie der grobe, schwarze Stein ihre Kraft aufnahm und langsam die Hitze freigesetzt wurde, die in seinem Inneren schlummerte. Vor unendlich langer Zeit war dieses Stück Steinkohle vielleicht einmal ein Baum oder ein Strauch gewesen. Es schien ihr, als wäre ein winziger Rest der Essenz dieses Lebens in dem vermeintlich toten Material zurückgeblieben und lausche ihr nun. Was sie hier tat, faszinierte sie über alle Maßen und ermüdete sie nie.
An manchen Tagen hatte der Zauberer sie mehr als ein Dutzend Stunden üben lassen. Ihr hatte es nichts ausgemacht, ganz im Gegenteil. Sie nahm jede Stunde, die er sie unterwies, als kostbares Geschenk an. Das galt umsomehr, da sie ob des drohenden Krieges nicht wusste, wie viele solcher Lehrstunden es für sie noch geben würde. Nachdem ihre Gabe sie die ganze Kindheit und Jugend hindurch so sehr gequält hatte, weil sie unerkannt geblieben war, wollte sie nun so viel darüber lernen wie nur möglich. Es spielte dabei keine Rolle, ob es für sie eine Zukunft gab, oder nicht. Sie ahnte nicht, dass die Übungen, die sie über zehn Stunden lang durchführen konnte, ohne zu ermüden, selbst einen Akolythen mit einigen Jahren Lehrerfahrung für gewöhnlich nach ein bis zwei Stunden völlig auslaugten.
Zu ihrem Entzücken fühlte sie den ersten feinen Funken, bevor sie ihn sah. Ihm folgte ein Zweiter, dann ein Dritter. Sie waren so winzig, dass ein normales Auge sie nicht zu sehen vermocht hätte. Das änderte sich wenige Augenblicke später, als aus den kaum wahrnehmbaren Funken das erste leichte Glimmen wurde. Behutsam lenkte sie ein Quäntchen mehr Energie in den schwarzen Stein. Das Kohlestück glühte jetzt in tiefem, kräftigen Rot. Allmählich verschwamm das Licht und eine erste kleine Flamme brach hervor. Sie zögerte kurz, gab dann aber doch noch etwas mehr dazu. Eine Sekunde lang erfreute sie sich an den züngelnden Flammen, bis sie ihren Fehler erkannte. Hastig verschloss sie ihre Verbindung zu dem leblosen Objekt, doch es war bereits zu spät. Die Flammen schlugen höher und höher, und als sie es zu abrupt losließ, stob eine Stichflamme beinahe bis an die hohe Decke des kleinen Saals.
Sie nahm eine Bewegung zu ihrer Rechten wahr und wusste in dem Moment, in dem die Flammen in einem Wimpernschlag erloschen, dass es eine Handbewegung des Zauberers gewesen war.
»Das war erstaunlich gut«, sagte Darane. »Ihr habt unterschätzt, wie schnell und nachhaltig der Fluss der Magie auf eure eigene Energie reagiert. Das ist aber eher meine als eure Schuld, weil ihr solche Übungen eigentlich erst nach zwei bis drei Jahren der Ausbildung versuchen solltet.«
Sie hob zu einem Protest an, aber er hob nur lächelnd eine Hand. »Ich weiß, Zeit ist ein Gut, das uns nur sehr begrenzt zur Verfügung steht. Ihr habt es gut gemacht und werdet ein ganzes Stück sicherer sein, bevor ich wieder aufbrechen muss und sich unsere Wege vorerst trennen werden.«
Catherine erwiderte das Lächeln des alterslosen Mannes und atmete einige Male tief durch. Sie freute sich über den Fortschritt und das Lob, ärgerte sich aber trotzdem über ihren Fehler. Sie hatte ihn erkannt, war dann aber nicht sicher genug gewesen, um ihn zu korrigieren. Sie warf einen Blick auf den Steinboden vor dem Kamin. Dort war nichts mehr vorhanden, als ein rußiger schwarzer Fleck. Das Stück Steinkohle war in den Flammen, die am Ende zum größten Teil von ihr verursacht worden waren, völlig vergangen. Das Eingreifen des Zauberers hatte verhindert, dass das Feuer sich weiter ausbreiten konnte.
»Diese Art Übungen sollte ich allein wohl besser im Freien machen«, meinte sie seufzend.
»Diese Art Übungen solltet ihr allein überhaupt nicht durchführen«, erwiderte Darane freundlich. »Wir haben das Stück Kohle als Katalysator und Unterstützung genommen. Das ändert nichts daran, dass das, was ihr gerade getan habt, Elementarmagie ist. Ihr habt dieses Feuer mit eurer eigenen Kraft geschaffen. Mit mehr Übung werdet ihr kein Brennmittel als Krücke mehr brauchen. Aber bis es so weit ist, werden wir den Krieg überleben müssen. Wenn ihr Feuer aus der Luft erschaffen könnt, kann jeder Fehler verheerend sein, egal ob in einem Raum oder im Freien.
Er hob die rechte Hand und bewegte kaum merklich seine langen, schneeweißen Finger, die in einem abgeschnittenen Handschuh steckten. Ein faustgroßer Feuerball entzündete sich aus der Luft, flackerte einen Wimpernschlag lang und blieb dann so stabil wie eine Kugel aus Glas oder Kristall, die mit einer brennenden Flüssigkeit gefüllt war.
»Die Beeinflussung der Elemente ist relativ leicht zu lernen. Die herbeigerufenen Elemente danach zu kontrollieren hingegen, ist die Herausforderung. Eine, der schon mehr als ein Lehrling und Akolyth zum Opfer gefallen ist.«
Der kleine Feuerball stieg bis auf seine Kopfhöhe, dann schwebte er schräg nach oben und veränderte seine Form. Die Kugel wurde größer und wurde schlaff, wie ein halbvoller Trinkschlauch. Dann brachen die Ränder und Catherine zuckte für einen Augenblick zurück, als ein Teppich aus Flammen sich in alle Richtungen ausbreitete. Darane machte eine lockere Faust und das Feuer verschwand von einem Moment auf den anderen, als wäre es nie da gewesen.
»Die Kontrolle ist der entscheidende Teil. In ein paar Tagen könntet ihr lernen, Feuer aus der Luft zu erschaffen. Aber wir werden es bei den einfacheren Übungen belassen und die anderen Elemente durchgehen. Es ist wichtig, dass ihr erst einmal eine Basis schafft, von der aus ihr euer Wissen später aufbauen könnt. So uns denn die Zeit dazu vergönnt sein wird. Die Beherrschung des Medaillons bereitet euch keine Probleme mehr?«
Sie konzentrierte sich eine Sekunde lang und sofort umfing sie, nur für ihre und die Augen des Zauberers sichtbar, der sanft goldene Schimmer.
»Sehr gut«, sagte Darane. »Es freut mich, dass ihr so gut und schnell vorankommt. Eure Gabe ist jetzt wahrhaftig euer. Nicht alle schaffen es, sie wirklich als Teil ihrer selbst anzunehmen. Selbst von denen, die im richtigen Alter an sie herangeführt werden. Wir machen einen Moment Pause, entspannt euch ein wenig. Dann versuchen wir es mit Wasser.«
Catherine nickte und ging langsam durch den kleinen Saal, während sie sich auf ihre Atmung konzentrierte. Eine kleine, für acht Personen gedachte Tafel stand in der Mitte des Raumes. Sie war sehr alt und eher schmucklos gearbeitet, mit dazu passenden, hochlehnigen Stühlen ohne Polsterung. Außerdem gab es nur den Kamin, einige Bodenteppiche und an den Wänden lichtspendende Öllampen. Neben der einzigen Eingangstür hing ein großes Gemälde, das die alten Götter der Norselunder zeigte.
Den Hintergrund der Szene bildete ein dunkler, dräuender Wald, der ohne Zweifel den Ulfrskógr darstellte. Den nördlichsten der norselunder Wälder, dem sowohl der Clan, dem Varg entstammte, seinen Namen verdankte wie auch das daraus entstandene Jarltum. Im Zentrum dominierte Eldrvitnir, der große Wolf des Winters, der mit seinem schneeweißem, struppigem Fell sowohl bedrohlich wie auch beschützend wirkte. Zu seiner linken sah man eine hochgewachsene, schlanke Frau in dunkler Gewandung. Sie hatte hüftlanges pechschwarzes Haar, ebenso weiße Haut wie das Fell des Wolfsgottes und hellgraue Augen. Gedankenverloren zog Catherine mit dem Zeigefinger behutsam die Linien von Morrigan, der dunklen Mutter nach. Zu ihren Füßen ruhte ein schwarzgrauer Wolf.
Zur Rechten von Eldrvitnir sah man eine größere und massigere Gestalt, die ebenfalls in dunkle Kleidung gehüllt war. Der Mann trug einen Umhang aus schwarzen Federn und sein Gesicht war nicht zu sehen. Auf seinem Torso prangte ein Rabenkopf mit einem mächtigen Schnabel, doch auch seine Augen waren grau, wenn auch deutlich dunkler als die der Frau. Morcraban, der Rabengott, Wächter der Toten und der Nacht. Auf seiner Schulter saß ein gewaltiger Rabe. Während der Winterwolf in der Mitte thronte, schienen sich die beiden menschlichen Gestalten zu grüßen, vielleicht zuzuwinken.
Über der Szene dräute ein dunkler, von schwärenden Wolken zerwühlter Himmel. Obgleich das Gemälde über hundert Jahre alt war, hätte die Szene ebenso gut aus der Zeit des Grau stammen können. Das Bild vermittelte den Eindruck, dass die Sonne schon damals nie zu sehen gewesen war.
»Es ist erstaunlich gut, wenn man bedenkt, dass es von einem Narren gemalt wurde, der Norselund nie betreten hat«, ertönte die dunkle, samtige Stimme des Zauberers unmittelbar hinter ihr. Sie erschrak nicht, denn obwohl er sich völlig lautlos bewegt hatte, war ihr der leichte Geruch nach verwelkten Rosen nicht entgangen, der ihn stets zu umgeben schien.
»Es war kein Norselunder? Jemand aus dem Königreich?«, wollte sie wissen.
»Ein versoffener Hurenbock aus Stennward war er, der vor über zweihundert Jahren jung und verarmt gestorben ist«, erwiderte Darane. »In gewisser Hinsicht ein Jammer, er war einer der talentiertesten Maler, die je gelebt haben. Aber das größte Talent und Potential ist wertlos, wenn man es vergeudet oder nicht erkennt. Ihr hattet mehr Glück.«
Sie fuhr mit dem Finger behutsam über die männliche Gestalt auf dem Bild.
»Die alten Götter«, sagte sie leise. »Varg hat mir gesagt, dass in vielen Orten wieder kleine Schreine errichtet werden. Offenbar sind die Menschen doch nicht so gottlos, wie man angenommen hat. Seit die Jarle sich von der Religion des Lichtbringers losgesagt haben, kehren überraschend viele Norselunder zu den alten Wegen zurück.«
»Haltet ihr das für eine gute Entwicklung? Ihr selbst seid in beiden Lehren unterwiesen worden, wenn ich richtig informiert bin«, erkundigte sich Darane.
»Genau wie meine Geschwister, mein Schwager und Varg«, nickte sie. »Und ja, ich halte das für eine gute Entwicklung. Ich konnte nie wirklich an irgendwelche Götter glauben, aber die alten sind mir wesentlich sympathischer als der neue. Und in schweren Zeiten brauchen die Menschen jeden Trost, den sie finden können.
Ich glaube, dass diese Götter aus weisen Menschen entstanden sind, die vor langer Zeit gelebt haben. Unsere Vorfahren haben viele Jahrhunderte lang nach ihren Lehren im Einklang mit der Natur gelebt und überlebt. So falsch können sie also nicht gewesen sein. Mir widerstrebt die unverschämte Arroganz eines Gottes, der neben sich keine anderen duldet. Wie ein dummes Kind ohne Selbstvertrauen, das aus Angst und Schwäche seinen Geschwistern neidet.«
Sie hielt inne und sah zu dem von feinen Falten durchzogenen Gesicht des Zauberers auf.
»Aber möglicherweise irre ich mich ja, und es gibt Götter. Weise Menschen, die vor vielen hundert Jahren gelebt haben, habe ich gesagt. Ihr sprecht nicht darüber, wie alt ihr seid, aber vielleicht habt ihr einige der Männer und Frauen gekannt, aus denen die Götter entstanden sind.« Sie deutete zu der Darstellung von Morcraban, auf dessen Schulter ein Rabe saß. »Ein großer Mann mit Raben und grauen Augen. Ich kenne einen solchen«, fügte sie mit einem undurchschaubaren Lächeln hinzu.
Der Zauberer erwiderte ihr Lächeln. Weder seine Züge noch seine kalt schimmernden Augen verrieten seine Gedanken.
»Auch mir sind die alten Götter und die alten Wege sehr viel näher«, sagte er schließlich unverbindlich. »Insbesondere, da ich weiß, wer sich den Unsinn mit dem Lichtbringer ausgedacht hat. Aber würdet ihr sie wirklich wissen wollen, die wahren Begebenheiten um eure alten Götter? Nimmt es einem Mythos nicht jeden Zauber und beraubt ihn damit seines Sinnes, wenn man ihn erklärt?«
»Ich mag die alten Geschichten, aber ich glaube nicht daran, dass sie wahr sind«, erwiderte Catherine. »Die Wahrheit könnte mir also meine Religion nicht nehmen, denn ich habe keine. Aber ich möchte nicht gar zu neugierig erscheinen.«
»Das tut ihr nicht«, sagte Darane und richtete seinen Blick erneut auf das Gemälde. Sie sah, wie sein Blick über die drei Gestalten glitt, die beiden menschlichen und die vierbeinige in der Mitte. Sie glaubte eine nostalgische Melancholie in dem Zauberer wahrzunehmen, doch das mochte ebenso gut Einbildung sein.
»Er war in der Tat unglaublich talentiert«, sagte er so leise, dass sie ihn gerade noch verstehen konnte. »Wirklich eine selten bedauerliche Verschwendung. Ein Gott, der eine solche Gabe in die Hände eines so schwachen Narren legt, muss jedenfalls selbst einer sein.«
»Ich wünschte, ich hätte sie gekannt«, sagte Catherine plötzlich leise. Ihr Blick ruhte auf der dunklen Mutter. »Und ich wünschte, ich wüsste, was aus ihnen geworden ist. Ihre Spuren verlieren sich lange vor der Vereinigung der Clans vor über vierhundert Jahren.
Schon damals hat man Jahrhunderte lang keine neuen Geschichten gehört, sondern nur die alten Sagen überliefert. Wenn es sie gegeben hat, warum sind sie verschwunden? Haben die Menschen aufgehört, an sie zu glauben, und sie sind schwächer geworden und gestorben? Oder wurden zornig auf ihre Kinder und haben uns verlassen? Wer sie wohl war, wo Eldrvitnir heute herumstreift und wo der Rabengott heute leben mag.«
»Sie war die mächtigste Hexe, die je gelebt hat«, erklang die Stimme des Zauberers beinahe flüsternd. »Der Winterwolf durchstreift den hohen Ulfrskógr, wie er es seit jeher tut und bis zum Ende der Welt tun wird. Morcraban wacht über die Insel und ihre Kinder. Und nun konzentriert euch wieder auf das hier und jetzt, wir wollen doch die Zeit nutzen, die uns noch bleibt, bis ich aufbrechen muss.«
Einen Moment lang sah sie ihn fragend an, warf dann noch einen letzten Blick auf das Gemälde und wandte sich von der Wand ab.
»Was glaubt ihr, wie lange uns noch bleibt?«, wollte sie wissen.
»Einige Wochen«, erwiderte Darane. »Norselund bereitet sich auf den Krieg vor, so gut es geht. Solange der Winter das Land in seinen Krallen hat, können wir allerdings nicht sonderlich viel tun. Sobald der Frost etwas nachlässt, werden wir ein Treffen abhalten und unser Vorgehen für das Frühjahr planen. Das sollte Ende März oder spätestens im frühen April der Fall sein. Dann müssen wir uns auch schon wieder beeilen, damit wir möglichst geschlossen im Süden bereitstehen, wenn der Feind übersetzt.«
»Varg und mein Vater scheinen sehr sicher zu sein, dass sie nur über den Südosten kommen werden«, sagte Catherine. »Besteht nicht doch die Gefahr, dass sie es im Westen über Krakebekk versuchen könnten?«
»Die besteht durchaus, aber in dem Fall würde der König nur sinnlos Leben opfern. Ich habe mir die betreffenden Landstriche selbst angeschaut, als ich mich von den Städten fernhalten musste, weil die Delegationen der Kirche noch hier waren. Was vor dem Grau grüne Ebenen und Strand waren, ist jetzt nichts als ein verschlammter Sumpf. Die Küsten von Krakebekk sind nicht umsonst verwaist. Dort kann Randolf alle Truppen seiner Königsmark versenken und es wäre immer noch Platz für den gesamten Templerorden. Aber wir werden dennoch aufmerksam sein.«
»Ich wünschte, diese schreckliche Zeit läge bereits hinter uns«, flüsterte sie fast. »Ich habe so fruchtbare Angst um unsere Familien. Vendela und Sikah sind schon verloren und bald könnten auch mein Vater, mein Bruder und Varg nicht mehr sein. Und Bjorn und die kleine Talida. Unsere Blutlinien könnten ausgelöscht werden, unser ganzes Volk.«
»Lasst euch von den Sorgen nicht niederdrücken«, sagte der Zauberer mit einem dünnen Lächeln. »Wir werden den Vorteil haben, den Feinden stets einen Schritt voraus zu sein, denn meine gefiederten Späher werden den ihren überlegen sein. Wir haben Zeit, uns bestmöglich vorzubereiten und sie gebührend in Empfang zu nehmen. Das gleicht Einiges von dem aus, was sie uns an Zahlen überlegen sind. Und ich werde an der Seite der Jarle sein, wenn es so weit ist.«
»Ihr seid also zuversichtlich?«, wollte sie wissen.
»So zuversichtlich, wie man angesichts dessen, was uns bevorsteht, sein kann«, nickte er. »Niemand vermag den Ausgang eines solchen Krieges vorauszusehen. Aber die Situation könnte sehr viel schlechter sein. Die Verluste werden hoch und dieser Konflikt wird Norselund zutiefst erschüttern, vielleicht noch mehr als der letzte Krieg und selbst mehr als das Grau. Aber ich bin guten Mutes, dass es überleben wird, ja. Letztendlich wird diese Insel für einen hohen Blutzoll seine Freiheit vom Festland zurückerlangen, dessen bin ich sicher. Ich werde mein Möglichstes tun, damit am Ende noch alle drei Familien der Jarle von Norselund da sind. Und nun lasst uns weitermachen.«
Er legte ihr kurz eine Hand auf die Schulter und schritt dann zu der Tafel hinüber. Catherine fühlte sich noch immer Bange, wenn sie an die bevorstehenden Schlachten dachte, lächelte ihm aber schwach hinterher und folgte ihm dann langsam. Inzwischen hatte sie den Großteil der Unsicherheit, die sie in Gegenwart des Zauberers empfunden hatte, abgelegt. Er erschien ihr noch immer oft undurchschaubar und sein hohes Alter schüchterte sie ebenso ein, wie die Macht, über die er Gebot und die sie nur allmählich erahnen konnte. Dennoch hatte er in den letzten Wochen ihr Vertrauen gewonnen. Sie fühlte sich in seiner Nähe so sicher und geborgen, wie es sonst nur bei ihrem Vater und Varg der Fall war.
Sie trat an die Tafel heran und richtete ihren Blick und ihre Konzentration auf die Wasserschale, die vor Darane stand. Wenige Augenblicke später spürte sie das nasse Element mit Sinnen, die ihr noch vor wenigen Monaten verborgen geblieben waren. Innerhalb weniger Atemzüge entspannte sich ihr Körper, und während ihre Energie mit der des Wassers verschmolz, fielen für eine Weile alle weltlichen Sorgen und Ängste von ihr ab.