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IV. Das Glaukon-Gespräch: Lob der Ungerechtigkeit II (357 a – 362 c)

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Noch erstaunlicher als der Schluß des ersten Buches ist der Anfang des zweiten, berichtet Sokrates doch hier, daß er geglaubt habe, "einer weiteren Untersuchung enthoben zu sein“ (357 a). Er, der die Bestimmung der Gerechtigkeit mit der ethischen Grundfrage unauflöslich verbunden hat, soll also allen Ernstes gemeint haben, daß man sich mit einer koketten aporetischen Wendung aus der Erörterung über das Wichtigste im menschlichen Leben verabschieden könne? Freilich werfen Glaukon und Adeimantos ihm dies nicht vor; sie können ihm dies auch nicht vorwerfen, weil Sokrates ja noch nicht einmal die aporetische Position selbst sich redlich herbeiargumentiert hat, denn dann hätte er Thrasymachos überzeugen müssen, und dazu hätte er die besseren Argumente vorbringen müssen. Aber er hat Thrasymachos nicht überzeugt; und auch keiner der Anwesenden ist der Meinung, daß er ihn überzeugt hätte. Daher steht es nicht gut für die Freunde der Gerechtigkeit.

Wenn man seinen Gerechtigkeitsintuitionen, der Überzeugung, daß Gerechtigkeit wichtig und gut sei, weiterhin trauen möchte, muß das sophistische Lob der Ungerechtigkeit wirksamer zurückgewiesen werden, muß Thrasymachos wirklich widerlegt werden. Und um sicherzugehen, daß diese Widerlegung auch trifft und keinen Scheinsieg über einen Strohmann erringt, muß der Gegner so stark wie möglich gemacht werden. Und da keiner die Sache des Teufels so gut vertreten kann wie der Anwalt des Teufels, schlägt jetzt die Stunde des advocatus diaboli, die Stunde des Gerechtigkeitsfreundes, der sich der Ungerechtigkeit so selbstvergessen und leidenschaftlich annimmt, daß er sicher sein kann, daß ihre Widerlegung sie auf höchstem Niveau erreicht. Glaukon will also "das ungerechte Leben recht geflissentlich loben“ (358 d), um das Ausmaß der Herausforderung aufzuzeigen, dem die philosophische Widerlegungskunst des Sokrates gerecht werden muß. Das Lob der Ungerechtigkeit bestimmt die Umrisse, die Sokrates’ Lob der Gerechtigkeit ausfüllen muß; nur dann, wenn es genau die Bahnen des Ungerechtigkeitslobs nachzeichnet und dessen Signaturen überlagert, vermag das "ohrenbetäubende Gerede des Thrasymachos und der tausend anderen“ über den Nutzen der Ungerechtigkeit (358 cd) seine Wirkung zu verlieren. Dazu ist es aber erforderlich, nicht nur die thrasymacheische Ruppigkeit abzulegen, sondern auch seine Position unter Zuhilfenahme der Instrumente der philosophischen Zunft begrifflich zu konturieren und argumentativ zu differenzieren und keinen respektierlichen Beistand, komme er aus der Erfahrung oder aus den Schriften der Dichter, zu verschmähen. Das Lob der Ungerechtigkeit muß selbst mit philosophischem Bedacht vorgetragen werden, damit es die Philosophie ernsthaft zu einem Lob der Gerechtigkeit herausfordern kann.

Die Platon-Brüder Glaukon und Adeimantos bestehen also darauf, daß die Sache des Thrasymachos noch einmal verhandelt werden muß. Die sophistische Herausforderung erblicken sie vor allem in der Behauptung, daß sich Gerechtigkeit nicht, Ungerechtigkeit hingegen über alle Maßen auszahlt. Damit rückt auch in diesem Doppelgespräch die Frage nach dem eudämonistischen Ertrag gerechten Lebens, nach dem Verhältnis von Gerechtigkeit und Glück in den Mittelpunkt. Während Thrasymachos jedoch aufgrund mangelnden philosophischen Ernstes und daher auch fehlenden Interesses an der Gerechtigkeit Sokrates zu keiner nennenswerten philosophischen Entgegnung veranlassen konnte, gelingt es den Brüdern Platons, den Philosophen zu einer ausführlichen und umfassenden Erörterung des Wesens der Gerechtigkeit und ihres Verhältnisses zum Glück zu bewegen, zu einer Erörterung, die den ganzen Rest des Buches einnimmt, und die auch die logische Rangordnung der zu diskutierenden Fragen wiederherstellt und der Ermittlung der Glücksfolgen der Gerechtigkeit die Bestimmung ihres Wesens voranstellt. Bis zum Beginn der sokratischen Erörterung führen jedoch allein sie das Wort; erst ab 367e nimmt Sokrates die Gesprächsführung wieder an sich, um dann von der Mitte des zweiten Buches bis zum Ende der Schrift einen sich dialogisch darbietenden Lehrvortrag zu halten. Bis 367e jedoch ist Sokrates nur ein Zuhörer, der gelegentlich zur Antwort aufgefordert wird.

Mit dem Übergang zum zweiten Buch ändert sich auch das Gesprächsklima. War die Ouvertüre durch ein kompetitives Argumentationsverhalten charakterisiert, das in einer wechselseitigen, selbst beleidigende Herabsetzung und Denunziation nicht scheuenden Antipathie ein starkes psychologisches Widerlager besaß, so ist der Rest des Buches durch philosophische Kooperationsbereitschaft geprägt, durch gemeinsame Denkarbeit Einverständiger und Gleichgesinnter unter der immer deutlicheren Führung Sokrates’. Herrschte anfangs eine turbulente Dramatik, ausgelöst durch die direkte Konfrontation des Sophisten und des Philosophen, so herrscht jetzt aufregungslose Ruhe. Jetzt sind die Philosophen und philosophisch Gesinnten unter sich; anspannende Aufmerksamkeit erheischt jetzt allein die Sache, und das Sensationelle, das den Atem raubt, kommt jetzt nicht mehr von außen, sondern entspringt der inneren Konsequenz und Radikalität des philosophischen Arguments. Die Abfolge der Bücher ist durch eine Bewegung zunehmender Konzentration bestimmt; immer weiter rückt das Szenisch-Narrative in den Hintergrund, die philosophische Gedankenentwicklung absorbiert die konkrete Gesprächsszenerie immer mehr; diese wird immer unauffälliger und unaufdringlicher, schließlich ist sie überhaupt nicht mehr bemerklich.

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