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6. Kapitel 6

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Krakebekk

Der Wind, der über die Westküste des südlichen Norselund strich, trug noch genug Winter in sich, um auf ungeschützter Haut ein Gefühl zu verursachen, als bestünde er aus eisigen Dornen. Bjorn genoss das beißenden Prickeln in seinem Gesicht, überall dort, wo es nicht von dem dichten, lohfarbenen Bart bedeckt war. Zugleich war er froh, dass der Wind nur schwach wehte und nicht mit der Kraft über Land und See fegte, wie er es noch vor einigen Tagen getan hatte.

Er stand am Bug der Seebär, die vor wenigen Stunden vor einem völlig unscheinbaren Stück Küste vor Anker gegangen war. Sein Blick glitt über sanft wogende See, zumeist steinige, kahle Strände und die hoch aufschießenden Steilklippen, die für große Teile der norselunder Küste so typisch waren. Die Gegend hier machte von See aus einen schroffen und kahlen Eindruck, zeigte sich rau und trostlos. Nur vage konnte man vom Meer aus aufgrund einiger schmaler grüner Streifen am oberen Ende der Klippen erahnen, dass das höhergelegene Land weniger ungastlich sein mochte. Der Himmel war dunkel und dräuend und hing so tief, dass er beinahe die Spitzen der Felsen zu berühren schien, die sich weit über den stahlgrauen Wellen auftürmten.

Obwohl Bjorn genau wusste, wo der Eingang zu der Werft lag, die sich hier in einer Grotte im Felsgestein versteckte, konnte er ihn nicht erkennen. Nichts an der Szenerie ließ auf irgendetwas anderes schließen, als auf verlassene Trostlosigkeit. Hier gab es keine Spur von menschlichem Leben, ebenso wenig wie in den nächsten hundert Landmeilen die Küste entlang. Über dem Meer zogen einige Möven scheinbar gelangweilt ihre Kreise. Irgendwo oben auf dem Hochland mochten Schafe und Füchse herumstreunen. Ansonsten schien alles unbewegt und von Menschen verwaist.

Die Kargheit der Natur tat Bjorn auf eine Art und Weise gut, die er nicht zu erklären vermochte. Überhaupt ging es ihm mittlerweile besser, als er noch vor wenigen Wochen für möglich gehalten hatte. Die erste Zeit, nachdem Varg ihn gewaltsam aus seiner lebensgefährlichen Lethargie gerissen und seine Selbstzerstörung beendet hatte, war erwartungsgemäß die Hölle gewesen. Ihm schauderte noch immer, wenn er an die Tage voller Schmerz, Hoffnungslosigkeit und Verzweiflung dachte, die hinter ihm lagen. Die Krämpfe und das Schwitzen und Zittern durch die Entzugserscheinungen waren noch das Mindeste gewesen. Die absolute, tödliche Schwärze der Leere, die ihn danach umfangen hatte, hatte sich als weitaus schrecklicher erwiesen. Dazu kamen der Selbsthass und die Scham ob seines Versagens und der Schwäche, die er zur Schau gestellt hatte. All das war durchsetzt von der nicht endenwollenden Trauer um Vendela. Dieser Schmerz schien mit keinem Tag verblassen zu wollen. Und dann war da natürlich noch seine Schuld, die weit über die Leben seiner Angehörigen hinausging.

Wie man es drehte und wendete, ganz gleich, wie der Krieg mit dem Festland ausgehen mochte, es bestand kein Zweifel daran, dass seine Verfehlung den Konflikt ausgelöst hatte. Die Tatsache, dass er ihn im Stillen begrüßte und froh um die Chance war, das Joch des Königs abzuwerfen, spielte dabei keine Rolle. Selbst wenn ihm nach Ruhm und Ehre dürstete, und auch wenn sie den Krieg gewannen, würde er immer um den Makel wissen, dass seine blinde Unbeherrschtheit allein dafür verantwortlich war, dass er stattgefunden hatte. Mit diesem dunklen Fleck würde er leben müssen, doch mittlerweile hatte er sich auch damit abgefunden. Er war ein Krakebekk, und bei der schändlichen Reputation so vieler seiner Vorfahren würde er in der Geschichtsschreibung noch gut wegkommen, wenn sie den Krieg gewannen. Selbst wenn sie verloren, spielte es keine Rolle mehr, denn dann würde die norselunder Kultur ganz einfach enden. Sollten sie ihn doch als Zerstörer seines eigenen Volkes verfluchen, wenn seine Knochen in der Erde verfaulten. Wenn sie verloren, würde die Geschichte von Norselund vom Schwert des Siegers abgeschnitten und zu nicht mehr als einem Anhängsel der des Reiches von Stennward werden. Ganz so, wie es mit besiegten Clans, Städten und Reichen geschah, seit das erste Blut geflossen war.

Sieg oder Tod und nach ihm die Sinnflut. Seine Gedanken huschten für einen kurzen Moment zu Talida. Wie immer, wenn er an seine Tochter dachte, tat er es mit einem Anflug von Schuldbewusstsein, Traurigkeit und Scham. Die Bande, die ihn mit seinem eigenen Blut verflochten, schienen am gleichen Tag durchschnitten worden zu sein, wie die Kehle seiner geliebten Vendela. Mit der gleichen Klinge, geschwungen von dem Attentäter, dessen Auftraggeber wohl für immer im Schatten bleiben würde.

Er hatte sich aus dem Sumpf aus Depression, Lethargie und Alkohol gekämpft, nachdem Varg ihn in einem kurzen, blutigen Schlag von Olaf Nemmer und den anderen Abtrünnigen befreit hatte. Dank der Hilfe von Ragnar Oelskegg, dem alten Majordomus seiner Familie, war die Lage in Krakebekk stabil. Kaum jemand vermutete hinter den Wochen seiner Abwesenheit etwas anderes, als die verständliche Trauer eines Ehegatten. Auch von der Tatsache, dass er die Gesandten der Kirche in einem Rausch aus blindem Jähzorn und Mordlust abgeschlachtet hatte, ahnte außerhalb von Krakesten kaum jemand etwas. Offiziell hatte man König und Kirche inzwischen für den Anschlag verantwortlich gemacht. Seine Wahnsinnstat, die den Krieg erst verursacht hatte, hatte man im Nachhinein als Hinrichtung deklariert. Was das Volk von Norselund anging, hatte die Obrigkeit des Festlandes mit den Männern der Kirche Attentäter auf die Insel geschmuggelt. Einer war an Bjorn gescheitert, nachdem er seine Gemahlin ermordet hatte. Der andere war bei einem Mordversuch am Jarl von Falksten von Darane getötet worden. Der geheimnisvolle alte Zauberer war inzwischen aus dem Dunkel der Anonymität getreten und fungierte offiziell als Berater der Jarle. All das war ein Teil der Pläne, die Varg und Stian ausgeklügelt hatten. Bjorn war nicht weiter in diese Dinge einbezogen worden, man hielt ihn jedoch auf dem Laufenden. Ihm war das nur recht. Er war froh über seine Ruhe vor den anderen.

Alles war irgendwie wieder in die rechte Spur gekommen. Die Kriegsvorbereitungen liefen planmäßig, die Nahrungsversorgung war auf einige Monate hin gesichert. Die Verlängerung der Isolation, in der die Insel für gewöhnlich das halbe Jahr über verbrachte, machte keinerlei Probleme. Eng würde es erst im kommenden Winter werden. Bis dahin würde der Konflikt jedoch höchstwahrscheinlich vorbei sein. So oder so brauchte man sich danach keine Sorgen um mangelnde Lebensmittel machen. Die eigenen Verluste würden selbst im Falle eines Sieges so hoch sein, dass die vorhandenen Vorräte lange genug reichten. Und sollte dem nicht so sein, lag dann die Küste des Festlandes ungeschützt zur Plünderung dar. Im Falle einer Niederlage hingegen benötigten wohl nicht mehr viele Norselunder überhaupt noch Nahrung.

Das Einzige, was unwiederbringlich zerbrochen schien, war Bjorns Verbundenheit zu seinem einzigen Kind. In den Wochen, in denen er sich dem Suff hingegeben hatte, war Talida bei ihrer Amme gewesen. Wenn er sie in dieser grauenvollen Zeit gesehen hatte, so konnte er sich nicht mehr daran erinnern. Er bezweifelte es allerdings. Nachdem Varg mit seinen Blodskjoldir abgezogen war, hatte er es mit Oelskeggs Hilfe geschafft, allmählich wieder er selbst zu werden. Als er zum ersten Mal seit Vendelas Beerdigung seine kleine Tochter im Arm gehalten hatte, erwartete er Erleichterung und Liebe zu fühlen, doch da war nichts. Er empfand für das Kind nicht mehr, als für jedes andere Balg, und Kinder waren ihm im Grunde herzlich gleichgültig.

Bestürzt erinnerte er sich daran, wie sein Herz vor Glück und Liebe zu Vendela und Talida regelrecht übergelaufen war, als er im letzten Jahr von seinem Besuch auf dem Festland zurückgekehrt war. Er hatte sich nie erträumt, so verrückt nach einem Säugling sein zu können, wie er es nach der Kleinen gewesen war. Fast war es, als ob seine überbordende, beinahe fanatische Liebe zu Vendela sich auf das Kind übertragen hatte. Und nun war es genau so, als wäre jede Liebe oder auch nur ehrliche Zuneigung für das winzige Geschöpf gemeinsam mit seiner Mutter in der kalten Erde verrottet. Er hatte noch einige Male versucht, sich seiner Tochter wieder anzunähern, doch letztendlich hatte er es aufgegeben.

Die Amme Birla, die sich seit Talidas Geburt im letzten Jahr um sie kümmerte, bewohnte jetzt mehrere Gemächer auf Burg Krakebekk. Sie allein war für das Wohlergehen von Talida verantwortlich, beschützt von einer Rotte seiner Huskarlar und unterstützt von Majordomus Ragnar Oelskegg. Birla war für ihr Alter erfahren im Umgang mit Säuglingen. Außerdem war sie trotz ihrer Jugend eine besonnene und verantwortungsbewusste Frau. Für das Kind war es so das Beste, was unter den gegebenen Umständen möglich war. Das zumindest redete Bjorn sich ein. Es war nicht außergewöhnlich, dass die Kinder des Adels von Ammen und Kinderfrauen erzogen worden. Für viele waren ihre Eltern nichts als Fremde, auch wenn das eher für das Festland und die dortige Aristokratie zutraf, denn für Norselund.

Doch all das änderte nichts an den Schuldgefühlen, die an ihm fraßen. Er verspürte sie dem kleinen Mädchen gegenüber, dass er bis vor kurzem noch so sehr vergöttert hatte. Wirklich unerträglich aber waren die, welche er gegenüber Vendela hatte. Talida war ihrer beider Fleisch und Blut, das letzte Band, das sie über den Tod hinaus in seinem Herzen hätte halten sollen. Die Unfähigkeit, seiner Tochter Liebe entgegenzubringen, empfand er als bitteren Verrat gegen die einzige Frau, die er je geliebt hatte.

Und doch kannst du nichts daran ändern, dachte er grimmig, während er seine behandschuhten Finger in die Reling der Seebär krallte. Ebenso wenig wie an der Tatsache, dass du nur dank der Gnade von Varg noch atmest. Ebenso wenig wie daran, dass nur dank des Verständnisses von Varg und Stian nicht bereits die ganze Insel weiß, dass der Krieg deinem Jähzorn allein zu verdanken ist. Du bist anderen mehr schuldig, als du je zurückzahlen kannst. Du hast im Grunde genauso versagt wie dein nichtsnutziger Vater, der deine Mutter und deinen Bruder umgebracht hat. Selbst dein eigenes Leben verdankst du nur der Tatsache, dass Varg deinen Vater getötet hat. Ohne die anderen beiden Jarle gäbe es dich nicht. Gäbe es nicht einmal dein Jarltum noch. Und doch ist alles, was du den beiden entgegenbringst Scham und Hass. Was ist bloß aus dir geworden.

Es knirschte, als seine gewaltigen Pranken die Reling immer fester bedrängten. Er fühlte, wie die Muskeln seiner Oberarme die Ärmel seines Mantels spannten und er atmete einige Male tief ein und aus. Sein Blick wanderte zu den kalten, grauen Wellen und er Zwang die dunklen Gedanken fort. Er kämpfte gegen diesen Strudel aus Hass und Selbsthass an, wie er es in den letzten Monaten so oft getan hatte. Viel zu oft war er kurz davor, einfach durchzudrehen und um sich zu schlagen. Nur mühsam klärte sich sein Geist und er erlangte eine trügerische innere Ruhe zurück. Er führte sich vor Augen, dass in die Zukunft zu blicken alles war, was er tun konnte. Er konnte seine Schuld, ganz gleich, wem gegenüber er sie empfinden mochte, nur durch Taten begleichen. Das galt für die anderen Jarle, seine Tochter und auch für sich selbst. Er musste diese Dunkelheit in sich zurückdrängen und bekämpfen. Manchmal fragte er sich, ob sein Vater ebenso empfunden hatte. Ob der Fluch der Krakebekk über einfachen Jähzorn hinausging. Oder ob diese spezielle Art von Emotionen und Seelenqualen vereinzelten Mitgliedern seiner Linie vorbehalten war. Männern wie Nantes dem Tier vielleicht.

Eine Bewegung nahe dem Strand, die er erst nur aus dem Augenwinkel heraus wahrnahm, riss ihn aus seinen düsteren Grübeleien. Scheinbar direkt aus dem Stein der Steilküste glitt ein massiger Umriss aus den Felsvorsprüngen hervor, die vor der Küste aus dem Wasser ragten. Noch immer würde ein unbedarfter Beobachter nicht vermuten, dass hinter dem Vorsprung die Öffnung zu einer Grotte lag, die sich in die größte Werft von Norselund auswuchs. Der Schatten verwandelte sich zum Schiff, als er in seiner Gänze erkennbar wurde und den Felsen in voller Länge hinter sich gelassen hatte. Als Bjorn das Schiff zum ersten Mal auf dem Wasser und außerhalb des Docks in der Grotte der Werft sah, vergaß er vorerst all seine Nöte und war von dem Anblick des mächtigen Fahrzeugs gefangen.

Die Größe des Schiffes kam auf diese Entfernung noch nicht voll zur Geltung, obwohl sie sich bereits erahnen ließ. Mit einer für seine Masse erstaunlichen Gewandtheit drehte es schräg gegen den Wind, um dann mit gemächlicher Fahrt auf die Seebär zuzuhalten. Die Eldrvitnir, benannt nach dem Winterwolf des Nordens aus den alten Sagen, war eines der beiden neuen Schiffe, die in der Werft fertiggestellt worden waren. Das Zweite, die Morcraban, wie der finstere Rabengott, ruhte noch in seinem Dock, war aber ebenfalls voll einsatzfähig. Nur das dritte Schiff, das seinen Namen der dunklen Herrin Morrigan verdankte, würde vermutlich nicht rechtzeitig zum Konflikt mit dem König zur Verfügung stehen.

Was Bjorns Blick in diesem Moment mehr als alles andere fesselte, war die Farbgebung des Fahrzeugs. Es hatte Überlegungen gegeben, das Äußere der neuen Schiffsklasse möglichst martialisch und abschreckend zu gestalten, um den Schockeffekt auf feindliche Verbände noch zusätzlich zu erhöhen. Letztendlich hatte sich jedoch der Werftmeister mit einem Vorschlag durchgesetzt, den Varg unterstützt hatte. Sowohl jede Planke des Rumpfes, jedes Stück Holz am Aufbau, die Masten und jede Schrittlänge Segel waren von einem matten Grau. Eine unscheinbarere Farbgebung war kaum möglich, aber der Effekt, den Bjorn befürchtet hatte, trat nicht ein. Er hatte damit gerechnet, dass man den mächtigen Fahrzeugen durch die Graufärbung etwas von ihrem bedrohlichen Äußeren nehmen würde, doch das war nicht der Fall. Vor dem grauen Himmel und auf der stählernen See erschienen der graue Rumpf und die gleichfarbigen Segel beinahe unwirklich. Ein unaufmerksamer Beobachter mochte das gewaltige Schiff auf einer ausreichenden Entfernung trotz seiner Größe einfach übersehen.

Bjorn, der die Eldrvitnir nun immer näher kommen sah, glaubte fast, die massigen Umrisse mit seiner Umgebung verschmelzen zu sehen. Es war unüblich, dass ein Schiff so trist und einfarbig gehalten war. Dadurch, dass es sich so vollständig den Farben des Meeres und des Himmels anpasste, erschien es beinahe so irreal wie ein Geisterschiff. Dabei wirkte der Kontrast zwischen der farblichen Tarnung und der Größe verstörend, wenn man sich Letzterer erst einmal gewahr wurde. Bjorn wusste, dass die Eldrvitnir erheblich größer war als die Seebär. Er hatte das Schiff schon zuvor in der Grotte liegen gesehen. Trotzdem war er wider willen beeindruckt, als das Fahrzeug sich nun anschickte, neben seinem eigenen Flaggschiff längsseits zu gehen.

Er musste seinen Kopf bereits in den Nacken legen, um noch die starre, geschlossene Reling sehen zu können, welche das Deck des riesigen Kriegsschiffes umgab. Dabei war es noch ein gutes Stück von der Seebär entfernt, die spürbar zu schaukeln begann, als die Wasserverdrängung des anderen Fahrzeuges sie traf. Wie ein Ruderboot, wenn ein Langschiff vorbeifährt, dachte Bjorn mit einem Anflug von Unbehagen. Die gewaltige Wand von einem Schiffsrumpf, die sich langsam auf ihn und sein Schiff zuschob, verursachten unwillkürlich ein Gefühl von Beklemmung in seiner Brust. Als die Eldrvitnir schließlich in einigen Mannslängen Abstand direkt neben der Seebär den Anker warf, trat er an die Reling heran und schaute nach oben.

Fast schien es ihm, als läge ein grauer Berg vor ihm. Die wahre Größe des neuen Kriegsschiffes wurde ihm erst jetzt richtig bewusst, als er seinen Blick von einem Ende der Seebär zum anderen schweifen ließ. Die Eldrvitnir war eineinhalb Mal so lang wie sein Schiff, dass der Falkenkralle, Stians Flaggschiff, kaum nachstand. Dazu war sie etwa doppelt so breit, aber vor allem war sie unglaublich hoch. Dieser Unterschied war deshalb so eklatant, weil auch die Großschiffe Norselunder Bauart für gewöhnlich deutlich niedriger gebaut waren als die der Festländer. Doch selbst das Flaggschiff des Königs würde sich neben der Eldrvitnir ausnehmen wie ein mittelgroßes Fischerboot.

Er hörte Rufe und Arbeitslärm, und wenig später ertönte ein Horn. Den Kopf noch immer weit in den Nacken gelegt, sah er, wie sich hoch über ihm aus der Reling des gewaltigen Schiffes etwas löste. Eine der Enterrampen glitt an dicken Seilen herab. Diese Rampen Waren auf beiden Seiten in gleichen Abständen angebracht und ruhten in eingezogenem Zustand in speziellen Halterungen an Deck. Die Öffnungen, durch die sie hinabgelassen wurden, stellten den einzigen Weg dar, das Deck des Schiffes zu verlassen. Anstelle einer gewöhnlichen Reling verfügte es über eine Wandung, die mannshoch vom Deck aufragte, mit Schießscharten versehen und stabil genug war, jedem Enterversuch eine Weile standzuhalten. Die Enterrampe, die jetzt behutsam heruntergelassen wurde, würde im Angriffsfall wie ein Fallbeil auf das feindliche Schiff hinabfahren. Bjorn beobachtete das halbe Dutzend Männer seiner Mannschaft, die sich bereitmachten, um die Rampe in Empfang zu nehmen.

Mit langen Bootshaken stützten sie die Rampe ab und ließen ihr gefährliches Ende behutsam auf das Deck der Seebär ab. Beinlange Metalldornen ruhten alsbald auf den Planken. Die letzte Mannslänge der Rampe war außerdem außen mit kleineren Dornen und Klingen bewehrt. Wenn dieses Ende seine eisernen Klauen in das Deck eines Schiffes schlug, gab es kein Entkommen. Insbesondere, wenn ein halbes Dutzend davon ihre Zähne in ein Opfer fraßen. Der Winkel der Rampe war so steil, dass es für Bjorn etwas abenteuerlich aussah, aber bevor er weiter darüber nachdenken konnte, ertönten von oben erneute Rufe. Vier Männer kamen behende die Rampe heruntergeklettert, gefolgt von einem Mann, der nicht weniger geschickt aber doch deutlich langsamer war als seine Vorhut. Wenige Augenblicke später trat Loke Batohl mit einem breiten Grinsen unter seinem struppigen Bart auf Bjorn zu und verbeugte sich leicht.

»Mylord, es ist mir eine Freude, euch mit der Eldrvitnir das erste Schiff der neuen Gråhval Klasse zu übergeben. Die Morcraban liegt voll einsatzbereit in der Werft. Was die Morrigan angeht, werden wir uns noch zwei oder drei Wochen gedulden müssen, fürchte ich.«

Bjorn nickte dem alten Werftmeister zu und warf einen weiteren Blick auf die graue Wand, welche das Kriegsschiff neben der Seebär von hier aus darstellte. Der Name, den Batohl mit Zustimmung der Jarle für die Schiffklasse vorgeschlagen hatte, war angesichts von Größe und Farbgebung nur allzu passen. Das Schiff hatte tatsächlich etwas von einem behäbigen, mächtigen Grauwal.

»Ein beeindruckender Anblick, in der Tat«, sagte er. »Selbst wenn man weiß, dass einem Schiff und Besatzung freundlich gesonnen sind. Es fällt schwer zu glauben, dass irgendein feindliches Schiff ein Mittel gegen diesen Giganten zu finden vermag. Der Winkel der Rampe erscheint mir allerdings etwas steil. Ist das so gewollt?«

»Nicht direkt«, erwiderte Batohl. »Die Schiffe sind dazu gedacht, wenn überhaupt, feindliche Großschiffe zu entern. Die Decks der großen Kriegsschiffe der königlichen Flotte liegen ein gutes Stück höher, als die der unsrigen. Deswegen liegt die Rampe jetzt so brutal steil. Noch kleinere Schiffe, beziehungsweise welche, deren Deck näher an der Wasseroberfläche liegen, erreicht man damit gar nicht. Die müsste man mit Hilfe von Enterdreggen angreifen. Wobei die vermutlich schon vom Kielwasser eines Gråhvals erledigt werden würden.

Aber im Grunde ist das Entern ja ohnehin nicht die Prämisse dieser Konstruktionen. Mit dem verstärkten Bugrumpf kann man kleinere Schiffe einfach zerdrücken und dem Rammsporn hält kein Kriegsschiff der Welt stand. Das Einzige, was diesen Schiffen gefährlich werden kann, ist eine ganze Flotte von Gegnern ohne Unterstützungsschiffe oder große Mengen an Brandgeschossen. Solange wir keinen Frontalangriff auf Padermünde fahren und mit einer ausreichenden Menge an Begleitschiffen auf die Gråhvals achtgeben, werden sie uns gute Dienste leisten. Sie sind für ihre Größe und Masse nicht eben träge, aber kleinere Schiffe werden sie natürlich ausmanövrieren. Und die meisten Schiffe sind kleiner.«

»Jarl av Falksten möchte die Eldrvitnir und die Morcraban so bald als möglich in der Nähe von Falkehaven haben. Er will so viel, wie irgend machbar ist, der uns verbleibenden Zeit dazu nutzen, um einige Manöver abzuhalten und die neuen Schiffe in die restliche Flotte zu integrieren. Wir haben bereits den Großteil der kampffähigen Schiffe dort zusammengezogen. Der Feind wird sich kaum mit Umwegen aufhalten, wenn er im Frühjahr kommt«, sagte Bjorn.

»Das ist kein Problem«, nickte Batohl. »Die Schiffe können morgen nach Falksten auslaufen. Die normale Besatzung ist vollzählig, nur was die Ruderer angeht, brauchen wir ein paar Tage, um sie zusammenzutrommeln. So viele Männer, welche die meiste Zeit über zu nichts gut gewesen wären, haben wir nicht in der Werft durchgefüttert. Aber die können innerhalb von zwei Wochen auf dem Landweg in der Hauptstadt sein. Darf ich fragen, wie der Rest der Mobilmachung vorangeht? Besonders viel bekomme ich hier nicht mit, und ich habe auch genug mit den Schiffen zu tun, aber wo ihr schon einmal da seid.«

»Es läuft reibungslos«, antwortete Bjorn. »Meine Reiterei ist so gut wie marschbereit. Sobald ich von diesem Ausflug hier zurück bin, werde ich mich um die Aufstellung der letzten Fußtruppen kümmern. Av Falksten hat bereits den Großteil seiner Truppen in und um Falkehaven und der angrenzenden Küste zusammengezogen. Wie weit der Ulfrskógr ist, weiß ich nicht. Er hat, wie es scheint, Probleme mit den Klabautern und einer unbekannten Bedrohung der Eisenminen. Aber ich bin sicher, dass er rechtzeitig bereit sein wird, wie wir alle.«

Batohl nickte und hob den Kopf, um zu den mächtigen Segeln der Eldrvitnir aufzuschauen, die vor dem stahlgrauen Himmel beinahe ein Teil der Wolken zu sein schienen.

»Es wird also tatsächlich zu einer Fortsetzung des Krieges unserer Großväter vor achtzig Jahren kommen«, meine er schließlich leise und schaute wieder zu Bjorn hinüber. »Ich finde das immer noch schwer zu glauben, wie ich zugeben muss. Nach all diesen Jahrzehnten des Friedens. Und ausgerechnet jetzt, wo unsere Fischbestände bedroht sind und es so scheint, als stelle sich die Natur gegen uns. Ich bin kein besonders religiöser Mensch, aber man könnte fast an eine Strafe der Götter glauben. Hoffen wir, dass es das nicht ist. Bei dem, was vor uns liegt, können wir die Unterstützung der alten Götter brauchen, die damals unseren Vorvätern beigestanden haben. Dennoch bin ich froh, mit diesen Schiffen meinen Beitrag dazu leisten zu können. Wenn unsere Kinder wieder so frei leben, wie all die Generationen davor, war es jedes Opfer wert.

Aber ich höre mich an wie ein alter Narr. Wollt ihr die Eldrvitnir einmal betreten und euch umschauen? Einen Blick von oben auf euer Flaggschiff werfen? Vielleicht ist das die letzte Gelegenheit, zumindest vor dem Beginn des Krieges. Ich glaube kaum, dass einer der Jarle das Risiko eingehen wird, bei einer Seeschlacht verlustig zu gehen. Jedenfalls hoffe ich das nicht.«

Bjorn stimmte zu und stieg wenig später den gleichen Schiffsrumpf hinauf, den Catherine vor Monaten in der Werft erklommen hatte. Strafe der Götter, dachte er griesgrämig, während er seinen massigen Körper hinaufzog. Möglich, dass du gar nicht so unrecht hast, alter Mann. Fragt sich nur, ob uns die alten Götter zürnen, weil wir uns vor so langer Zeit von ihnen abgewandt haben. Oder ob uns der Lichtbringer verflucht hat, weil ich seine Gesandten geschlachtet habe wie Mastschweine. In letzterem Fall könnten wir noch eine Chance haben, denn vielleicht sind die alten Götter noch bei uns und mächtiger, als viele glauben. Mich eingeschlossen. In ersterem Fall sind wir verloren, denn dann sind wir von allen Göttern verlassen. Jetzt denke ich auch schon, wie ein alter Narr.

Er blieb nicht lange auf der Eldrvitnir und beschränkte sich darauf, einen Rundgang auf dem weitläufigen Deck des Kampfschiffes zu machen. So eindrucksvoll die Größe des Schiffes auch wahr, so kannte er doch das, was sich unter dem Deck eines jedes Wasserfahrzeuges befand, nur allzu gut. Auch hier würden Laderaum, Mannschaftsunterkünfte und Ruderbänke nicht einladender und weniger trostlos und dunkel sein, als anderswo. Das Deck selbst war in gewisser Weise deprimierend, weil man von der Aussicht auf die See durch die hohe, verstärkte Bordwandung abgeschnitten war. Sie war so hoch, dass selbst Bjorn, der die meisten anderen Männer um einen Kopf überragte, nicht hinüberzusehen vermochte. Nur die vereinzelten Schießscharten ermöglichten Blicke auf die zerwühlte, graue See.

Das Deck wurde von den Halterungen für die Enterrampen und den Plattformen für die schweren Waffen dominiert. Man hatte sich letztendlich für Katapulte entschieden. Mit ihrer Hilfe konnte man Geschosse über mehrere hundert Schritt Entfernung indirekt über die Bordwände verschießen. Die Waffen waren auf den Plattformen an beweglichen Drehscheiben befestigt. Mit Hilfe von Kurbeln konnte man sie so innerhalb weniger Augenblicke in jede beliebige Richtung ausrichten. Damit verfügte das Schiff auf große Entfernung über eine beeindruckende Feuerkraft. Auf kurze Distanz waren die Katapulte hingegen wertlos. Durch die Bauweise der Großschiffe war das aber ohnehin ihr Schwachpunkt, den man mit einer ausreichenden Menge an Begleitschiffen ausgleichen musste.

Bjorn verspürte eine überraschende Erleichterung, als er wieder das Deck der Seebär unter seinen Füßen spürte. Auf eine unbestimmte Art und Weise erschien ihm das riesige neue Schiff unnatürlich und unbehaglich. Er war nie ein großer Seemann gewesen, fühlte sich aber auf der Seebär immer wohl und reiste durchaus gerne auf dem Meer. Nach dem Besuch auf der Eldrvitnir war er mit einem Mal froh, den nahenden Konflikt nicht auf den Planken eines Schiffes miterleben zu müssen.

Er würde seine Kämpfe auf dem Rücken eines massigen Schlachtrosses oder zu Fuß schlagen. Seite an Seite mit seinen Huskarlar und auf festem Boden. Und wenn es die alten Götter wirklich gibt, und sie mir wohlgesonnen sind, lassen sie mich den Triumph miterleben, dachte er grimmig. Und dann in der letzten glorreichen Schlacht fallen, damit ich nicht mehr mit der Schuld und Schande leben muss, die ich auf mich geladen habe.

Er hob das Gesicht in den Wind, genoss für einen Moment die salzige, kühle Brise des Nordmeeres und gab dann den Befehl, die Seebär auf Heimatkurs zu bringen.

Kriegsfrühling

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