Читать книгу Platons "Staat" - Wolfgang Kersting - Страница 28

V. Adeimantos über Dichter, Götter und Gerechtigkeit (362 d – 367 e)

Оглавление

Bevor Sokrates auf Glaukon antworten kann, ergreift Adeimantos das Wort, denn in seinen Augen ist das Bild der allgemeinen Meinungen über Gerechtigkeit und Ungerechtigkeit noch unvollständig, damit aber auch die Position noch nicht klar genug konturiert, der die philosophischen Widerlegungsanstrengungen zu gelten haben. Seine Rede verdeutlicht den Vortrag des Bruders, spitzt dessen Thesen weiter zu und stellt weitere bereit. Nach Thrasymachos und Glaukon nun also Adeimantos, der das Lob der Ungerechtigkeit singt. Mit vereinten Kräften und unter Aufbietung aller Unterstützung durch die Dichter, die Götter und den common sense machen sie den Immoralismus stark. Die Trias ihrer Reden bildet die große herausforderungsvolle Antithese, mit der sich die Philosophie auseinanderzusetzen hat, gegen die sie sich behaupten muß.

Näherhin besteht Adeimantos’ Vortrag aus drei Teilen. Der erste Teil handelt von dem gängigen Lob der Gerechtigkeit und dem üblichen Tadel der Ungerechtigkeit und breitet aus, daß nach der Meinung der Leute die Gerechtigkeit reichen Lohn bei den Menschen, den Göttern, im Diesseits wie im Jenseits erwarten dürfe, die Ungerechten hingegen sowohl hienieden als auch im Hades bestraft würden, wo sie im Schlamm steckten und Wasser im Sieb tragen müßten. Freilich ist dieses Gerechtigkeitslob moralisch nicht viel wert, da es nicht "die Gerechtigkeit an und für sich, sondern nur den guten Ruf, den sie uns bringt“, meint (363 a). Es ist ein strategisches Lob, das nur die angenehmen Folgen der Gerechtigkeit im Auge hat. Und genau darin berührt sich das Referat Adameintos’ mit Glaukons Bild vom vollendet Ungerechten, denn das Bemühen des Meisters der Ungerechtigkeit, für gerecht gehalten zu werden, ist ja nur darum verständlich, weil der Besitz des Gerechtigkeitsscheins rational vorzugswürdig ist.

Man kann fragen, warum Sokrates und all seine Gesprächspartner diese strategische Anpassung nicht als umwegiges Lob der Gerechtigkeit auslegen, sondern darauf bestehen, daß in einem solchen Verhalten sich gerade das Höchstmaß an Ungerechtigkeit ausdrücke. Denn man kann doch durchaus die Überzeugung vertreten, daß Gerechtigkeitsheuchelei ein getarntes Gerechtigkeitskompliment ist und die Faktizität des Normativen bekräftigt, daß der Ungerechte sich durch Heuchelei und Anpassung der sozialen und moralischen Macht der Gerechtigkeit unterwirft und ihren Herrschaftsanspruch indirekt bestätigt. Eine solche Sichtweise versteht Gerechtigkeit offensichtlich als ein soziales Normensystem mit Gültigkeitsanspruch, in der Politeia wird Gerechtigkeit jedoch vordringlich unter der Perspektive ethischer Selbstsorge betrachtet, als innerseelische Ordnung und richtige Weise, ein Leben zu führen. Nicht um die äußeren Bedingungen, unter denen der Besitz des Gerechtigkeitsscheins rational vorzugswürdig ist, geht es hier, sondern um die wirklichen inneren und äußeren Auswirkungen des Gerechtseins und Ungerechtseins.

Der zweite Teil referiert andere Reden über Gerechtigkeit und Ungerechtigkeit, "wie man sie von Laien und von Dichtern hören kann“ (364 a). Denn wenn man von der Gerechtigkeit handelte, mußte man wissen, was die Dichter und Sänger zu sagen haben, denn die Dichter und Sänger waren für die Griechen Autoritäten der religiösen Überlieferung, Sachverständige der Moral; sie kannten die großen Erzählungen von der Welt, den Göttern und den Menschen und reichten sie weiter. So spickt Adeimantos denn seinen Vortrag mit Dichterzitaten, beruft sich auf Homer und Hesiod, Musaios und Orpheus, Pindar, Simonides und Archilochos. Und was sagen die Dichter über Gerechtigkeit und Ungerechtigkeit? Sie sagen, daß die Gerechtigkeit zwar schön, aber doch auch beschwerlich und mühselig sei, wohingegen die Ungerechtigkeit Vergnügen bereite und leicht zu erlangen sei. Zwar sei letztere durchaus schändlich, aber "nur der Meinung und dem Gesetze nach“.

Auch sie vertreten die schon bekannte These von der größeren Nützlichkeit der Ungerechtigkeit, ebenfalls die schon häufiger vorgebrachte, daß es dem Ungerechten gut und dem Gerechten schlechtginge. Es zeigt sich, daß die Dichter keine Moralisten sind, die die gesellschaftliche Doppelmoral bloßlegen, sondern daß sie sich bereitwillig der allgemeinen Gerechtigkeitsheuchelei anschließen. Öffentlich, so resümiert Adeimantos, werde die Gerechtigkeit zwar als eine noble Gesinnung von allen gelobt und die Ungerechtigkeit als sittlich verwerfliche Einstellung von allen getadelt, aber heimlich und in der Praxis lassen sich die Menschen von dem raschen Erfolg der Ungerechtigkeit blenden, und auch die Dichter zögerten nicht, ihre Anerkennung und Wertschätzung dem Siegreichen hinterherzuwerfen. In Theorie und öffentlicher Rede folge man artig den Bewertungskonventionen der offiziellen Gerechtigkeitsmoral, in der Praxis jedoch schenke man sein Wohlwollen dem Erfolg, blicke verächtlich auf die kargen Erfolgsbilanzen des lebensuntüchtigen Gerechten und voller Bewunderung auf die stolzen Erfolgsbilanzen der mit allen Wassern gewaschenen Ungerechten, die selbst die Götter auf ihren Gehaltslisten haben.

Wie, das fragt Adeimantos im dritten Teil seiner Rede, mag sich diese gesellschaftliche Doppelmoral, dieses Nebeneinander von ritueller, folgenloser Rede und erfolgsverschriebenem Handeln, nun auf die Seelenbildung der Heranwachsenden auswirken? Auf welche Seite werden sich die Jugendlichen schlagen, wenn sie den besten Weg für ihren Lebenslauf suchen? Auf die Seite der ohnmächtigen Gerechtigkeit oder auf die Seite der erfolgsverwöhnten Ungerechtigkeit? Natürlich, das ist zuzugeben, ist das Leben in Ungerechtigkeit nicht risikofrei in einer Gesellschaft, die sich mit Zwangsgesetzen gegen allseitiges Unrechtleiden wehrt, jedoch sind die Glückschancen eines ungerechten Lebens weitaus größer als die Glückschancen eines gerechten Lebens, denn der Ungerechte verfügt über Mittel und Wege, das ungünstige Schicksal zu korrigieren und sich vor Entdeckungen zu schützen: sie werden dazu "Verschwörungen und Geheimbünde stiften; auch gibt es Lehrer der Überredung, welche die Kunst der Rede vor Volk und Gericht mitteilen; demzufolge werden wir es teils durch Überredung teils mit Gewalt dahin bringen, daß wir unserem Geschäft der Übervorteilung straflos nachgehen können“ (365 d). Was braucht man mehr als Geld, gute Verbindungen und einen guten Anwalt?

Und auch die Götter stellen kein sonderliches Problem dar. Was bei den Menschen hilft, hilft auch bei den Göttern. Denn auch die Götter, das, so Adeimantos, würden die Menschen von den Dichtern erfahren, sind keine wahren Freunde der Gerechtigkeit, sondern Verbündete der Ungerechtigkeit, die sich bereitwillig durch "Opfer und demutsvolle Gelübde und Weihgeschenke“ (365 e) bestechen lassen. Auf die Götter darf die Gerechtigkeit also keine Hoffnung setzen, denn die da meinen, daß der Ungerechte vielleicht die Menschen täuschen, vor den Göttern sich jedoch nicht verbergen könne und seine ihm zukommende Strafe erhalten werde, irren sich über die Götter und ihr Verhältnis zu den Menschen. Denn es sei ja folgendes zu bedenken: entweder es gebe Götter oder es gebe sie nicht; wenn es keine Götter gebe, dann müssen wir uns bei unserem Handeln nicht um göttliche Belohnung oder Bestrafung sorgen; wenn es Götter gebe, dann könne es entweder so sein, daß sie sich nicht um die Menschen kümmern, oder so, daß sie sich um die Menschen kümmern. Wenn sie sich nicht um die Menschen kümmern, müssen auch wir uns nicht darum sorgen, wie die Götter unser Handeln beurteilen würden. Wenn sie sich aber um die Menschen kümmern und um unser Handeln Sorge tragen, dann werde es genau so sein, wie die Dichter berichteten; denn unser Wissen von den Göttern stamme allein von den mythologischen Erzählungen und theogonischen Gesängen der Dichter. Und von den Dichtern wissen wir, wie wenig Lohn der Gerechte davonträgt und wie leicht es dem Ungerechten fällt, durch Geschenke, Gelübde und Gebete die Götter umzustimmen und straflos davonzukommen. Und nicht nur die Lebenden kommen in den Genuß einer solchen Absolution, auch bereits Gestorbene können durch mitfühlende Angehörige mittels geeigneter göttergefälliger Reinigungshandlungen nachträglich freigesprochen werden. Die Götter sind also moralisch so zwielichtig wie die Menschen: beide lieben die Gerechtigkeit nicht; beide begnügen sich mit dem Schein der Gerechtigkeit, hinter dem sich die Ungerechtigkeit geschickt zu verbergen weiß; und beide haben ihre Sanktionssysteme so arrangiert, daß der geschickte Ungerechte es im Leben wie im Tode weit bringen kann. "Die Ungerechtigkeit brauchen wir nur mit einer erheuchelten Wohlanständigkeit zu umkleiden, um im Leben und nach dem Tode bei Göttern und Menschen uns alles nach Wunsch gehen zu sehen“ (366 b), das ist das moralisch entmutigende Resümee der Ausführungen des zweiten Platon-Bruders. Wer gleichwohl an der Gerechtigkeit festhält, muß entweder zum Unrechttun zu schwach sein oder eine "gottbegnadete Naturanlage“ besitzen, die ihn "das Unrechttun verabscheuen läßt“, oder aber "zur Erkenntnis gelangt“ sein, zu einer Erkenntnis, die Adeimantos bislang ebensowenig besitzt wie Glaukon und die anderen Zuhörer, die er sich aber wie alle anderen auch von Sokrates erhofft (366 c).

Platons

Подняться наверх