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5. Der Hiob-Test: Gerechtigkeit und unverdientes Leid (361 b – 362 c)

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Und wie sieht nun der vollendet Gerechte aus? Ein schlichter und edler Mann, der nicht nur gut scheinen, sondern gut sein will; der sich keinerlei Ehrungen und Geschenke durch den Schein von Gerechtigkeit erschleichen will, sondern der gerecht sein will und notwendigerweise den Lohn der Gerechtigkeit in dieser selbst sehen muß. Was die Menschen jedoch wirklich antreibt, ist nicht so leicht auszumachen. Der Reiche, dem es an nichts fehlt, kann gut gerecht sein, bereitet ihm doch die Gerechtigkeit keinerlei Kosten; und der, der geehrt wird, kann gut sagen, daß er die Gerechtigkeit und nicht die Geschenke liebt, ist doch das Innere undurchdringlich und daher niemand in der Lage, den Gegenbeweis anzutreten. Also benötigen wir einen Lackmustest: um herauszufinden, ob jemand die Gerechtigkeit wirklich liebt, muß er in einer Lage sein, in der diese Liebe kein Luxus, sondern eine Qual ist, in der ihm die Gerechtigkeit so große Nachteile bereitet, daß niemand ihn dafür tadeln würde, wenn er mit der Gerechtigkeit ernstlich haderte und endlich von ihr abließe. Wenn jedoch in solch einer Situation jemand unerschütterlich an der Gerechtigkeit festhält, sie weiterhin liebt, obwohl ihm die Liebe zur Gerechtigkeit so viel Schmerz und Leid bringt, dann muß er sie wirklich um ihrer selbst willen lieben. Also, so sagt Glaukon,

"darf man dem Gerechten nichts lassen als die Gerechtigkeit; und er muß das gerade Gegenteil bilden zu dem Vorigen: obschon er sich jeden Unrechts enthält, soll er mit dem größten Schein der Ungerechtigkeit umgeben sein, damit er die volle Probe der Gerechtigkeit abgelegt habe dadurch, daß üble Nachrede und deren Folgen ihn nicht im geringsten beugen. Unwandelbar soll er seinen Weg gehen bis zum Tode, dem Schein nach ungerecht sein Leben lang, in Wahrheit aber gerecht“ (361 cd).

Einen solchen Lackmustest der Gerechtigkeit kennt auch die biblische Überlieferung. Im Alten Testament wird von ihm berichtet, im Buch Hiob, in dem auch, zum Ende hin, von den beiden fürchterlichen Untieren erzählt wird, die dann bei Thomas Hobbes zu den Symbolbestien seines zwischen Bürgerkrieg und Staatsfrieden aufgespannten ordnungspolitischen Manichäismus werden. Welch atemberaubende und moralphilosophisch geniale Geschichte wird in diesem Buch Hiob erzählt! Ein an Anschaulichkeit und Präzision nicht zu überbietender Schlüsseltext über die moralische Blindheit des Weltlaufs, die Mühen der Gerechtigkeit und die enttäuschungsreiche Vergeltung des Gerechten. Vor allem aber: welch durch und durch teuflische Geschichte! Und immer dann, wenn es besonders teuflisch wird, kann Gott es sich nicht verkneifen mitzuspielen. "Meinst du, daß Hiob Gott umsonst fürchtet?“, mit dieser Frage eröffnet Satan das moralpsychologische Spiel um die Redlichkeit des Redlichsten. Es ist ein seelenchemisches Spiel, denn Chemie ist eine Scheidekunst, die die Elemente rein und unvermischt gewinnt. Satan, der schon von Berufs wegen von der Schlechtigkeit der Menschen ausgehen muß, vertritt offenkundig die These, daß die Menschen nur dann gerecht und gottesfürchtig sind, wenn sie der Überzeugung sind, daß es sich für sie auszahlt. Aus den gleichen Gründen, also ebenfalls von Berufs wegen, muß Gott natürlich dagegenhalten; außerdem möchte er – wie wir alle – um seiner selbst willen geliebt werden. Wie ist aber nun festzustellen, ob Hiob die Gerechtigkeit um ihrer selbst willen oder um ihrer angenehmen Folgen willen liebt? Nur dann können Gott und Satan, die offensichtlich alles andere als Herzenskundige sind, der Redlichkeit Hiobs sicher sein, wenn diese nicht durch entgegenkommende Umstände und angenehme Lebensbedingungen unterstützt und bestätigt wird, sondern wenn Gesinnungsleistung und Lebensbedingungen derart auseinandertreten, daß die Lebensumstände geradezu den Charakter einer Bestrafung annehmen. Wenn unter solchen denkbar ungünstigen Bedingungen jemand noch an der Gerechtigkeit festhält, wenn jemand Gott auch dann liebt, wenn sein ganzes Leben nur noch Qual und Leid ist, dann wird man davon ausgehen dürfen, daß Gerechtigkeit und Gott ihm um ihrer selbst willen lieb und wert sind und er weder an der Gerechtigkeit noch an dem Ratschluß Gottes zweifelt. Also machen sich Gott und Satan daran, Hiob zu prüfen, und das heißt: Hiob zu quälen, Hiob leiden zu lassen; und das meint: Gott gibt dem Teufel freie Hand, und dieser zeigt, was er kann.

Gyges-Situation und Hiob-Situation verweisen aufeinander: unbestrafte Ungerechtigkeit hier, bestrafte Gerechtigkeit dort; Gerechtigkeitsanschein hier, Ungerechtigkeitsanschein dort. Und wer darf nun als der Glücklichere gelten? Der vollendet Ungerechte, dem alles zum Vorteil und nichts zum Nachteil ausschlägt, oder der vollendet Gerechte, dem nichts zum Vorteil und alles zum Nachteil ausschlägt? Dieselbe Frage stellt auch Philus in Ciceros De re publica:

"Ich frage: wenn zwei sind, von denen der eine der beste Mann, der billigste, von letzter Gerechtigkeit und einzigartiger Verläßlichkeit ist, der andere von ausnehmender Verruchtheit und Verwegenheit, und wenn die Gemeinde in dem Irrtum lebt, daß sie jenen guten Mann für einen verbrecherischen, ruchlosen, frevelhaften hielte, dagegen aber meinte, der, der der ruchloseste ist, sei von größter Rechtlichkeit und Verläßlichkeit, und entsprechend dieser Meinung aller Bürger jener gute Mann gequält, geschleift, seine Hände ihm schließlich abgenommen, die Augen ihm ausgestochen würden, er verurteilt, in den Kerker geworfen, gebrannt, verbannt würde und in Armut lebte, endlich noch mit dem besten Recht allen am kläglichsten zu sein schiene, dagegen aber der Ruchlose gelobt, verehrt und von allen geliebt würde, alle Ehren, alle herrschenden Stellen, alle Macht, aller Reichtum aus aller Welt auf ihn gehäuft würden, und er in der Meinung aller endlich als der beste und jedes vortrefflichen Geschickes würdigste Mann gälte: wer wird dann denn so wahnsinnig sein, nicht zu wissen, welcher von beiden er lieber sein möchte?“5

In der Tat, Philus und Glaukon ist beizupflichten: wer würde sich nicht für den Ungerechten entscheiden, der im "Ruf der Gerechtigkeit steht“ und sich "aus dem Unrechttun kein Gewissen macht“ (362 b), denn offenkundig diesem – und nicht dem Gerechten – ist von "Seiten der Götter wie der Menschen ein besseres Lebenslos zugefallen“ (363 c). Er kommt zu Ansehen und Wohlstand; er vermag seine Konkurrenten auszustechen und seine Gegner zu übervorteilen; er befreit sich durch Tricks, Demagogie und Terror aus jeder mißlichen Situation. Er ist, man erinnere sich an Polemarchos’ Ausgangsdefinition, "seinen Freunden ein Wohltäter, seinen Feinden aber ein Verderber“ (362 c). Und er ist ein Liebling der Götter, die schützend ihre Hand über ihn halten, so daß ihm alles zu Wunsch und Willen geht. Apropos Götter: interessant ist, daß sich hier die Götter wie die Menschen vom virtuosen Ungerechten täuschen lassen. Auch sie also keine Herzenskundigen, aber auf sie ist immerhin Verlaß; sie sind bestechlich, und daher berechenbar; man kann ihnen etwas vormachen und darf von ihnen ein bestimmtes Verhalten erwarten. Sie funktionieren als zuverlässige Gegenspieler in einem rationalen Ritual des Gebens und Nehmens, des Empfangens und Dankens. Der Gott Hiobs hingegen entzieht sich aller rationalen Einvernahme: er ist unberechenbar, fremd, erratisch.

Sowohl Glaukon als auch Philus fungieren als advocatus diaboli: die von ihnen scharf pointierten Meinungen möchten sie entschieden widerlegt wissen. Aber führt die Methode der idealtypischen Zuspitzung nicht im Fall der Gerechtigkeit in die Irre? Werden hier nicht Mensch und Philosophie gleichermaßen überfordert? Kann der Philosoph allen Ernstes der Meinung sein, daß der standhafte Gerechte unter Folter glücklich bleiben kann? Vermag die Gerechtigkeit ihrer Auffassung nach in der Seele des Gerechten ein solch vortreffliches eudämonistisches Werk hervorzubringen, daß den Gerechten einzigartiges Glück erfüllt, obwohl sein Körper vor Schmerzen schreit? Wer würde denn hier zögern, sich Aristoteles anzuschließen, der eine solche Überzeugung schlicht als Unsinn bezeichnet hat?6 Die Vorstellung von der glückserzeugenden Standhaftigkeit des Gerechten auf der Folter vermag aus vielen Gründen nicht zu überzeugen. Nicht nur ist es empirisch unhaltbar und subjektivitätstheoretisch unsinnig, eine Glücksvorstellung zu entwickeln, die sich von körperlichem Wohlbefinden derart unabhängig macht, daß das Glück selbst von schrecklichstem Schmerz nicht bedrängt werden kann. Es zeugt auch von einem tiefen Mißverständnis von Moral und Tugend, wenn man glaubt, daß sich ihr wahrer Wert und ihre wahre Bedeutung erst in existentiellen Grenzsituationen enthüllt, nur der also als ein wahrhaft moralischer und tugendhafter Mensch gelten könne, der sich in Grenzsituationen zu bewähren wisse. Der Lebensraum von Moral und Tugend ist die Normalität, nicht die Ausnahme. Die Ausnahmesituation ist vielmehr der Ort, wo Moral und Tugend alles Recht verlieren, Forderungen zu stellen.

Noch eine Bemerkung zur dramatischen Opposition von Sein und Schein, mit der Glaukons idealtypische Schilderungen der Ungerechtigkeit wie der Gerechtigkeit operieren. Der Parallelismus, den Platon zwischen dem Gerechtigkeitsschein hier und dem Ungerechtigkeitsschein dort herstellt, verbirgt einen entscheidenden Unterschied. Während es im Fall des Ungerechten einleuchtet, daß der Gerechtigkeitsschein zur Ungerechtigkeitsstrategie gehört, ist es im Fall des Gerechten nicht einzusehen, warum es zur Gerechtigkeitsstrategie, zum vollendeten Gerechtsein gehören sollte, ungerecht zu scheinen, oder warum es mit dem Gerechtsein notwendig verbunden wäre, für ungerecht gehalten zu werden. Ist im Fall des Ungerechten der Gerechtigkeitsschein also integraler Bestandteil der nutzenmaximierenden Handlungsstrategie, so fehlt im Fall des Gerechten jede innere Verbindung zwischen dem Gerechtsein und dem Ungerechtscheinen. Sein und Schein stehen also in den beiden idealtypischen Darstellungen von Ungerechtigkeit und Gerechtigkeit nicht im selben Verhältnis zueinander. Ist im Fall des Ungerechten der Schein selbstproduziert, so ist der Schein im Fall des Gerechten das Produkt der Umwelt. Wird einmal die Umwelt durch den Ungerechten bewußt getäuscht, so täuscht sich im anderen Fall die Umwelt – fälschlicherweise – über den Gerechten. Täter und Opfer tauschen hier also ihre Rollen. Steht hinter dem Gerechtigkeitsschein der Ungerechte als Täter und die Gesellschaft als Opfer, so steht hinter dem Ungerechtigkeitsschein die Gesellschaft als Täter und der Gerechte als Opfer. Und genau darin liegt die Pointe der idealtypischen Gegenüberstellung: von dem Ungerechten wird ein Täterbild gezeichnet, während der Gerechte als Opfer dargestellt wird. Bei der Wiederaufnahme dieses eudämonistischen Vergleichstests von Gerechtigkeit und Ungerechtigkeit im letzten Buch der Politeia wird sich zeigen, daß die philosophische Widerlegung dieser geläufigen Vorstellungen von Gerechtigkeit und Ungerechtigkeit auch diese Wertung in ihr Gegenteil verkehrt. Die Konzeption der inneren Vernunftherrschaft läßt das Opferbild von der Gerechtigkeit verblassen, und im Gegenzug büßt der mit sich selbst verfeindete, unglückliche Ungerechte alle Tätereigenschaften ein und entpuppt sich als Getriebener.

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