Читать книгу Und ewig küsst mich Dornröschen wach - Wolfgang Haecker Paul - Страница 17

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Kapitel 7 – Wochenend / Sonnenschein

Eine wirklich anstrengende und aufregende Woche neigte sich dem Ende zu. Hilde, so erfuhr ich, hatte wirklich einen Herzinfarkt erlitten. Unsere Hilde. Einen schweren Hinterwandherzinfarkt, der eine langwierige Bypass-Operation notwendig gemacht hatte. Ihr wurden mehrere Stents (feine Röhrchen aus Drahtgeflecht) in die verengten Gefäße eingesetzt. Auch danach war ihr Zustand als durchaus kritisch zu bezeichnen. Sie lag eine kurze Zeit auf der Intensivstation, an vielen Schläuchen, und war vollständig intubiert – der Tubus sicherte ihre Atmung, die jetzt von einer Maschine übernommen wurde. Es war allein ihrer robusten Verfassung zu verdanken, so erfuhren wir vom Stationsarzt, dass sie alles so gut überstanden hatte. Nach kurzer Zeit ging es ihr dann zum Glück schon viel besser und man verlegte sie auf die normale Station zurück. Als wir Kollegen und Kolleginnen sie besuchen gingen, stellten wir erstaunt fest, dass eine Unmenge von Personen gekommen war. Nicht nur mir wurde jetzt klar, dass man Hilde wirklich zu schätzen schien. Alle kamen sie: ihre Freunde, Familie, Bekannte und was weiß ich, wer noch. Sie waren hierhergekommen, um Hilde zu sehen. Und einige der Kollegen, so vermutete ich, bloß um sich zu überzeugen, dass Hilde wieder zurückkommen würde, um ihre Arbeit zu übernehmen.

Nach zwei weiteren Wochen Klinikaufenthalt nahm die Anzahl der Besucher immer noch nicht ab. Die Bänke vor dem Krankenzimmer füllten sich so schnell, dass die Stationsschwester erwog, die Besucher in Gruppen aufzuteilen und ihnen jeweils eine eigene Besuchszeit zuzuweisen. Welch ein Glück, dass ich in der ersten Gruppe war und wir sie sofort besuchen konnten. Ohne Verzögerung. Hilde ging es den Umständen entsprechend wieder gut. Davon konnte ich mich nun überzeugen. Ich höre sie noch sagen, „Wolfi“ (das hatte letztes Mal meine Oma vor vielen Jahren zu mir gesagt, als sie noch lebte), „pass auf dich auf und überarbeite dich bitte nicht. So wie ich es getan habe,“ fügte sie hinzu. Ich versprach ihr, auf mich achtzugeben – mit dem Gedanken, den so wichtigen und herzschonenden Mittagsschlaf demnächst etwas auszudehnen. Körperliche Fürsorge und Achtsamkeit muss sein, sagte ich mir! Was hat der Arbeitgeber sonst von seinen Mitarbeitern, wenn alle Herzinfarkte bekommen vor lauter Stress? Hilde war das beste Beispiel. Sie war immer zur Stelle, konnte sehr schlecht nein sagen. Dafür prädestinierte sie sich in den Augen anderer, deren Arbeit einfach noch mitzumachen. Und wenn ein Funktionsprinzip einmal in dieser Art angelaufen ist, ohne, dass die Führungskraft einschreitet, dann ist das System nicht mehr zu stoppen. Es bleibt bei einem Lob von allen Seiten, wie fleißig und bewundernswert diese Person doch sei, Hilfe aber wird sie nicht bekommen. Und die Kollegen wussten ihr manipulatives Spiel nur zu gut zu spielen.

Wer einmal entdeckt hatte, dass Hilde eine tüchtige sowie überaus hilfsbereite Person war, der wusste, dass er sein Spiel mit meiner Kollegin spielen konnte. Ein Spiel, auf das Hilde naturgemäß ansprang. „Hilde, du weißt doch … das kriege ich nicht so gut hin wie du, vielleicht könntest du mir helfen?“ In der ganzen Zeit habe ich nicht einmal erlebt, dass meine Kollegin nein gesagt hätte. Hilde war eben ein mütterlich fürsorglicher Typ. Sie erweckte regelrecht den Eindruck bei ihren Kollegen, als ob sie deren Aufgaben übernehmen müsse. Erstaunlicherweise findet die gesamte Belegschaft immer sehr schnell heraus, dass da jemand in ihrer Umgebung ist, der in der Lage zu sein scheint, ihre Aufgaben einfach mit zu erfüllen. Und das nur, weil Hilde leider nicht nein sagen kann. Ich zähle dabei zu den wenigen Personen, die niemals auf den Gedanken gekommen wären, Hilde um eine Gefälligkeit zu bitten – oder eine einmalige Gefälligkeit zu einer andauernden Gefälligkeit werden zu lassen.

Noch weniger erschloss sich mir im Nachhinein, warum unser Vorgesetzter hier nicht einschritt, denn er musste sehr wohl davon wissen, wie es in seiner Abteilung mit seinen Pappenheimern läuft. Im Gegenteil: Gerade diejenigen heimsten sich die Beförderungen ein, die eigentlich längst Hilde zugestanden hätte. Das mit der Gerechtigkeit war so eine Sache. Das mit der Blindheit der leitenden Personen eine andere. Obwohl ich Hilde öfters darauf hinwies, dass sie die Arbeit der Kollegen oder Kolleginnen nun zum Großteil schon mitmache, winkte sie immer ab. „Ach Wolfi, das mach ich doch gerne für die armen Kollegen, die sind doch schon so belastet …!“

Da ließ sich nix machen, so war Hilde einfach. Und nun hatte sie die Quittung für ihre Gutmütigkeit bekommen. In mir stieg Wut auf, die ich aber erst mal auf Eis legen musste, denn nun stand ein schönes, sonniges Wochenende vor der Tür. Es lag eine extrem harte Woche hinter mir, die fast ein menschliches Opfer gefordert hätte. Das bevorstehende Wochenende hatte ich mir umso mehr wohlredlich verdient. Dachte ich zumindest. Aber ich hatte die Rechnung ohne die angeheiratete Wochenendplanerin gemacht. Sie ließ mich wissen, dass ein von ihr sorgfältig ausgearbeitetes Programm für das Wochenende bereits feststünde. Was sie mit sorgfältig meinte, sah ich im nächsten Moment vor mir.

Auf einer Flipchart zeichnete sie grob die bevorstehenden Arbeiten auf. Zuerst gäbe es noch einige Gartenarbeiten zu machen. Rasenmähen, die Hecke schneiden, vor dem Haus sei noch eine Lampe anzubringen, die den Eingang nun komplett ausleuchten sollte. Der Wagen sei noch zu waschen, der Einkauf noch gemeinsam zu erledigen und . und . den Rest hörte ich schon nicht mehr. Denn nach fast zehn Minuten Wort-Stakkato hatte mein Gehirn, aus einem reinen Schutzmechanismus heraus, komplett abgeschaltet. Musste ein exklusiv männliches Talent sein, das zu können. Während sie weiter von ihrem Endloszettel ablas, der mich an die „unendliche Geschichte“ erinnerte, diesen Zettel, den sie so sorgsam vorbereitet hatte, ging es mir zunehmend wie mit Windows. Meine Datenzentrale fuhr sogleich herunter, um später mit allen Updates neu hoch zu booten.

Als meine Frau nach über einer Stunde immer noch mit Feuereifer dabei war, die unendliche Geschichte … äh, ihre Liste, vorzulesen, hatte mein organisches Speichersystem zwischenzeitlich neu und vollständig hochgebootet. Mein Blick fiel auf ein angefangenes Buch, das ich schon lange weiterlesen wollte. Als ich es fast bis zur Hälfte geschafft hatte zu lesen, erfasste mich urplötzlich der schrille Ton meiner besseren Hälfte. Erst dachte ich, es sei schon wieder mein kleiner verhasster digitaler „Freund“, dann wurde mir aber klar, dass es die Einsatzleiterin war, die mich vollends aus der schön erzählten Geschichte meines Buches riss, in die ich vollkommen vertieft gewesen war.

„Sag mal, hörst du mir überhaupt zu?“, tönte es nun sehr unangenehm laut durch das ansonsten friedliche Haus.

Obwohl die Antwort „nein“ mir sehr wohl schon präsent auf den Lippen lag, ratterte mein auf Hochleistung getrimmtes Büro-Hirn ein paar Antwortmöglichkeiten durch, wie es bei einem Quiz üblich war. In Mikrosekundenschnelle funkten die Neuronen folgende Optionen vor mein geistiges Auge:

a) Natürlich, ich habe nur kurz überlegt, in welcher Reihenfolge ich am besten alles abarbeite.

b) Bitte entschuldige, beste Ehefrau von allen, ich war nur ganz kurz abgelenkt. Vielleicht wäre aber auch solch eine Antwort erwähnenswert.

c) Deine Stimme ist so angenehm, fast schon meditativ, dass ich ganz versunken war in den vielen schönen Erinnerungen, die uns beiden bis heute verbinden!

Die meditative Stimme war aber alles andere als beruhigend, eher schrill und schnellte zudem gerade ungeduldig noch einige unangenehme Oktaven weiter nach oben. So sehr, dass ich Angst um mein Glas Wasser bekam, das vor mir stand. Ich sah es schon förmlich zerspringen. Nach einem kurzen Stopp, als die Marktschreierin versuchte, tief Luft zu holen, um dann erneut anzusetzen, nutzte ich die Gelegenheit und teilte ihr meine Auswahlantwort mit. Ich hatte mich für Option a) entschieden.

Ich wettete, dass die Updates beim Hochbooten meines verbliebenen Erinnerungsspeichers in der Lage sein würden, den häuslichen Frieden wiederherzustellen. Es trat für einen kurzen Moment eine unangenehme Stille ein, wie ich sie niemals zuvor in unserem Haus gehört hatte. Gut, wir wohnten noch nicht lange hier, und dennoch war diese Stille ungewöhnlich. Ich erinnerte mich an vergangene Gewitter und an die Tatsache, dass nach einer solch stillen Pause oft ein Donnerwetter folgte. Auch die kurze Episode eines epischen Westerns „12 Uhr Mittags“ kam mir in den Sinn. Da stand der bewaffnete, tapfere Held mehreren ebenso bewaffneten Gegnern gegenüber. Und ich? Ich stand unbewaffnet der Wochenendterminatorin gegenüber. Wir sahen uns direkt in die Augen . und das Unerwartete trat ein. Erstaunlicherweise wirkten meine Worte wie eine Retard-Kapsel, nur etwas verzögert setzte ihre Wirkung ein – ganz peu á peu. Die Kleinunternehmerin war fürs erste beruhigt. Was nichts heißen musste. Schließlich war sie eine Frau – da weiß man nie, was noch auf einen zukommt. In meinem Fall konnte man daher leider nicht von Beruhigung ausgehen. Mein Wochenende stand nun endgültig auf der Kippe. Oder aber, ich müsste auf ein enges Zeitmanagement umswitchen. Puh, das war ja noch anstrengender als im Büro. Da bekam ich wenigstens meine tariflichen Pausen sowie meinen wohlverdienten Mittagsschlaf, der meinen Körper schonen soll. Was bekam ich hier, in meinem privaten Refugium? Aufträge! Von der Wirtschaftsministerin eines kleinen privaten Regierungsgebäudes, das in keinem amtlichen Register eingetragen war. Ich war geliefert. Denn bei aller anstehenden Arbeit war ich nun mal der erste Ausführende in Persona.

Die Liste hatte ich nach ein paar Stunden dann doch weitestgehend abgearbeitet. Das Auto war gewaschen. Der Rasen und die Hecke geschnitten, die Lampe angebra…! Mist. Die Lampe! Die hatte ich ganz vergessen. Also nochmal los, denn es fehlte mir das notwendige Werkzeug. Die Liebste hatte schon mal die Einkäufe arrangiert, was ich durchaus wohlwollend zur Kenntnis nahm. Die ungleiche Aufteilung der Arbeiten versprach jedoch, dass ich vor Einbruch der Dunkelheit nicht mehr fertig werden würde.

Etwas bitter stieß mir plötzlich ein Lied auf, das mir überflüssigerweise in den Sinn kam. Es handelte von „Wochenend´ und Sonnenschein“. In ferner Erinnerung glaubte ich zu wissen, dass ein Wochenende sowohl einen kompletten Samstag als auch einen kompletten Sonntag umfasste. Oder lag ich da falsch? Auf den Sonnenschein bestand ich nicht unbedingt. Dazu war es jetzt eh zu spät, ich sah die Sonne gerade untergehen. Damit war nun der Samstag schon mal gestrichen. Vorbei. Weg. Ausradiert. Von der Meisterin unter den Wochenendplanerinnen.

Es gelang mir nur noch schwer, mich auf den verbleibenden Sonntag zu freuen. Man konnte nie genau wissen, was einem noch bevorstand. Und dann durfte man dreimal raten, wer wieder unter dem Einsatzregiment des Planungsstabes zu leiden hatte.

Und ewig küsst mich Dornröschen wach

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