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3. Die Gyges-Parabel (359 d – 360 b)

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Daß die Gerechtigkeit allemal besser als der Tod ist, belegt Glaukon mit seiner kontraktualistischen Kurzgeschichte von der gemeinschaftlichen Erfindung der Gerechtigkeit zum Zwecke der Abwendung des Unrechtleidens. Diese Geschichte hat eine rechtspositivistische Pointe: das, was Gerechtigkeit bedeutet, fällt mit dem geltenden rechtlichen Zwangssystem zusammen. Daß die Ungerechtigkeit aber gleichwohl der Gerechtigkeit vorzuziehen ist, belegt Glaukon hingegen mit der Sage vom lydischen Schäfer Gyges, der sich mit Hilfe eines Ringes auf effektive Weise der sozialen Kontrolle entziehen und daher ungestraft bei der Befriedigung seiner Interessen über alle Gesetze hinwegsetzen kann und dies dann auch weidlich ausnutzt. Wer, so Glaukon, möchte denn nicht so einen unsichtbar machenden Ring haben? Wer würde denn nicht der Ungerechtigkeit den Vorzug vor der Gerechtigkeit geben, wenn sein Unrechttun keinerlei negative Folgen für ihn haben würde?

Was Glaukon hier mit der These von der Vergesellschaftung als einem kooperativen Leidvermeidungsunternehmen kurz andeutet, ist ein Gemeinplatz sophistischen Denkens gewesen und später dann von Hobbes und seinen Nachfolgern auf den Umfang von Staatsromanen ausgewalzt worden. Freilich zeigt die Gyges-Erzählung, daß es Glaukon vordringlich nicht um Probleme der politischen Philosophie, um eine Theorie der Vergesellschaftung geht. Die kurze Geschichte von der Entstehung von Gerechtigkeitskonventionen aus dem Unrechtsvermeidungsmotiv, und das heißt ja vor allem: Leidvermeidungsmotiv, dient nur als Ouvertüre zur Gyges-Parabel. Beide, kontraktualistische Kurzgeschichte und Gyges-Parabel, sollen die These illustrieren, daß Gerechtigkeit eine Erfindung der Opfer ist, die nicht stark genug sind, Täter zu sein. Die Opfer haben die Gerechtigkeit ersonnen, um ihren Leidenszustand zu beenden: angesichts ihrer Unfähigkeit, dauerhaft erfolgreiche Unrechttäter zu sein, war der einzige Weg, um nicht länger Unrechtleider sein zu müssen, die Unrechttäter durch Gerechtigkeit zu disziplinieren. Aber nicht, daß der Gerechtigkeit die Liebe der Menschen gehörte! Natürlich lieben die Starken sie nicht, die sich durch sie gefesselt sehen; aber auch die Schwachen lieben sie nicht, denn lieber noch als Gerechte wären sie Ungerechte, hätten sie nur die Kraft, Unrecht zu tun. Und eben dies soll die Gyges-Parabel zeigen: sobald die Verhältnisse es erlauben, sich ohne Risiko, von der sozialen Kontrolle unerreichbar und straffrei, über alle Regeln des Rechts, der Sitte und des Anstands hinwegzusetzen, wird der Unterschied zwischen dem Gerechten und dem Ungerechten schwinden: jeder würde "wie ein Gott unter den Menschen“ sein und sich alles erlauben (360 c). In jedem von uns also findet sich eine klare Präferenz für die Ungerechtigkeit, die nur darum nicht unter normalen Umständen zutage tritt, weil sie mit beträchtlichen Nachteilen verbunden ist. Gerechtigkeit ist also das Resultat einer strategischen Anpassung; niemand ist aus freien Stücken gerecht, sondern nur, weil die gesellschaftlichen Verhältnisse so eingerichtet sind, daß das Gerechtsein dem Ungerechtsein vorzuziehen rational ist. Wenn wir aber nur aus Zwang gerecht sind, uns nur dann an die Gebote der Gerechtigkeit halten, wenn wir die gesetzlichen Strafen und die gesellschaftliche Ächtung vermeiden wollen, jedoch immer dann uns über die Gerechtigkeit hinwegsetzen, wenn wir dieses straffrei tun können, dann kann Gerechtigkeit wohl nicht für ein um seiner selbst willen erstrebenswertes Gut gehalten werden. Der Unterschied zwischen den Gerechten und den Ungerechten bildet sich also nicht in der Seele ab, er ist nur einer des äußeren Verhaltens.

Wenn ein Ring Unsichtbarkeit schenkt, schwindet der Unterschied zwischen Gerechten und Ungerechten dahin: jeder, auch der Gerechte, wird sich bei der Verwirklichung seiner Interessen nicht durch Regeln der Gerechtigkeit hindern lassen; jeder, auch der Gerechte, wird die nützlichere, die Strategie der Ungerechtigkeit wählen. Und darum schwindet unter dem Schleier der Unsichtbarkeit der Unterschied zwischen dem Gerechten und dem Ungerechten, weil der Unterschied zwischen dem Schwachen und dem Starken schwindet; unsichtbar geworden, gleicht sich der Schwache dem Starken an, kann jener endlich das auch, was sich dieser aufgrund seiner Stärke vor aller Augen herausnimmt. Erst dann, wenn kein Ring mehr Unsichtbarkeit verleiht, zeigen sich wieder Schwäche und Stärke, scheiden sich entsprechend die Gerechten von den Ungerechten; denn stark ist der Ungerechte, weil er das tut, was jeder tun möchte, aber nicht jeder sich zu tun getraut; und schwach ist der Gerechte, weil er sich den Gesetzen beugt, obwohl er es eigentlich nicht möchte.

Es könnte so scheinen, als ob sich bei Thrasymachos wie bei Glaukon zwei heterogene gerechtigkeitspolemische Motive verbinden: ein nietzscheanisches, das die Gerechtigkeit als kollektive Erfindung der Schwachen ausgibt und den Gesetzesbrecher feiert, und ein rationalitätstheoretisches, das die rationale Vorzugswürdigkeit der Ungerechtigkeitsstrategie gegenüber der Gerechtigkeitsstrategie herausstellt. Jedoch darf man den Nietzscheanismus nicht übertreiben und das Lob des Ungerechten bei Thrasymachos und Glaukon nicht mißverstehen. Es hat nichts mit amoralischer Verwegenheit zu tun. Nicht um den Freiheitsgewinn des heroischen Individualismus, sondern um den Rationalitätsgewinn des banalen Individualismus geht es hier. Der Unterschied zwischen Stärke und Schwäche dient Thrasymachos wie Glaukon lediglich dazu, die Tatsache normenkonformen Verhaltens zu erklären. Wären alle stark, würde zwischen ihnen ein gerechtigkeitsloser Naturzustand herrschen, in dem die individuellen zwangsbewehrten Pleonexie-Strategien konkurrieren und kollidieren würden.

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