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6. Das Ergon-Argument (352 e – 354 b)

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Das dritte Argument, das Sokrates gegen Thrasymachos richtet, ist sicherlich das bekannteste, nicht zuletzt auch darum, weil Aristoteles mit ihm seine Nikomachische Ethik eröffnet und den begrifflichen Rahmen für seine handlungsteleologischen Analysen des Guten und des Glücks etabliert. Es ist das Ergon-Argument, das das Leben als Leistung und Werk der Seele auslegt und die Qualität des Werks von seelischer Tüchtigkeit abhängig macht. Zu fragen ist dann, welche Tüchtigkeit die Seele aufweisen muß, um ein gelungenes Lebenswerk hervorzubringen, oder, was auf dasselbe hinausläuft: welches die spezifische Tüchtigkeit der Seele ist, wie sie ihrer Lebenszuständigkeit am besten gerecht wird. Und diese Tüchtigkeit der Seele, die ihr die beste Verfassung gibt und sie damit das beste Werk hervorbringen läßt, ist die Gerechtigkeit. Daher ist die Frage, ob der Gerechte oder der Ungerechte ein besseres Leben führt, eindeutig zugunsten der Gerechtigkeit zu beantworten. Der Gerechte führt ein besseres Leben. Und die Gerechtigkeit enthält damit auch die Antwort auf die ethische Grundfrage, wie man leben soll.

Und wie gelangt Sokrates zu dieser Engführung von Seelenverfassung, Lebensqualität und Gerechtigkeit? Auf dem üblichen Wege: durch inszenierte und durchdeklinierte Beispielsfolgen und Analogisierung und Übertragung. Verallgemeinern wir, dann kommen wir zu folgender Ausgangsthese: ein jedes Ding hat eine Funktion, eine spezifische Leistung, die mit ihm entweder allein oder besser als mit jedem anderen erreicht werden kann: das Pferd dient dem Reiten, das Auge dem Sehen, das Messer dem Schneiden. Diese Funktion bestimmt zugleich die dem Gegenstand immanente Qualitätsnorm: ein Gegenstand ist besser als ein anderer der gleichen Art, wenn er die ihm zukommende Leistung, die ihm immanente Funktion, die ihm obliegende Aufgabe besser verrichten und erfüllen kann als ein anderer der gleichen Art. Ein Auge mit der besseren Sehkraft ist ein besseres Auge. Ein Messer mit der schärferen Klinge ist ein besseres Messer. Sicherlich kann man mit manchem manches machen, aber immer ist es so, daß es unter den vielen Gegenständen einen gibt, mit dem man das, was man machen will, besser als mit anderen machen kann. Man nehme nur Sokrates’ Rebschere: sie ist eben geeigneter, tüchtiger als ein Messer, ein Schwert oder ein anderes Werkzeug, um einen Weinstock zu verschneiden. Die spezifische Leistung von X ist somit das, was X allein oder besser als Y tun kann.

Dies wird nun übertragen. Auch die Seele hat eine ihr zukommende, genuine Funktion. Diese ist allgemein die Lebensführung, etwas genauer, wenn auch noch immer recht vage: das Planen, Lenken und Fürsorgen. Daher hängt die Qualität der Lebensführung von der Qualität der Seele ab. Und die These Sokrates’ ist nun, daß sich die Lebensführungsqualität der Seele nach der Gerechtigkeit bemißt: um die beste Lebensführung zu ermöglichen, muß die Seele gerecht sein. Gerechtigkeit ist also Lebensführungstüchtigkeit. Nicht nur ist der Gerechte, und eben nicht der Ungerechte, ein Wissender und Tüchtiger, sondern nur der Gerechte verfügt über die umfassende, wichtigste, alles andere umgreifende und sinnvoll integrierende ethische Kompetenz, ein richtiges Leben zu führen, verfügt über die wichtigste aller Tüchtigkeiten, über die Lebensführungstüchtigkeit. Es ist offensichtlich, daß mit dieser Position die gesamte sokratische Argumentationsstrategie der Explikation der Gerechtigkeit als einer téchne, einer Kunst und Fertigkeit ihren vorläufigen Höhepunkt erreicht. Und nur unter dieser Voraussetzung gelingt es Sokrates auch, die Thesen des Thrasymachos in ihr Gegenteil zu verkehren.

Die Distinktionen und Dualismen, mit denen die Kantianer später das uns vertraute Lebens- und Handlungsfeld strukturieren, stehen Platon nicht zur Verfügung. Wir können auf den Doppelsinn des Wortes ‘gut leben’ hier nicht bauen, da sowohl Sokrates als auch Thrasymachos das Wort gleich verstehen. Platon sagt nicht: der Ungerechte führt zwar ein besseres Leben, aber nicht im moralischen und damit allein maßgebenden Sinne. Er sagt, daß der Ungerechte genau in dem Sinne lebensuntüchtig und daher unglücklich ist, in dem der Gerechte lebenstüchtig und daher glücklich ist, und er sagt, daß der Ungerechte genau in dem Sinne ein unglückliches Leben führt, in dem der Gerechte ein glückliches Leben führt. Gerechtigkeit und Ungerechtigkeit werden als konkurrierende Lebenstechniken, als konkurrierende Lebensführungsweisen und daher auch als konkurrierende Glücksstrategien betrachtet. Und das ist erst einmal beträchtlich befremdlich. Die Distinktionsgewinne, die uns die kantische Moralphilosophie ermöglicht, wirft die platonische Philosophie keinesfalls ab; darum auch hat sie eine überraschende strukturelle Affinität zu der Form moderner Moralphilosophie, die ihrerseits glaubt, auf die Distinktionsgewinne der kantischen Moralphilosophie verzichten zu können und Moral in Rationalität begründen möchte, den Nachweis also liefern möchte, daß Moral gegenüber der Unmoral die vorteilhaftere Strategie ist.

Man denke nur an das Kooperations-Argument: der Gerechte ist stark, weil er kooperationsfähig und mit sich in Übereinstimmung ist; der Ungerechte ist schwach, weil er jedem mißtraut und sich selbst zum Feind hat. Gerechtigkeit ist also eine rational vorzugswürdige Strategie, weil sie Kooperation ermöglicht und damit vorteilhafte Formen gesellschaftlicher Zusammenarbeit erschließt. Die Wünschbarkeit kooperativer Interaktionen impliziert also die Vorzugswürdigkeit der Gerechtigkeit. Das ist rationale Moralbegründung in nuce. Und diese Affinitätsbehauptung wird dann vielleicht weniger anstößig sein, wenn man bedenkt, daß auch innerhalb rationaler Moralbegründung eine Unterscheidung zwischen unterschiedlichen Rationalitätsniveaus konstitutiv für das Unternehmen einer rationalen Auszeichnung moralischer Handlungsweisen ist.

Was ist nun gegen dieses Ergon-Argument einzuwenden? Vor allen Dingen, daß es kein Argument ist, dem auch nur die geringste Widerlegungskraft zukäme. Es ist ein Reigen von Gegenthesen, die sich keinesfalls von selbst verstehen und daher philosophisch-argumentativer Ausweisung unbedürftig wären. Durch bloße Gegenbehauptungen kann man eine Diskussion jedoch nur strukturieren, gegebenenfalls auch dramatisieren und dialektisch zuspitzen, jedoch keinesfalls für sich entscheiden. Sicherlich ist das Argument formal korrekt, damit besitzt es einen deutlichen Vorzug vor vielen anderen sokratischen Argumenten, etwa dem Pleonexie-Argument. Aber seine einzelnen Thesen werden nicht argumentativ eingeführt, sondern schlicht gesetzt. Natürlich finden wir in diesem Ergon-Argument, in der These von der Gerechtigkeit als seelischer Exzellenz, von der Seele als dem Ort des lebensgestaltenden Planens, Lenkens und Sorgens einen Vorausblick auf später entwickelte Positionen der platonischen Philosophie. Aber hier sind sie nichts weiter als ungestützte, schroffe Behauptungen, die Thrasymachos keinesfalls beeindrucken dürften. Es wäre ein leichtes für ihn, sie zurückzuweisen oder zumindest philosophische Gründe für ihre Annahme zu fordern. Statt dessen läßt er sich widerwillig von Sokrates durch die letzten Sätze des Gesprächs ziehen, um dann schmollend zu verstummen. Dem Leser wird Sokrates als Sieger präsentiert, aber er ist nicht bereit, ihn zu feiern, und dies nicht darum, weil Sokrates selbst eingesteht, daß die Hauptfrage, was Gerechtigkeit an sich selbst denn sei, noch unerledigt liegengeblieben ist und zumindest er immer noch nicht wisse, was denn Gerechtigkei sei, sondern weil ihn verstimmt, daß Platon bis zum letzten Satz des Thrasymachos-Gesprächs seine herabsetzende Inszenierung betreibt.

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