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1. Gerechtigkeit ist der Vorteil des Stärkeren (337 a – 342 e)

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Freilich ist es gar nicht so leicht, den forschen Satz "Das Gerechte ist nichts anderes als der Vorteil des Stärkeren“ zu verstehen. Sein Sinn ist nicht eindeutig. Meint er, daß Gerechtigkeit durch die Gesetze definiert wird und diese Gesetze immer den Interessen der Herrschenden dienen? Oder hat er eine ideologiekritische Färbung, will er darauf aufmerksam machen, daß sich hinter den geläufigen gerechtigkeitsethischen Formeln der Allgemeindienlichkeit und des Allgemeinwohls immer das Sonderinteresse der Herrschenden verbirgt? Eines aber ist dieser Satz sicherlich nicht, nämlich eine normative Bestimmung der Gerechtigkeit, die etwa der Gerechtigkeitsbestimmung der Gemeinwohldienlichkeit ein Konkurrenzkriterium gegenüberstellen möchte. Denn es macht durchaus Sinn, einen Gerechtigkeitsbegriff zu vertreten, der mit dem der Legalität zusammenfällt. Es macht nicht minder Sinn, hinter den Gerechtigkeitsvorstellungen, sei es nun im Rahmen einer ideologiekritischen Analyse oder einer soziologischen Untersuchung, das Herrschaftsinteresse des jeweiligen Regimes auszumachen. Aber es macht kaum Sinn, Gerechtigkeit als Vorteil des Stärkeren zu definieren und damit zumindest implizit zu behaupten, daß jedermann verpflichtet sei, den Nutzen der Stärkeren zu mehren. Zum einen scheint dies sinnlos, weil die Stärkeren ohnehin den Schwächeren dazu zwingen, ihnen nützlich zu sein. Und zum anderen ist es widersinnig, weil diese Verpflichtung, das Wohl der Herrschenden zu mehren, allen intuitiven Gerechtigkeitsvorstellungen widerspricht. Wir haben es also nicht mit einer normativen Konkurrenzdefinition von Gerechtigkeit zu tun, sondern wohl mit einer These, die zum einen den Gerechtigkeitsbegriff auf den Begriff der Legalität reduziert und zum anderen die Gesetzgebung als herrschaftspolitisches Instrumentarium versteht. Indem Thrasymachos beide Teilthesen miteinander kombiniert, kommt er zu seinem Satz: Gerechtigkeit ist der Vorteil des Stärkeren.

Sokrates freilich versteht Thrasymachos’ These als normative Gerechtigkeitsdefinition und versucht ihr innere Widersprüchlichkeit nachzuweisen. Herrschende könnten sich doch hinsichtlich dessen, was für sie nützlich ist, irren; da aber, wie Sokrates hier einfach unterstellt, Gesetzen zu gehorchen gerecht sei, wäre es im Fall solcher Gesetze, die den Herrschenden schaden würden, gerecht, Ungerechtes zu tun. Thrasymachos entgegnet nun, daß derartiges nur bei dilettantischen Herrschern vorkommen würde. Einem wahren Herrscher jedoch würden keine solchen Vorteilsirrtümer unterlaufen; er würde unfehlbar das anordnen, was für ihn das Beste sei. Wahre Kennerschaft in der Regierungs- und Herrschaftskunst zeigt sich also darin, die Macht effektiv zum eigenen Vorteil zu nutzen und sich dabei nicht zu irren. Durch diese abstruse These, die der absonderlichen Gerechtigkeitsdefinition eine nicht minder absonderliche Bestimmung wahrer Herrschaftskunst an die Seite stellt, glaubt Thrasymachos nun seine Ausgangsposition retten zu können.

Was er aber völlig übersieht, ist, daß er sich mit dieser Unterscheidung zwischen wahrer und falscher Meisterschaft, zwischen einem Meister dem allgemeinen Wortgebrauch nach und einem Meister im strengsten Sinne auf sehr glattes Eis begeben hat. Denn diese Unterscheidung ist normativ grundiert und bringt die tätigkeitsimmanente Zweckbestimmung und damit die Gelingensnorm der entsprechenden Tätigkeit ins Spiel. Ein Meister in seiner Kunst ist jemand, dem seine Kunst gelingt, der in ihrer Ausübung den ihr eingeschriebenen Zweck verfolgt und die ihr immanenten Gelingensnormen erfüllt. Und diese immanenten Gelingensnormen spiegeln sich ihrerseits in den normativen Erwartungen, die andere, insbesondere aber Betroffene, an die Ausübung der Kunst richten. Eine Kunst, und insbesondere gilt das natürlich für jede Form von Dienstleistung, dient der Abstellung eines spezifischen Mangels und der Bereitstellung eines spezifischen Zuträglichen. Sich in den Bedürfnissen der Kunden, Klienten, Anbefohlenen auszukennen und das ihnen Zuträgliche bereitzustellen, zeigt den Meister. Wird diese Bestimmung praktischer Kompetenz und gelingender Tätigkeit nun auf das Regieren angewandt, gerät Thrasymachos’ Gerechtigkeitsdefinition in arge Bedrängnis. Ein wahrer Meister des Regierens denkt eben nicht an seinen Vorteil, sondern an das Wohl der Bürger, denn "keine Kunst erkundet und verordnet das dem Stärkeren, sondern das dem Schwächeren und von ihr Beherrschten Zuträgliche“ (342 c).

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