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5. Kapitel 5

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Südmark

Der eigene Atem schmerzte Belandros bei jedem Zug tief in der Brust, als er endlich die ersten Schritte in dem feuchten Sand machte. Die verdammte Nussschale von einem Boot war zwei Landmeilen vor der Küste endgültig verreckt und am Ende gesunken wie ein Stein. Das Schwimmen hatte ihn völlig ausgelaugt, nachdem er schon das Rudern mit jedem Tag als beschwerlicher empfunden hatte. Dabei hatte er kaum ein Viertel der Arbeit übernommen. Shaya war seit ihrem Verlassen der sterbende Flotte so unermüdlich wie eine Wassermühle. Sie schlief nur zwei bis drei Stunden und schien keine Erschöpfung mehr zu kennen. Was ihn anging, war er heilfroh, dass gerade Flut herrschte. Das hatte es zwar etwas erschwert, sich über Wasser zu halten, aber wenigstens waren sie ohne viel Zutun an Land gespült worden.

Es war das erste Mal für ihn, dass er so weit im Norden den fremden Kontinent betrat. Auch die wenigen Male davor hatte er sich nur kurz an den Küsten oder auf kleinen, vorgelagerten Inseln aufgehalten. Meist um rasche Reparaturen an einem Schiff vorzunehmen, oder um sich behelfsmäßig in einem versteckten Lager mit dringend benötigten Vorräten einzudecken. Dass er nun für längere Zeit hier leben sollte, missfiel ihm ebenso sehr, wie der Rest seines neuen Lebens. Innerhalb weniger Stunden war alles zusammengebrochen, was er die letzten fünfzehn Jahre über gekannt, was er sich aufgebaut hatte. Die Tatsache, dass er sich jetzt in einer völlig fremden Umgebung befand, machte die Sache nicht besser. Zumal er kein Wort der hier gebräuchlichen Sprachen verstand und außerdem so kaum etwas über die Bräuche der Menschen wusste, die hier lebten.

Seine einzigen Kontakte zu den hellhäutigen Bewohnern dieses Kontinents beschränkten sich auf die Matrosen der Handelsschiffe, die sie in den letzten Jahren überfallen hatten. Selbst bei seinen Geschäften in Umbrahope hatte er sich stets von den Nordmenschen ferngehalten. Er war unter dem Abschaum der Mischblütigen der Stadt aufgewachsen und seiner erbärmlichen Abstammung treu geblieben, wie es sich gehörte. Jetzt war er nur ein alternder, zerlumpter Flüchtling. Völlig mittellos, nicht in der Lage, sich zu verständigen und zu kaum etwas zu gebrauchen. Zum wiederholten Male fragte er sich, ob es nicht besser für ihn gewesen wäre, sich den Geschöpften zu stellen, welche die Flotte überfallen hatten. Bei der Gegenwart und Zukunft, die sich ihm darbot, war der Tod plötzlich weniger grauenerregend, als noch einige Wochen zuvor. Aber natürlich hatte der Tod nicht den eigentlichen Schrecken dargestellt, sondern die Abartigkeit der Kreaturen. Wenn die Flotte von anderen Piraten oder Soldaten angegriffen worden wäre, hätte er gekämpft, anstatt sich zu verstecken. Du hast gewählt, dachte er mit einem wehmütigen Lächeln, also bezahle den Preis des Feiglings.

Er blieb stehen und stützte sich mit den Händen schwer auf die Knie. Langsam aber tief sog er behutsam die salzige Luft in die Lungen. Das verräterische Stechen an drei Stellen zu beiden Seiten seiner Brust war bereits etwas erträglicher geworden. Nur in der Mitte zur Rechten des Brustkorbes spürte er noch bei jedem Atemzug, wie ein kleiner Dolch ihn stach. Anfangs hatte er befürchtet, elendig an seinem eigenen Blut zu ersticken. Da er immer noch lebte, konnte jedoch keine der gebrochenen Rippen seine Lunge getroffen haben. Es würde noch lange weh tun, vielleicht bis ans Ende seiner Tage, aber krepieren würde er nicht daran. Ebenso wenig wie an den vielen Prellungen und den Platzwunden. All das waren Verletzungen, die nicht etwa vom Kampf herrührten.

Er war, wie jeder andere auf der Flotte, völlig von dem Überfall aus dem Nichts überrascht worden. Niemand hatte gewusst, wer oder was sie überhaupt angriff. Nicht einmal von woher war ohne weiteres zu erkennen gewesen. Er hatte sich, sein Schwert in der Hand und bereit zum Kampf, an der Seite der anderen Piraten befunden, als es begonnen hatte. Zuerst hörte man nur die Schreie der Männer auf den Tauchbooten. Dann verschwanden die Boote eines nach dem anderen. Wurden einfach von der See geschluckt, wie es aussah. Als ob ein riesiger Fisch unter ihnen sein Maul öffnete und sie einsog. Bevor sie etwas unternehmen konnten, ertönten weitere Rufe von den naheliegenden Schiffen der Flotte, und bald darauf drangen die Klänge von Kämpfen zu ihnen herüber. Seine Erinnerungen wurden an dieser Stelle verworren, denn da hatte er zum ersten Mal gesehen, was die See da auf die Decks der Schiffe spuckte. Das Meer, auf dem er jahrzehntelang zu Hause gewesen war, hatte sich mit einem Mal in ein fremdes und feindseliges Element verwandelt. Die tentakelbewehrten Alpträume, die das Auge sich beinahe zu erfassen zu weigern schien, fielen zu Hunderten und tausenden über die Piratenflotte her. Er selbst hatte nur noch bruchstückhafte Erinnerungen daran, wie er es irgendwie unter Deck schaffte.

In einer der hintersten Ecken des Laderaumes der Wasserschlange fand er in einer halbleeren Kiste mit Krimskrams ein notdürftiges aber effektives Versteck. So feige und erbärmlich sein Handeln in diesem Moment war, so war es trotzdem, oder vielleicht gerade deswegen, von Erfolg gekrönt. Es hieß nicht zu unrecht, dass der Krieg stets die Feiglinge schone und die Tapferen bestrafte. Doch das Schicksal schien Feiglinge an jenem Tage zu hassen. In dem Augenblick, in dem das Schiff auf Grund lief, rutschte er mitsamt seinem Versteck quer durch den Laderaum und mit einem Schlag verschwand die Welt im Dunkel. Als er später zu sich kam, lag er unter einem Berg von Trümmern, zerschunden und mit lädierten Rippen. Er konnte von Glück sagen, sich keine weiteren Knochen gebrochen zu haben, und in dem sich langsam mit Meerwasser füllenden Schiffsrumpf elendig krepiert zu sein. Wenig später, nachdem er sich wieder auf Deck getraut hatte, war er in Shaya hineingelaufen.

Er richtete sich gleichermaßen mühsam wie vorsichtig auf und schaute zu der kleinen Gestalt hinüber, die in zehn Schritten Entfernung auf ihn wartete. Sie stand scheinbar entspannt da und ihr vernarbtes Gesicht war völlig neutral, doch er spürte förmlich die Ungeduld, die sie ausstrahlte, so spürbar wie die Hitze von einem Kohleofen. Fast ebenso intensiv wie die neue, unheimliche Stärke, die so deutlich von ihr ausging, wie ein inneres Licht. Die Veränderungen wären selbst dann unverkennbar gewesen, wenn sie nicht auf unerklärliche Weise den Angriff der Kreaturen auf offener See überlebt hätte. Und wenn sie nicht dazu in der Lage gewesen wäre, jeden Tag zwanzig Stunden lang zu rudern wie ein Galeerensklave. Er war sicher, dass sie sich anders bewegte als früher. Die Kraft und Ausdauer, die sie zur Schau stellte, ließen ihn oft schaudern. Sie hatten während ihrer Reise nicht viel gesprochen, und sie hatte sich schlichtweg geweigert, ihm zu erzählen, was ihr widerfahren war. Das war in gewisser Weise natürlich nur recht und billig. Er konnte gut darauf verzichten, ihr die Einzelheiten seiner eigenen Erlebnisse zu schildern. Von der beschämenden Feigheit zu berichten, der er sein Leben verdankte.

»Sagst du mir, wohin wir gehen, und warum?«, wollte er mit einem matten Lächeln wissen. »Ich habe vermutlich keine große Wahl, aber ich würde mich besser fühlen, wenn ich in dieser Fremde wenigstens wüsste, wohin unsere Reise führt.«

Wenn wir überhaupt eine gemeinsame Reise unternehmen, fügte er in Gedanken hinzu. Wenn du mich nicht zurücklässt. Was wahrscheinlich langfristig besser für mich wäre, wenn ich recht darüber nachdenke. Obwohl ich keinen Schimmer habe, wie ich hier überleben soll. Ich weiß nicht, wo ich bin, ich kann mit keinem Menschen ein Wort wechseln und ich bin verletzt. Aber deine Gegenwart könnte sich als noch gefährlicher erweisen. Hat der Wahnsinn bei Schanga auch so subtil angefangen? Habe ich es damals einfach übersehen?

»Wir gehen nach Norden«, erwiderte Shaya ruhig. »Ich weiß nicht genau, wohin. Ich werde es wissen, wenn es so weit ist. Ich muss jemanden treffen, den ich erkennen werde, wenn es so weit ist. Mehr kann ich dir nicht sagen, Bel, und viel mehr weiß ich auch selbst nicht. Du kannst mir vertrauen und mit mir kommen, oder es sein lassen und in der nächsten Siedlung bleiben, an der wir vorbeikommen, um wieder auf die Beine zu kommen. Dann kannst du dich irgendwann alleine wieder nach Süden durchschlagen und eine Überfahrt nach Umbrahope suchen. Es tut mir leid, aber ich muss nach Norden. Ich kann nicht anders.«

Mit einer Mischung aus Traurigkeit und Bestürzung wurde ihr klar, dass ihre letzten Worte zum Teil eine Lüge waren. Es tat ihr nicht leid. Ein Teil von ihr wünschte, er bliebe einfach zurück. Dieser Teil wusste, dass es am leichtesten wäre, wenn ihr alter Freund, ihr Lebensretter, gemeinsam mit den anderen Piraten am Grunde des Meeres verfaulen würde. Er hielt sie nur auf, weiter nichts. Dieser Mangel an Mitgefühl mit dem Mann, dem sie so viel verdankte und der sich so liebevoll um sie gekümmert hatte, schockierte sie, wenn auch nur für einen Moment. Dann verspürte sie erneut nichts als die eiserne Entschlossenheit und unerschütterliche Ruhe, die nun ihre steten Begleiter waren.

Noch vor wenigen Tagen hatte sie darüber nachgedacht, dass Belandros in gewisser Weise die Lücke gefüllt hatte, die der Tod von Okatoh in ihr junges Leben gerissen hatte. Das war unmittelbar vor dem Angriff der Kreaturen gewesen. Kurz vor ihrer unheimlichen Verschmelzung mit ihrem neuen Herrn. Von dieser emotionalen Verbundenheit war nichts geblieben. Wenn sie in sich hineinlauschte, empfand sie für den verletzten Eunuchen nichts, als ein melancholisches Bedauern. Ein Gefühl, das man haben mochte, wenn man einen sehr alten Hund ansah, der einem treu gedient hatte, jetzt aber am Ende seiner Tage angelangt war. Man würde den treuen Freund eine Weile vermissen, wenn er fort war, aber das war eben der Lauf der Welt.

Belandros war nicht sicher, welche der beiden Möglichkeiten Shaya lieber war. Vermutlich die Letztere, gestand er sich mit einem Gefühl von Verlorenheit und einem Anflug von Einsamkeit ein. Im Grunde spielte es für ihn kaum eine Rolle. Seine Kenntnisse von diesem Land waren so schlecht, dass er überall den Tod finden konnte. Selbst wenn er nicht in so erbärmlicher körperlicher Verfassung gewesen wäre, hätte er allein kaum eine Chance gehabt. Wenn man ihn nicht einfach totschlug, würde er verhungern.

»Wenn es dir recht ist, werde ich dich zumindest noch eine Weile begleiten«, meinte er mit einem wehmütigen, dünnen Lächeln. »Ich gebe mir Mühe, dich so wenig wie möglich aufzuhalten. Wenn wir an einem größeren Hafen vorbeikommen sollten, findet sich unter Umständen eine Gelegenheit für mich, nach Umbrakali zurückzukommen. Du scheinst dir recht sicher zu sein, dass du hier zurechtkommen wirst. Vielleicht kannst du mir ja helfen, mich in ein Schiff zu setzen, das nach Süden fährt. Oder ich komme mit dir, bis du deine Angelegenheit erledigt hast. Gedenkst du danach wieder nach Hause zurückzukehren?«

Sie sah ihm für einen kurzen Augenblick in die Augen und er schauderte ob des Funkens eisiger Kälte, den er für einen Wimpernschlag lang zu sehen glaubte. Dann wurde der Blick in dem ausdrucklosen Narbengesicht ein wenig wärmer.

»Ich weiß es wirklich nicht, Bel«, sagte sie ruhig. »Ich bin mir ziemlich sicher, dass ich mich hier zurechtfinde. Wir werden uns in Küstennähe halten und nach Norden gehen. Was später wird, kann ich dir nicht sagen. Es ist deine Entscheidung. Wenn du nach Süden möchtest, werde ich tun, was ich kann, um dir zu helfen, sobald wir an einen Hafen kommen, der passende Schiffe vor Anker hat. Ich muss sehr weit nach Norden.«

Er nickte langsam und entspannte sich ein wenig. In dem einen kurzen Moment, als die ungewohnte Kälte in ihrem Blick flackerte, hatte er tatsächlich Angst vor ihr verspürt.

»Ich will dir nicht reinreden, vor allem, weil ich hier so orientierungslos bin wie eine Blasshaut in Sholah’ aris. Aber ich muss zugeben, dass mir bei dem Gedanken nicht ganz wohl ist, so nahe an dem Meer zu reisen, aus dem diese Kreaturen gekommen sind. Hast du das bei deiner Wegplanung bedacht?«

»Ja, das habe ich«, erwiderte sie sofort. »Es war auch mein erster Impuls, mich vom Wasser wegzubewegen.«

Was nur die halbe Wahrheit war. Ihr graute es ebenso vor den widerwärtigen Dingern, welche die Flotte zerstört hatten, wie dem Eunuchen. Sie spürte, dass sie stärker war als je zuvor, und empfand ein Selbstbewusstsein und eine innere Geborgenheit, die sie nie für möglich gehalten hätte. Doch all das half nichts gegen den Schrecken, den die völlige Andersartigkeit der Kreaturen tief in ihr auslöste, die sie am Meeresgrund gesehen hatte. Im Gegensatz zu Belandros wusste sie jedoch, dass das Meer nicht die natürliche Brutstätte dieses Übels war. Das Meer litt ebenso unter ihnen wie Menschen, Tiere und jedes andere Leben auf dieser Welt. Außerdem barg die gleiche See, irgendwo weit draußen und tief unter dem Wasser, den Hort ihres Verschworenen. Die Quelle ihrer neu entdecken Stärke und Gelassenheit, die sie leitete und schützte.

»Aber es hat seine Vorteile, an der Küste zu bleiben«, fuhr sie nach einer Pause fort, von der sie wusste, dass sie so lang war, dass sie Belandros aufgefallen sein musste. Er sah sie unverwandt an und ließ sich nichts anmerken. War es Vorsicht, die sie in seinem Blick sah? Angst? Doch was spielte das noch für eine Rolle. »Zum einen kenne ich mich ebenfalls nicht besonders gut in dieser Gegend aus. Wenn wir uns am Wasser halten, können wir uns nicht verirren. Wir haben eine Seite gegen Wegelagerer oder ähnliche Gefahren gedeckt. Zum anderen können wir vielleicht irgendwann mit einem Schiff die Reise etwas beschleunigen.

Also komm weiter. Geh, solange du kannst und sag Bescheid, wenn du wieder eine Pause brauchst.«

Die Stimme ihres neuen Herrn hallte unwillkürlich in ihrem Kopf wieder. Er war nicht wirklich hier, es war nur eine Erinnerung an ihre letzte Begegnung. Zumindest glaubte sie das.

Sie greifen immer wieder an. Sie sind zahllos. Ich kann dem nicht mehr lange standhalten. Eile dich, Kind.

Aber wie viel schneller konnte sie schon im weit entfernten Norden der Welt ankommen, selbst wenn sie so herzlos war, den Mann, dem sie ihr zweites Leben verdankte, zurückzulassen? Einige Tage? Eine oder zwei Wochen? Und welche Bedeutung hatte die Zeit überhaupt für ihren Herrn, was bedeutete nicht mehr lange für ihn? Und wie lange kämpfte er schon? Er mochte sich bereits seit Jahrzehnten gegen den fremden Feind zur Wehr setzen. Ebenso gut konnte er in den paar Tagen seit ihrem ersten Kontakt gefallen sein, obgleich sie sicher war, dass sie davon etwas gespürt hätte.

Er hatte ihr gesagt, dass sie fortan einen Teil seiner selbst in sich tragen würde, und sie spürte diese Kraft jeden Tag und zu jeder Stunde. Diese Macht Würde ihre Schritte leiten und über sie wachen. Es gab keinen Grund, ihre Entscheidung anzuzweifeln, Belandros bei sich zu behalten. Ihr Herr hatte ihr deutlich zu verstehen gegeben, dass er ihre Unabhängigkeit und freien Willen befürwortete. Sie würde ihm dienen, aber sich selbst dabei nicht völlig aufgeben. Sie warf noch einmal einen kurzen Blick zurück, um sich davon zu überzeugen, dass sie nicht zu schnell für ihren Freund ging. Dann konzentrierte sie sich wieder auf die vor ihnen liegende Küste und die Hügelketten im Osten. Ihr Blick war schärfer als je zuvor in ihrem Leben und ihr würde keine drohende Gefahr entgehen.

Hinter ihr bemühte sich Belandros, einen Kompromiss zwischen Schnelligkeit und seinen Schmerzen zu finden. Er musste achtgeben, dass er nicht irgendwann vor Erschöpfung zusammenbrach. Auch eine Nachlässigkeit, die ihm einen weiteren gebrochenen Knochen einbringen mochte, war das Letzte, was er jetzt gebrauchen konnte. Auf der anderen Seite wagte er nicht, sich zu sehr zu schonen, um nicht zu weit hinter Shaya zurückzubleiben. Der innere Kampf, den sie seinetwegen ausfocht, war ihm nicht entgangen. Er vermochte nicht zu sagen, ob er mit dem zusammenhing, was sie so plötzlich verändert hatte, aber es spielte für seine Zukunft auch keine Rolle. Er musste am Leben bleiben und einen Weg zurück nach Hause finden, alles andere war vorerst bedeutungslos.

Er war froh, dass sie zumindest für den Moment bei ihm blieb, aber er war auch auf der Hut. Spätestens, nachdem er gesehen hatte, was aus Schanga geworden war. Er zweifelte nicht daran, dass das kleine Waisenmädchen, dass er vor so vielen Monden zerfetzt und blutend aus der Gosse von Umbrahope gezogen hatte, ihm unter Umständen gefährlich werden konnte. Noch weniger stand für ihn in Frage, dass sie ihn ohne mit der Wimper zu zucken zurücklassen würde, wenn er sie zu sehr aufhielt. Was immer sie gen Norden trieb, verlieh ihr die unheimliche Stärke und Ausdauer, die er in den Tagen seit dem Begin ihrer Flucht an ihr beobachtet hatte, dessen war er sicher.

Er warf bange Blicke zu beiden Seiten ihres Weges. Die Hügel im Osten und die Küste im Westen. Er fragte sich, wo die unmittelbarere Gefahr für sein Leben lag. Bei dem Unbekannten hinter den Hügeln oder in den Tiefen der See, wo vielleicht schon die unheimlichen Kreaturen am Meeresboden gen Land krochen. Oder aber in den Händen der zierlichen Gestalt, der er humpelnd folgte.

Die nächsten Tage vergingen für Belandros in quälender Gleichartigkeit. Sein Zeitgefühl war ihm fast vollständig abhandengekommen. Beinahe kam es ihm so vor, als wäre ein Teil von ihm auf See geblieben. Er fühlte sich fehl am Platze, wenn er längere Zeit auf dem Festland verweilte, und dieses Land war nicht einmal das seine. Mal stapfte er stumpfsinnig dahin und verlor sich in einem stolpernden Rhythmus aus schmerzerfüllten Schritten, um sich darüber zu wundern, warum Shaya ihn halten ließ. Wenn er sich dann niederließ, um zu rasten, überraschte ihn nicht selten die Tiefe seiner Erschöpfung. Andere Tage erschienen ihm vor Schmerzen in Brust und Gelenken bereits kurz nach dem morgendlichen Aufbruch unerträglich lang.

Er zweifelte bei all dem nicht daran, dass Shaya die ganze Zeit über ohne Pause hätte marschieren können. Und ohne Schlaf vermutete er, darüber hinaus im doppelten Tempo von dem, was sie jetzt an den Tag legte. Trotzdem schleppte sie ihn mehr oder weniger mit, Landmeile um Landmeile. Bislang hatten sie sich von jeder Form von menschlicher Ansiedlung ferngehalten. Gleiches galt für die beiden Straßen, an denen sie vorbeigekommen waren. Er hatte sie nicht gefragt, warum sie sich auf Schleichwegen hielt, wo immer es ging. Bisher war er so müde und zerschunden gewesen, dass er sich einfach nur darauf konzentriert hatte, so schnell und lange wie möglich einen Fuß vor den anderen zu setzen. Doch mit der Zeit heilten seine Wunden und er erhielt ein wenig seiner alten Vitalität und Spannkraft zurück.

Sie hatten bislang keinen Menschen getroffen. Das lag in erster Linie an Shayas scharfen Sinnen. Oft wechselte sie die Richtung, ohne dass er einen Grund dafür ausmachen konnte. In einigen dieser Fälle konnte er wenig später winzige Punkte am Horizont erkennen, die er für andere Reisende hielt. Natürlich mochte es sich ebenso gut um Patrouillen ansässiger Gesetzesvertreter handeln. Männer, die sich in diesen unsicheren Tagen jedem Fremden gegenüber feindselig verhalten würden. Belandros war sich wohl bewusst, wie sie beide aussahen. Nämlich genau wie die zerlumpten, heruntergekommenen Flüchtlinge, die sie waren. Trotzdem glaubte er, dass Shaya auch einfachen Händlern oder Bauern aus dem Wege ging.

Sie fanden immer wieder kleine Wasserstellen, an denen sie ihren Durst löschen konnten. Oft waren sie so klein und unscheinbar, dass er es für unmöglich hielt, dass sie jemand finden konnte, der nichts von ihnen wusste. Er hatte Shaya nur einmal kurz darauf angesprochen, und sie hatte stumm auf ihre Nase gedeutet und gelächelt. Vor einigen Wochen hätte er es für einen Scherz gehalten, so selten sie auch welche machte. Inzwischen zweifelte er nicht daran, dass sie Wasser auf mehrere Landmeilen Entfernung zu riechen vermochte. Er hatte gesehen, wie sie gerudert hatte. Nahrung war hier, in den südlichen Gefilden des fremden Kontinents, kein Problem gewesen.

Obwohl es nicht so warm und das Land nicht so üppig war, wie es vielerorts in Umbrakali der Fall war, litten sie keinen Hunger. Es gab nur vereinzelt Sträucher, die essbare Beeren trugen, aber sie entfernten sich nie weit vom Wasser und Fische gab es in diesen Landen genug. Er hatte ihnen grobe Angeln bauen wollen, doch bisher hatten sie immer Plätze am Strand gefunden, an denen die Fische weit genug bis ins seichte Wasser kamen. Shaya fing sie mit einem einfachen Holzspieß und so schnellen Bewegungen, dass Belandros sie kaum wahrnahm. Wenn sie es darauf anlegten, würden sie vermutlich noch eine Weile so weiterkommen, aber nicht mehr sehr lange. Wenn sie durch dichter besiedeltes Land kamen, würden sie nicht mehr jedem und allem aus dem Wege gehen können.

»Hat es einen besonderen Grund, dass du jeder lebenden Seele aus dem Wege gehst?«, fragte er schließlich, nachdem das kleine Feuer, an dem sie ihren Fisch gebraten hatten, verscharrt war. »Bist du dir nicht sicher, was deine Verständigung mit den Menschen hier angeht, oder fürchtest du eine Gefahr? Also eine andere, als die offensichtlichen, für zwei Gestalten wie uns?«

Sie suchte seinen Blick und die einst so vertrauten, oft unsicheren Augen erschienen ihm unergründlich und fremd. Kalt und unerschütterlich.

»Ich bin sicher, dass ich mich einigermaßen verständigen kann«, sagte sie ruhig. »Aber es gibt keinen Grund, ein unnötiges Risiko einzugehen. Zumal wir bis jetzt nur an einzelnen Gehöften oder winzigen Fischerdörfern vorbeigekommen sind. Ich möchte warten, bis wir eine Ortschaft finden, in der wir eine Chance haben ein Schiff zu chartern. Beziehungsweise zu stehlen oder zu kapern. Vorerst kommen wir noch gut zurecht.«

Er nickte langsam und machte sich daran, seine zerlumpte Kleidung zu richten. Es würde ein weiterer langer Tag werden. Er war müde und fühlte sich alt, aber wenigstens musste er nicht mehr durchgehend mit den Schmerzen in seinen Gelenken kämpfen. Besonders die lädierten Beine hatten schwer an seinen Nerven gezerrt und waren der Hauptgrund dafür gewesen, dass er sie aufgehalten hatte. Inzwischen bestanden seine einzigen Beschwerden aus dem gelegentlichen Stechen in den Rippen. Das war etwas, dass ihn vermutlich noch über Wochen hinweg begleiten würde, aber es war einigermaßen erträglich. Mit einem Seufzen klopfte er sich den Staub aus den Lumpen, die seinen Körper umhüllten, und machte sich hinter Shaya auf den Weg.

Einige Stunden später veränderte sich die Landschaft, die sie durchquerten, innerhalb weniger Landmeilen. Das gewohnte Hügelland gen Osten und die Dünenkette, auf der sie ihr Weg geführt hatte, flachten abrupt ab. An ihre Stelle trat ein geschwungener Landstrich, gerade flach genug um als Ebene bezeichnet zu werden. Der Boden wurde weniger sandig und schien fruchtbarer zu sein, als der unmittelbar an den Sandstränden. Den Bewuchs eine Grasfläche zu nennen, wäre eine Übertreibung gewesen, doch sprossen hier überall Wildkräuter und verschiedene Arten wilder Gräser, die dünn, aber teilweise hüfthoch wuchsen. Shaya hielt gegen Mittag für eine kurze Pause an.

Belandros nutzte die Verschnaufpause und setzte sich für eine Weile in das vereinzelt bereits blühende Grün der Gräser. Shaya runzelte missbilligend die Stirn, als sie ihren Blick über den Landstrich vor ihnen schweifen ließ. Vom Strand an, so weit Belandros in das Landesinnere sehen konnte, bot sich ihm das gleiche Bild. Dem Gesichtsausdruck seiner Begleiterin nach sah sie noch weiter gen Osten nichts anderes als er selbst. Auf einer so flachen Ebene würde es schwerer sein, Fremden auszuweichen, selbst wenn Shayas Sinne jetzt schärfer waren als die jedes normalen Menschen.

Es wurde später Nachmittag und Belandros glaubte bereits, die ersten Spuren der beginnenden Abenddämmerung zu erkennen, als Shaya erneut halt machte. Diesmal blieb sie abrupt stehen und legte den Kopf schief wie ein Hund, der etwas gehört hatte, das er nicht ganz zuordnen konnte.

»Wir bekommen ein Problem«, sagte sie leise. »Da vorne kommt ein Trupp Reiter auf uns zu. Denen können wir hier nicht ausweichen, sie sind zu schnell und es gibt keine Deckung. Es macht keinen Sinn, weiterzugehen. Wenn sie uns sehen, werden sie uns einholen. Wir sollten hier auf sie warten. Ist das in Ordnung für dich?«

Belandros schluckte und zuckte mit den Schultern.

»Früher oder später musste das passieren. Von mir aus können wir gerne hier warten. Ich bin für jede Pause dankbar, und dieser Ort ist so gut wie jeder, den wir in Kürze erreichen können.«

Was nichts anderes bedeutet, als das er absolut scheiße ist. Wir befinden uns hier für jeden Reiter oder Schützen auf dem Präsentierteller. Nicht, dass es bei Fußsoldaten anders aussehen würde. Zwei abgerissene Vagabunden sind wir, weiter nichts.

Shaya nickte, hatte ihren Blick aber schon wieder abgewandt und schaute gen Norden.

»Hast du eine Ahnung, was das für Leute sind?«, wollte er wissen. »Kannst du sie beschreiben?«

»Ich habe keine Ahnung, wer oder was sie sind. Ich glaube, dass ich sie verstehen kann, wenn sie sprechen. Ihre Sprache sprechen, wenn ich sie einmal gehört habe. Aber die Gebräuche hier sind mir völlig fremd.

Es sind vierzehn, soweit ich das erkennen kann. Vier von ihnen mit Brustplatten und Rüstungsteilen, die aussehen wie die der schweren Wachen in Umbrahope. Sie tragen weiße Wappenröcke über der Rüstung und, soweit ich das sehen kann, Umhänge in einer Art dunklem Violett. Die anderen tragen die Farben Gelb und Braun. Sie haben Leder und Kettenhemden. Alle sind gut bewaffnet, die Pferde sind groß und sehen gesund aus. Das sind bestimmt keine Diebe oder Räuber, aber ob das gut oder schlecht für uns ist, wird sich zeigen.«

»Verdammt«, murmelte Belandros. »Keine Ahnung, was die in den Kettenhemden angeht, aber die schwer gerüsteten in Weiß und Purpur sind Krieger des Glaubens, der hier herrscht. Ich habe in Umbrahope üble Dinge über die Kirche und ihre Kämpfer gehört. Wenn nur die Hälfte davon wahr ist, müssen wir sehr auf der Hut sein. Gib acht, was du ihnen sagst, wenn du sie wirklich verstehst. Wir sollten so nahe wie möglich bei der Wahrheit bleiben.«

»Ich gehe davon aus, dass du ihnen nicht erzählen willst, dass wir Piraten sind. Also soll ich sagen, wir sind Schiffbrüchige, nehme ich an?«, sagte Shaya.

»Richtig. Wir kommen von einem kleinen Handelsschiff aus Umbrakali. Das letzte, was wir mit Sicherheit sagen können, ist, dass wir vor der Südküste in Seenot geraten sind. Außer uns hat niemand überlebt. Wir wurden an die Küste geschwemmt und haben keine Ahnung, wo wir sind. Ob uns das rettet, weiß ich nicht. Aber es ist nahe genug an der Wahrheit, dass es uns jeder glauben wird, so wie wir aussehen.«

Sie nickte stumm und fixierte weiterhin die Reiter, die für Belandros noch lange unsichtbar am Horizont nahten.

Zuerst hatte er die beiden kleinen Punkte am Horizont gar nicht bewusst wahrgenommen. Er führte diese Patrouille nun schon seit mehreren Wochen in diesem Abschnitt der Küste. Auf der gesamten Länge der Strände und Klippen des Reiches, von der nördlichen Westmark bis hin zur südlichen Südmark, taten es ihm zahllose andere Gruppen gleich. Auf Befehl des Königs schenkte man den Stränden mittlerweile ebenso viel Aufmerksamkeit, wie der äußeren Grenze der Ostmark und den Randgebieten des Reiches der verräterischen Silvalum.

Überall war ein Teil der örtlichen Mitglieder des Templerordens abgestellt worden, um die Überwachung zu leiten. Unterstützt wurden sie von einfachen Fußtruppen oder Milizen. Die Männer, die mit ihm und seinen drei Brüdern ritten, waren kaum besser als Hilfstruppen. Lediglich ihre Ausrüstung war besser als die einer simplen Miliz. Doch in diesen Zeiten musste man mit dem arbeiten, was einem zur Verfügung stand. Die gut ausgebildeten Truppen marschierten zumeist gen Norden, um an dem Krieg gegen die Norselunder teilzunehmen. Der Großteil des Ordens, mit Ausnahme der Brüder in der Nordmark, war mit der Sicherung und Verteidigung des Reichs gegen die anderen Übel betreut, die sie heuer bedrohten.

Ritterbruder Matheo war die derzeitige Entwicklung nur recht. Er war seit über zwanzig Jahren Mitglied des Ordens und genoss es im Stillen, noch einmal so viel unterwegs zu sein, wie in seiner lange zurückliegenden Jugend. Wie bei so vielen der älteren Brüder war sein Glaube mehr eine liebgewonnene Angewohnheit, als eine echte Überzeugung. Seine Treue zum Reich hielt sich ebenfalls in Grenzen und gegen ein wenig Kampf und Blutvergießen hatte er noch nie etwas gehabt. Er war ein einfacher Mann, für den der Eintritt in den Orden vor zweiundzwanzig Jahren in erster Linie das Ende von Hunger und Armut bedeutet hatte.

Jetzt kniff er die Augen zusammen und konnte erstmals Einzelheiten der beiden Herumtreiber ausmachen, auf die seine Gruppe zuhielt. Denn das waren sie ganz eindeutig, Vagabunden oder Schlimmeres. An sich boten sie einen wenig bedrohlichen Anblick. Ein magerer, ausgezehrter Mann, klein wie eine Frau und vom Alter her schwer zu schätzen. Auf jeden Fall war er deutlich älter als seine Begleiterin. Sie war noch zierlicher und kleiner als er und fast noch ein Kind. Irgendetwas schien mit ihrem Gesicht nicht zu stimmen, aber er konnte auf die große Entfernung nicht erkennen, was es war. Ein grimmiges Lächeln umspielte seine Lippen, als er das Tempo erhöhte. Es war schon viel zu lange her, dass sie auf Streuner getroffen waren. Etwas anderes, als ein paar arme Seelen zu malträtieren, hatten sie bislang überhaupt nicht zu tun gehabt. Die Küsten waren ruhig und um diese Jahreszeit gab es nur wenige reisende Händler.

Sie näherten sich den beiden Fremden schnell und Matheo erkannte bald, dass er mit seiner Einschätzung recht gehabt hatte. Die Kleidung der beiden war nicht einfach dreckig oder abgerissen, sondern bestand praktisch nur noch aus Lumpen. Er sah auch, was mit dem Gesicht des Mädchens nicht stimmte. Es sah aus, als habe es jemand durch einen groben Fleischwolf gedreht. So kommt wenigstens keiner der dummen Bauern hier auf die Idee, sich mit ihr vergnügen zu wollen, dachte er. Mit einem kurzen, grimmigen Blick auf die Männer, welche die Farben des Herzogs der Südmark trugen, trieb er sein Pferd noch etwas mehr an und setzte sich an die Spitze der Gruppe. Seine Augen huschten zwischen den beiden Fremden hin und her, die sich scheinbar seit einiger Zeit nicht vom Fleck rührten. Seit sie die Reiter bemerkt hatten, waren sie stehengeblieben und warteten jetzt.

»Heda«, rief Matheo, als er sein Pferd keine zehn Schritte von ihnen entfernt stoppen ließ. Er ließ sich Zeit, bis die anderen aufgeschlossen hatten, und glitt dann aus dem Sattel. Links und rechts taten es ihm seine Brüder und die Soldaten, so man sie denn so nennen wollte, gleich.

»Wer seid ihr, und was habt ihr hier zu suchen? Die Küsten stehen unter Bewachung. Es herrscht Krieg. Herumtreiber sind hier nicht erwünscht.«

Der kleine Mann sah ihn mit offensichtlichem Unverständnis an. Entweder, er war schwachsinnig, oder er verstand die Sprache nicht. Das Mädchen legte für einen Augenblick den Kopf schief, dann antwortete sie ihm mit starkem Akzent aber gut verständlich. Beim Klang ihrer Stimme spürte Matheo einen Schauder über seinen Rücken fahren, ohne genau sagen zu können warum. Die Stimme war für so eine zierliche Person ungewöhnlich voll und sehr tief. Dabei war sie keineswegs unangenehm, aber vielleicht war es gerade der Kontrast, der ihn irritierte. Diese sinnliche Stimme und das so verheerte Gesicht.

»Wir kommen aus dem Kontinent, den euer Volk Haquadelaor nennt«, sagte sie. »Mein Gefährte und ich haben auf einem kleinen Handelsschiff gedient. Der Wind hat uns abgetrieben und wir sind in Seenot geraten. Unser Schiff ist vor Tagen irgendwo an der Küste gesunken. Wir sind die Einzigen, die überlebt haben. Wir wissen nicht, wo wir sind, und suchen seitdem nach einer größeren Ortschaft.«

»Das werden wir überprüfen«, meinte Matheo. »Wenn an der Küste in der Nähe ein Schiff gesunken ist, werden wir Spuren davon oder das Wrack selbst finden. Ihr könnte ebenso gut Späher von irgendwelchen Piraten oder sonst etwas sein. In diesen unsicheren Zeiten ist jeder Vagabund verdächtig. Wir werden euch in die nächste Stadt bringen. Siero liegt ein paar Landmeilen im Nordwesten an der Küste. Dort werdet ihr inhaftiert, bis wir das Schiff gefunden haben oder eure Angaben sonst wie bestätigen können. Immerhin werdet ihr ein Dach über dem Kopf und etwas zu Essen haben, das ist vermutlich mehr, als ihr verdient.«

»Aber wir müssen nach Norden«, widersprach das Mädchen. »Wir können nicht tagelang irgendwo warten.«

»Wenn ich es anordne, bleibt ihr Jahre in den Kerkern der Stadt«, gab Matheo halb erzürnt und halb amüsiert zurück. »Und jetzt haltet euren Mund, bevor ihr eure Lage noch verschlimmert. Los da, Burschen, nehmt sie fest und seht zu, dass ihr sie wegschafft. Tut etwas für die feinen Kettenhemden, in die man euch gesteckt hat.«

Sofort trat ein halbes Dutzend der Männer in den Wappenröcken der Südmark vor. Zwei gingen auf den schmächtigen Mann zu, während sich vier von ihnen dem Mädchen näherten.

Belandros verstand kein Wort von dem, was gesprochen wurde, aber das war auch nicht nötig. Es war nur zu offensichtlich, dass genau das passierte, was er beim ersten Kontakt mit offiziellen Vertretern der Obrigkeit dieses Landes befürchtet hatte. Was immer Shaya den Männern sagte, war offenbar wirkungslos. Er sah, dass die Männer, die auf sie zukamen, außer ihren Rüstungen auch einfache Streitkolben an den Hüften trugen. Die schwerer gerüsteten vier Ritter trugen Langschwerter. Er selbst hatte einen unterarmlangen Dolch, doch er machte sich nicht die Mühe, ihn zu ziehen. Es war hoffnungslos, zumal er froh war, sich ohne fremde Hilfe auf den Beinen halten zu können.

Mit einem Schaudern sah er, wie ein Zittern durch Shayas Körper ging, dann spannten sich ihre Muskeln. Die vier Männer, die zu ihr kamen, waren noch einige Schritte von ihr entfernt, doch die beiden, die sich seiner annehmen wollten, befanden sich jetzt auf ihrer Höhe. Er wollte noch ein Wort der Warnung sagen, irgendetwas, um sie von dem Selbstmord abzuhalten, den sie vorzuhaben schien, doch er wusste, dass es sinnlos war. Er ahnte, worum es ging. Die Fremden wollten sie, wenn nicht Schlimmeres, einsperren oder vertreiben. Shaya wollte oder musste nach Norden und sie würde sich von nichts und niemandem davon abhalten lassen. Sie musste wirklich den Verstand verloren haben, wenn sie sich mit vierzehn schwer gerüsteten Männern anlegte.

Er sah, wie ihre Hand zu dem Entermesser glitt, dass sie an der Hüfte trug. Sie bewegte sich unglaublich schnell, und als sie es zog, konnten seine Augen ihren Bewegungen nicht mehr folgen. Das Nächste, was er einen Wimpernschlag später sah, war eine Blutfontäne, die aus dem Hals des linken Mannes schoss, der gerade in seine Richtung an Shaya vorbeigehen wollte. Belandros sah seinen Kopf noch aus dem Augenwinkel davonrollen, dann zerriss der Schrei des Zweiten die Luft und lenkte seine volle Aufmerksamkeit auf sich. Der linke Arm des Mannes fiel zu Boden und er taumelte drei Schritte weiter, bevor er schreiend und blutend zusammenbrach.

Belandros’ Finger fanden jetzt den eigenen Dolch, doch er verharrte, wo er war, die Hand schlaff auf dem Griff. Shaya sprang den offenkundigen Anführer der Männer an, mit dem sie eben noch gesprochen hatte. Der Mann war, obgleich mindestens so alt wie Belandros selbst, schnell wie eine Katze und schaffte, es noch, sein Schwert zu ziehen. Helfen tat es ihm wenig, denn Shayas Hiebe waren so heftig, dass ihm der Zweite die Waffe aus den Händen riss, als würde man einem Kind einen Stock aus der Hand schlagen. Er hob einen Arm, dann traf das Entermesser sein Gesicht und die linke Hälfte seiner Züge ging in einem Sturzbach aus Blut unter. Er gab keinen Laut von sich, als er zu Boden sank.

Die anderen riefen und schrien jetzt und stürmten auf Shaya zu. Der Kampf war kurz und bizarr und Belandros konnte noch immer nicht eingreifen, weil alles viel zu schnell ging. Shaya war wie eine Furie und ihre Schläge waren bar menschlicher Kraft. Sie hackte vier Männer in Stücke, bis ihre Klinge am Helm eines der Ritter zerbrach. Der Mann sank benommen auf ein Knie und Belandros sah mit Grauen, dass Shaya ihre zur Klaue gekrümmten Finger in seinen Hals krallte und ihm mit einer drehenden Bewegung die Kehle herausriss. Den nächsten Angreifer packte sie einfach am Arm und brach ihn mehrfach wie einen morschen Ast, bevor sie ihrem schreiendem Opfer mit einem fürchterlichen Schlag den Schädel zertrümmerte. Dann nahm sie das Schwert des Ritters und sprang auf den nächsten Mann zu.

Zwei der einfachen Soldaten erkannten, dass es für sie nur eine Chance gab, und liefen zu ihren Pferden. Einige der Tiere hatten bereits ihr Heil in der Flucht gesucht, und die anderen wurden jetzt aufgescheucht, doch es gelang den beiden, die Zügel zweier Pferde zu packen zu bekommen. Jetzt löste sich Belandros Starre und er rannte einige hinkende Schritte weit, während er den Dolch in der Hand wog. Es war eine miserable Waffe um sie zu werfen, doch er hatte jahrzehntelange Übung. Mit einer fließenden Bewegung riss er den Arm hoch und ließ die Klinge los. Die Waffe beschrieb eine unstete Flugbahn, doch obgleich sie nicht gut ausbalanciert war, traf sie ihr Ziel. Die Spitze schlug in die Kniekehle des Mannes, und er brach auf die Knie, wobei ihm die Zügel entglitten.

Sofort war Shaya bei ihm und hieb ihm mit dem Schwert das halbe Gesicht weg. Der zweite Mann schaffte es aufzusitzen und hieb dem Pferd die Fersen in die Seiten. Er kam gute zwanzig Schritte weit, dann schleuderte Shaya das Langschwert. Die Waffe war noch weniger als Wurfgeschoss geeignet als der Dolch, doch das spielte bei der Kraft, mit der sie geworfen wurde, keine Rolle. Sie schoss durch die Luft und traf den Reiter mit dem stumpfen Ende in den Rücken. Belandros glaubte beinahe das übelkeiterregende Knacken hören zu können, mit dem die Wirbelsäule des Mannes brach, der augenblicklich wie vom Blitz getroffen vom Pferd stürzte. Er fiel wie ein Sack voller Stöcke, kam mit dem Kopf zuerst auf und blieb reglos liegen.

Mit wachsendem Unbehagen richtete Belandros seinen Blick auf Shaya. Sie lächelte dünn und klopfte sich etwas Staub von den Lumpen, die sie als Kleidung trug.

»Sieht so aus, als hätten wir Pferde«, meinte sie. »Wir müssen sie nur noch einfangen. Bist du schon einmal geritten?«

»Ja, bin ich. Keine schöne Erfahrung, aber vermutlich besser, als hier herumzuhumpeln«, sagte er tonlos.

»Gut, dann ruh dich aus«, erwiderte sie. »Ich fange uns zwei Tiere ein. So schwer wird es nicht sein. Und dann sehen wir uns einmal diese Stadt an, von der er gesprochen hat.«

Sie deutete auf die Leiche des Anführers, dann trabte sie in Richtung eines der Pferde los, die in gut fünfhundert Schritten Entfernung zum Stehen gekommen waren und an Gräsern knabberten. Belandros sah ihr nach und versuchte des Unbehagens Herr zu werden, dass er empfand. Jetzt kämpfte Shaya auch so, wie er es zuvor nur einmal in seinem Leben bei jemand anderem gesehen hatte. Bei Schanga, die inzwischen irgendwo auf dem Meeresgrund Futter für die Fische war. Oder das Futter für sehr viel unerfreulichere Geschöpfe. Das Bild der unheimlichen Kreaturen aus der Tiefe drängte sich erneut in sein Bewusstsein und er schob es hastig wieder davon.

Er fragte sich bang, was für ein Wesen Shaya dort unten getroffen haben mochte und was sie so sehr verändert hatte. Mit einer Mischung aus Ungeduld und Trauer um die verlorene Freundin wünschte er, sich schon auf einem Schiff in Richtung von Umbrakali zu befinden. Weg von diesem unheiligen Land. Weg von dem Mädchen, dass er gerettet und doch verloren hatte. Jetzt war sie ihm nur noch unheimlich, und er fühlte sich verlassener und verlorener, als je zuvor in seinem Leben.

Kriegsfrühling

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