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III. Dimensionen des Historischen Lernens III.1 Historisches Lernen

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Im Rahmen einer Schulbuchanalyse, die grundgelegte Möglichkeiten historischen Lernens untersuchen möchte, ist es unumgänglich, normative Gesichtspunkte historischen Lernens zu benennen62, die Aufschluss darüber geben, welche Ziele denn eigentlich erreicht werden sollen.63 Speziell mit Blick auf den Umgang mit Textquellen im schulischen Unterricht postuliert Pandel als Ziel des historischen Lernens im Geschichtsunterricht: „Historisch denken zu lernen.“64 Aber was genau bedeutet es, historisch zu denken und wie kann man es lernen? Welche konkreten Operationen historischen Denkens sind für die Untersuchung des Umgangs mit Textquellen in Schulbüchern relevant?

In der Geschichtsdidaktik als „Wissenschaft vom historischen Lernen“65 besteht heute Einigkeit darüber, dass es im Geschichtsunterricht66 um mehr gehen muss als um die Vermittlung auswendigzulernender Wissensbestände über die Vergangenheit. Als Ziel wird vielmehr die Förderung und Entwicklung eines reflektierten und (selbst-)reflexiven Geschichtsbewusstseins ausgewiesen. Vor bereits mehr als 40 Jahren sieht Jeismann als den Kern der geschichtsdidaktischen Wissenschaftsdisziplin das „Geschichtsbewusstsein in der Gesellschaft“67. Geschichtsbewusstsein ist für ihn der innere „Zusammenhang von Vergangenheitsdeutung, Gegenwartsverständnis und Zukunftsperspektive“68. Auch Rüsen fordert die Hinwendung zum Geschichtsbewusstsein als „Basis allen historischen Lehrens und Lernens“69:

„Die oberste Qualifikation, die durch das historische Lernen erreicht werden soll, ist eben die Fähigkeit des Geschichtsbewußtseins, Sinn über Zeiterfahrung bilden zu können, um sich erfahrungsgestützt im Zeitverlauf der eigenen Lebenspraxis absichtsvoll orientieren zu können. Um eben dieser Fähigkeit willen, wird das Geschichtsbewußtsein in den mühsamen Prozessen menschlicher Individuierung und Sozialisation ausgebildet. Dieses oberste Lernziel, diese fundamentale Qualifikation, läßt sich in präziser Zuspitzung auf das, was es grundsätzlich heißt, historisch zu lernen, als ‚narrative Kompetenz‘ bezeichnen.“70

Geschichtsbewusstsein ist hier als „Inbegriff der mentalen Operationen“71 oder Bewusstseinstätigkeiten eines jeden Individuums zu verstehen, um sich über sinnbildende Zeiterfahrung72 im Umgang mit den Zeitebenen Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft zu orientieren, indem es „sich auf Vergangenheit und Zukunft bezieht und beide in ein Verhältnis setzt“73. Zentral für dieses anthropologische Bedürfnis, sich zu orientieren74 – um durch immer wieder neu zu leistende zeitliche Orientierungsprozesse Kontingenzerfahrungen zu bewältigen75 –, zentral für diese „Grundausstattung menschlichen Denkens“76 ist laut Rüsen das historische Erzählen. Für ihn lässt sich historisches Lernen „als Bildung von Geschichtsbewusstsein durch Erzählen thematisieren“77. Dahinter steht die narrativistische Geschichtstheorie als „ein Ergebnis wissenschaftsphilosophischer wie fachdidaktischer Reflexionen und Forschungen zur Funktion von Geschichte für das Leben der Individuen und menschlicher Gesellschaften, zu den Bedingungen und Möglichkeiten, Prinzipien und Verfahren historischer Erkenntnis und zu den Formen und Funktionen historischen Wissens“78. Grundlegend dabei ist einerseits, dass historische Erkenntnis in Form von Geschichte immer eine narrative Struktur aufweist, also erzählt wird,79 und andererseits die erkenntnistheoretische Unterscheidung zwischen Vergangenheit und Geschichte. Im Zusammenhang mit Zweiterem wird deutlich, dass auf der Grundlage dieses dem gemäßigten Konstruktivismus zuzuordnenden narrativistischen Geschichtsverständnisses zwischen der abgeschlossenen, unwiederbringlichen Vergangenheit einerseits und ihrer Re-Konstruktion in Form von Geschichten andererseits unterschieden wird.80 Vergangenheit steht hier also für die als solche nicht erfassbare Wirklichkeit früherer Zeiten und Geschichte für die notwendigerweise narrative Form, in der diese Vergangenheit partikular als Ergebnis historischer Denkprozesse auf vielfältige Weise dargestellt werden kann. Dies bedeutet eine Überholung der älteren Vorstellung, dass Geschichte ein ein für alle Mal feststehender, wenn auch durch Forschung erweiterter Bestand von deklarativem Wissen über die Vergangenheit ist. Das bedeutet auch, dass die prinzipielle Mehrzahl von (teilweise) konkurrierenden, aber triftigen81, also plausiblen Geschichten über die Vergangenheit (entgegen eines theorie- und methodenlosen Relativismus) anerkannt wird und somit als verbindlich gelten wollende Masternarrative zu hinterfragen sind.82

Bei allen Unterschiedlichkeiten in den Definitionen von Geschichtsbewusstsein83 – jedenfalls zu erwähnen ist hier noch Jeismanns Unterscheidung der drei Dimensionen „der Erkenntnisleistungen im Geschichtsbewußtsein“84 von „Analyse“, „Sachurteil“, „Wertung“85 als „drei Dimensionen historischen Lernens“86 – zeigt sich dahinter jedenfalls immer ein konstruktivistisches Geschichtsverständnis und eine Auffassung von Geschichtsbewusstsein als „dynamische Größe“ mit „mehrdimensionaler mentaler Struktur“87.

Kommt man wieder zurück zu Rüsens Definition von historischem Lernen als Befähigung des Geschichtsbewusstseins durch Erzählen, so bildet den Hintergrund dafür das vielfach rezipierte theoretische Modell historischen Denkens, in welchem idealtypisch sowohl in der alltagsweltlichen Lebenspraxis als auch im wissenschaftlichen Kontext ausgehend von Orientierungsbedürfnissen in der Gegenwart aufgrund von Kontingenzerfahrungen fragend die Vergangenheit (methodisch fundiert) erschlossen wird, um durch „narrativ geformten Sinn“88, also Orientierung stiftende Darstellungen, die Vergangenheit auf Gegenwart und Zukunft zu beziehen (als Beitrag eines gegenwärtigen Diskurses).89 Da für diese Operationen des historischen Denkens das Geschichtsbewusstsein zuständig ist, „verstanden als Komplex von Dispositionen, Prozessen und Fähigkeiten im und zum ‚Umgang‘ mit Geschichte“90, zielt historisches Lernen auf die Entwicklung eines reflektierten und (selbst-)reflexiven Geschichtsbewusstseins, das durch schulischen Unterricht gefördert, entwickelt und elaboriert werden kann. Somit ist historisches Lernen deutlich ausgerichtet auf die Fähigkeiten historischen Denkens, wozu es im deutschsprachigen und im internationalen Diskurs weitgehende Übereinstimmung gibt.91 Ziel ist es dabei, die Lernenden dazu zu befähigen, sich eigenständig und begründet, selbstbestimmt und selbstverantwortet92 in der Zeit zu orientieren. International werden in diesem Zusammenhang auch zentrale fachliche, aus der Eigenlogik der Geschichtswissenschaft entwickelte Konzepte diskutiert, die durch Schülervorstellungen und individuelle Wissenskonstruktionen zu Tage treten, im Sinne eines conceptual change im Rahmen historischen Lernens diagnostiziert und in Richtung wissenschaftlich tragfähiger Konzepte weiterentwickelt werden sollen.93 Vor diesem Hintergrund der Konzepte des historischen Denkens, die im angloamerikanischen Raum second order concepts genannt werden, lassen sich fachspezifische Kompetenzen ableiten, die auf die Grammatik des Faches abzielen.94 Kompetenzmodelle geben somit Antwort auf die Frage, wie die Zentralkategorie des Geschichtsbewusstseins in Form von Kompetenzen historischen Denkens operationalisiert werden kann, welche Fähigkeiten, Fertigkeiten und Bereitschaften also notwendigerweise grundgelegt werden müssen.

Ohne dabei auf sämtliche Kompetenzmodelle im deutschsprachigen Raum einzugehen,95 wird im Folgenden spezifisch das im deutschsprachigen und auch internationalen Diskurs breit rezipierte FUER-Modell beschrieben, da es für den österreichischen Raum besondere Relevanz hat und daher für die Ausgestaltung des Untersuchungsinstruments der vorliegenden Schulbuchanalyse grundlegend war. Die bei Rüsen grundgelegten Basis-Operationen historischen Denkens der Re- und De-Konstruktion werden im FUER-Modell weiter differenziert, indem diese auf die Bereiche „Vergangenheit“, „Geschichte“ und „Gegenwart/Zukunft“ fokussiert werden.96 Weiter ausdifferenziert wird auch die Rüsen’sche disziplinäre Matrix97 in Form eines Prozessmodells historischen Denkens mit dem Titel „Geschichtsbewusstsein dynamisch“98, das die synthetische und analytische Dimension historischen Denkens und die Reziprozität derselben stark in den Vordergrund rückt und dabei wesentliche Elemente des „Jeismann-Rüsen-Paradigmas“99 integriert (vgl. Abb. 2).


Abb. 2: „Geschichtsbewusstsein dynamisch“ (Hasberg/Körber 2003, S. 187)

Ausgehend vom Modell „Geschichtsbewusstsein dynamisch“ werden zentrale Kompetenzbereiche und Kernkompetenzen100 unterschieden und definiert (vgl. Abb. 3), die aus der Theorie zum historischen Denken abgeleitet werden können. Diese sind die drei prozeduralen Kompetenzbereiche der historischen Frage-, Methoden- und Orientierungskompetenzen. Die historischen Fragekompetenzen stehen als erster Kompetenzbereich am Beginn des historischen Denkprozesses101, da durch sie Orientierungsbedürfnisse, ausgelöst von Verunsicherungen, Interessen oder Irritationen, gebündelt werden und die Beschäftigung mit der Vergangenheit oder mit Geschichte maßgeblich gelenkt wird. Kernkompetenzen der historischen Fragekompetenzen, also konkrete Operationalisierungen des Kompetenzbereichs, sind zum einen selbst historische Fragen zu stellen, zum anderen historische Fragen anderer zu erschließen. Die historischen Methodenkompetenzen fokussieren auf die fachspezifischen Methoden zur Beantwortung von historischen Fragen. Sie umfassen sowohl den durch die Fragestellung geleiteten methodisch geregelten synthetischen Umgang mit Quellen und Darstellungen mit dem Ziel einer eigenen triftigen Narration als auch den methodisch geregelten analytischen Umgang mit vorliegenden historischen Narrationen. Die Kernkompetenzen der historischen Methodenkompetenzen zielen somit auf reflektierte Re- und De-Konstruktionsprozesse. Der Bereich der historischen Orientierungskompetenzen stellt diejenigen Kompetenzen in den Mittelpunkt, die durch Re- und De-Konstruktionsprozesse gewonnenen Erkenntnisse und Einsichten auf die eigene Gegenwart und Zukunft zu beziehen, um sich somit historisch zu orientieren. Davon ableitbar sind die Kernkompetenzen der Re-Organisation des eigenen Geschichtsbewusstseins, der Reflexion und Erweiterung des Welt- und Fremdverstehens, der Reflexion und Erweiterung des Selbstverstehens und der Reflexion und Erweiterung der Handlungsdispositionen.102


Abb. 3: FUER-Begrifflichkeiten zu fachspezifischen Kompetenzen am Beispiel von Historischen Methodenkompetenzen

Der vierte Kompetenzbereich der historischen Sachkompetenzen wird als kategorisierender Bereich beschrieben, der dem Kompetenzbegriff entsprechend103 über Fähigkeiten, Fertigkeiten und Bereitschaften des Verfügens und der Anwendung von domänenspezifischen Begriffen und den ihnen innewohnenden Konzepten operationalisiert wird, wie etwa Basiskonzepte, inhaltsbezogene Konzepte, epistemologische Prinzipien oder prozedurales Wissen, die das historische Denken ermöglichen, unterstützen und kommunizierbar machen.104 Die Kernkompetenzen dabei sind Begriffs- und Strukturierungskompetenz.105

Die Zusammenhänge zwischen den Kompetenzbereichen – innerhalb der prozeduralen Kompetenzbereiche und zwischen den prozeduralen Kompetenzbereichen und der historischen Sachkompetenz –, die sich nur idealtypisch trennen lassen, werden als Überlappungsbereiche bezeichnet.106

Historisches Lernen mit schriftlichen Quellen

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