Читать книгу Und ewig küsst mich Dornröschen wach - Wolfgang Haecker Paul - Страница 16

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Kapitel 6 – Der Morgen danach

Da war es wieder. Dieses komische Geräusch. So weit weg, dass man es zunächst nicht richtig orten konnte. Da! Nochmal, diese unerträgliche Tonfolge. Immer schriller werdend. Wie unangenehm! Bis mir langsam dämmerte: Es geht wieder von vorne los. Das Murmeltier war wieder da. Es zeigte seine hässliche Fratze in Form meines digitalen Weckers. Und ich wollte meine Chance nicht ungenutzt lassen, es zu bestrafen.

Es war endlich soweit und ich ballte schon die Faust, in der festen Absicht, diesen elendigen, aufdringlichen Wecker jetzt und für alle Ewigkeiten, ein für alle Mal, zu erledigen. Beim nächsten Geräusch würde ich ihm den Garaus machen. Der Wecker klingelte ein weiteres Mal und, als wenn er gewusst hätte, was ihm bevorstand, wurde das Geräusch noch lauter. Er schien einen letzten Protest zu veranstalten. Vielleicht wollte das Gerät mir einfach nur mitteilen, dass es nicht bestraft werden wollte. Egal. Denn mein Mitleid kannte Grenzen – vor allem für den lauten, unsensiblen Unhold. Ich erhob meine Faust und versuchte, den digitalen Wicht mit einem einzigen gezielten Schlag zu erwischen. Aber – was war das? Außer, dass ich die Faust geballt hatte, bewegte sich mein Körper verwunderlicherweise nicht einen einzigen Zentimeter. Das erschrak mich doch sehr. Ich setzte zu einem erneuten Schlag an, in der Hoffnung, dass ich diesmal Herr über meinen korumpierten Körper sein würde. Wieder nichts.

Außer einem Muskelkater, der sich so großflächig ausgebreitet hatte wie ein Flächenbrand auf trockenem Gras, rührte sich absolut nichts. Alles, wirklich alles tat mir weh. Jede Faser meines malträtierten Körpers schmerzte. Von wegen Verbesserung der Bewegungskoordination und Sensomotorik, wie es der Kurs im Fitnessstudio versprochen hatte. Nun hatten sämtliche Steueraggregate meines Körpers einen Totalausfall erlitten. Da half auch keine ausgeschlafene Besetzung in der Steuerzentrale. Das Einzige, was sich noch motorisch ansteuern ließ, so stellte ich erleichtert fest, war die lebensnotwendige Atmung. Immerhin. Aber selbst die Augen in ihren Augenhöhlen schmerzten. Alles fühlte sich wie gelähmt an. Vollkommen bewegungsunfähig! Und verdammt nochmal, wo war denn meine Krankenpflegerin? Hatte sie das Versprechen „Bis, dass mich die völlige Hilflosigkeit nach exzessivem Sport lähmt“ vergessen?

Wollte ich nicht wie eine Sirene losschreien, um die ganze Nachbarschaft aufzuwecken, musste ich nun blitzschnell einen gescheiten Plan entwickeln. Während ich noch so darüber nachdachte, was ich überhaupt noch tun könnte, verdunkelte sich seltsamerweise nicht nur der Raum kurzfristig – auch musste mein Grübeln anscheinend auch einen Einfluss auf die Zeit gehabt haben. Denn ich war wohl kurz vor Erschöpfung wieder eingeschlafen. Als ich wieder zu mir kam, nahm ich den verhassten digitalen Schreihals wieder wahr. Und prompt kurbelte dieser meinen Blutdruck auf nahezu 400mm Quecksilbersäule an. Die 450mmhg reichten aus, um meinen inneren Schalter, der sich „grenzenlose Wut“ nannte, umzulegen. Nun nahm ich mir fest vor, Körperteil nach Körperteil wieder in die Bewegungskoordination mit einzubeziehen. Leider hatte auch das wiederum einen Effekt auf das Raum-Zeit-Gefüge. Denn die Kraftaufwendungen waren übermenschlich. Da wäre selbst Arnold Schwarzenegger neidisch geworden. Wieder waren einige Minuten vergangen. Unter einem brachialen Willen, den ich schon von meiner Büroarbeit kannte, schaffte ich es, mich mit dem kompletten Oberkörper aufzurichten, bis ich es nach beinahe einer weiteren halben Stunde aus dem Bett geschafft hatte und aufrecht im Badezimmer stand. Erst im Spiegel sah ich, dass ich vor Glückseligkeit wohl geweint haben musste.

Wie oft ich beim Ankleiden fast ohnmächtig wurde, kann ich nicht mehr genau sagen. Aber eins war klar: Ich musste mich nun beeilen, wollte ich noch halbwegs pünktlich sein. Frank hatte ich schließlich ebenso in eine realistische Zeitplanung miteinzubeziehen. Ebenso die hörgeschädigten Rentner, die bei jedem Abbiegevorgang gefährlich nahe vor meiner Motorhaube herumtanzten. Manch einer, dem der Rollator entglitt, griff schon nach meinem kleinen elektrischen Kleinwagen und ich war nur froh, dass Ole das alles nicht sah. Dann war ich endlich im Büro. Ein neuer, anstrengender Bürotag folgte.

Windows meldete sich nur dreimal, was mich fast dazu brachte, mein komplettes Arbeitspensum eines vollständigen, normalen Bürotages zu absolvieren. Auch der Forderung meines Chefs nach einer neuen Umsatzzahlengrafik kam ich heute ungewohnt locker nach. Das Sitzen war mehr als schmerzhaft und an eine Tiefenatmung in den Brustkorb hinein war kein Denken.

Nach einem ausgiebigen Büro-Mittagsschlaf ohne Alpträume schaffte ich sogar noch das Pensum, das ich mir heute Morgen vorgenommen hatte. Das lief schon fast alles zu gut. Was aber war den mit Hilde, meiner freundlichen und besorgten Kollegin los? Erst jetzt sah ich, dass Hilde vor dem Computer eingeschlafen war und ihr Kopf halb auf der Tastatur lag. Nur – warum lag sie da so komisch verdreht? Da stimmte doch irgendetwas nicht!

Das kannte ich so gar nicht von ihr, denn sie sorgte sich immer um eine bequeme Schlafposition. Unter großer Kraftanstrengung versuchte ich, sie wachzurütteln. Nur ein Grummeln war zu hören. Behutsam beugte ich sie im Stuhl nach hinten, um ihr eine angenehmere Position zu ermöglichen. Ich hörte ihre schwache Atmung und wusste, dass nun ein Notfall vorlag.

Mein Handy lag „Gott sei Dank“ in Griffweite und ich rief sofort den Notarzt, der versprach, in wenigen Minuten da zu sein. In der Zwischenzeit schaffte ich es, beruhigend auf sie einzureden. Der Notarzt traf ein und untersuchte sie zügig. Er gab Hilde Nitrospray und mir wurde erst jetzt klar, dass sie vermutlich einen Herzinfarkt erlitten hatte. Die Sanitäter hoben sie behutsam auf eine Trage und brachten sie in den RTW (Rettungswagen). Man hörte noch einige Zeit das allmähliche Verklingen der Sirenen, bis ich wieder die Fassung zurückerlangte und mir klar wurde, was gerade geschehen war. Hilde war fort. Der Raum wirkte auf einmal leer und trostlos ohne sie.

Hilde, über die ich mich häufig lustig machte, die ich manchmal übertrieben nachäffte. Die singende Hilde, die es schaffte, alle Worte auf so unnatürliche Weise zu dehnen, dass man so manches Mal regelrecht Angst bekam, wie weit sich Silben dehnen ließen, bevor sie zu reißen drohten. Können Worte wirklich reißen, überlegte ich tatsächlich gerade? So sehr ich Hilde manchmal verfluchte und ich mich über Kleinigkeiten aufregte – erst jetzt wurde mir klar, was sie wirklich für mich war. Was sie für mich bedeutete. Hilde war die gute Seele der Firma. Obowhl sie auf der einen Seite eine aufdringliche, andererseits aber auch eine absolut verlässliche und fürsorgliche Person war. Und sehr diskussionsfreudig.

Bei so manchem Kakao, ihrem Lieblingsgetränk, das sie immer aufschüttete und einem regelrecht aufzwang mit den Worten, „das hat meine Mutti mir auch immer als Kind gemacht, das tut uns beiden jetzt gut,“ startete sie so manche Diskussion. Ihr Kakao war ein so süßes und klebriges Gebräu, an das ich mich nur widerwillig erinnere. Mit ihm ließ sich gut und gerne ein komplettes Einfamilienhaus aus Pappkartonage, vielleicht sogar ein Steinhaus, kleben. Auch, wenn ich es mir nur schwerlich eingestehen wollte: Ich mochte Hilde genauso wie ihre freundliche Art, über die ich mir bis heute niemals ein richtiges Bild gemacht hatte. Das wurde mir erst spät klar. Und ich hoffte, dass es nicht zu spät war, ihr das einfach zu sagen.

Und ewig küsst mich Dornröschen wach

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