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1. Agathologische Trias (357 bc)
ОглавлениеGlaukon beginnt seinen Vortrag mit einer wichtigen begrifflichen Distinktion, die drei Arten von Gutsein unterscheidet. Schon an diesem Gesprächseinsatz ist der Unterschied zum Diskussionsstil des Thrasymachos deutlich sichtbar; dieser blieb stets im vorbegrifflichen Umkreis der common-sense-Rhetorik, bemühte sich nicht im mindesten um kategoriale Differenzierung und begrifflichen Schliff. Das wenige, das an begrifflicher Unterscheidungsleistung erbracht worden ist, entstammte den Nachfragen Sokrates’. Hier, bei Glaukon, finden wir einen geradezu philosophisch-professionellen Einsatz. Mit nur einem Zug erreicht es Glaukon, daß das Gespräch auf ein bislang noch nicht erreichtes Niveau gehoben wird. Eine offenkundig vollständige agathologische Trias wird eingeführt, die den begrifflichen Rahmen absteckt, innerhalb dessen die Frage nach dem Nutzen der Gerechtigkeit mit einer nicht unberechtigten Hoffnung auf Klarheitsgewinn neu gestellt und eindeutig beantwortet werden kann.
Wenn etwas begehrenswert ist, dann kann es, so sagt uns Glaukon, aus drei zu unterscheidenden Gründen begehrenswert sein: um seiner Folgen willen, um seiner selbst willen und um seiner Folgen wie um seiner selbst willen. Von welcher Qualität ist nun die Gerechtigkeit? – so lautet die an Sokrates gerichtete Frage. Und dieser antwortet nicht überraschend: "Meines Erachtens gehört sie zu dem Schönsten, nämlich zu dem, was sowohl um seiner selbst willen wie wegen der daraus entspringenden Folgen von jedem geliebt werden muß, der glücklich werden will“ (358 a).
Aber was genau ist damit gemeint, wenn Sokrates von der Gerechtigkeit sagt, daß sie sowohl um ihrer selbst willen wie auch wegen der daraus entspringenden Folgen geliebt werde? Was ist darunter zu verstehen, wenn von der Gerechtigkeit gesagt wird, daß sie sowohl Selbstzweck als auch Mittel für anderes Wünschenswertes sei? Wenn Platon davon spricht, daß Handlungen wegen der daraus entspringenden Folgen durchgeführt werden, dann denkt er an die Außenwirkungen der Handlungen, an ihre Auswirkungen auf die Versorgung mit äußeren Gütern. Wenn Platon davon spricht, daß Handlungen um ihrer selbst willen erstrebenswert seien, dann ist damit nicht gemeint, daß sie keinerlei Folgen hätten, dann ist damit auch nicht gemeint, daß sie nicht um ihrer Folgen willen gewollt werden könnten, dann ist damit vielmehr gemeint, daß sie eine auf die Innenwelt des Handelnden gerichtete, gemütsbildende und charakterformende Wirkung besitzen, daß sie begrüßenswerte Auswirkungen auf die Versorgung mit inneren Gütern besitzen. Daß diese Unterscheidung zweier Güterklassen durch den Text selbst abgestützt wird, zeigt Glaukons methodologische Vorbemerkung, die zwei Betrachtungsperspektiven trennt, eine, die Lohn und Folgen von Gerechtigkeit und Ungerechtigkeit thematisiert, und die andere, die sich darauf konzentriert, ‘welche Kraft Gerechtigkeit und Ungerechtigkeit an und für sich haben, wenn sie unserer Seele innewohnen’ (vgl. 358 b).
Freilich, das räumt Sokrates Glaukon gern ein: die meisten sehen das nicht so wie er, der Philosoph. Ihnen erscheint die Gerechtigkeit keinesfalls als inneres Gut, sondern sie betrachten die Gerechtigkeit als eher lästige Konformitätsübung, zu der sie sich nur wegen der sozialen Folgen bereit finden. "Um belohnt zu werden und in den Augen der Umwelt gut dazustehen“ (358 a), halten sie sich an die Gerechtigkeit: wo man der sozialen Kontrolle nicht entgehen kann, ist die Gerechtigkeit eine unabdingbare Strategie zur Schadensvermeidung. Sokrates sieht selbst die Nähe dieser common-sense-Position zu dem thrasymacheischen Lob der Ungerechtigkeit; denn aufgrund des Lastcharakters der Gerechtigkeit werden nur die Gerechtigkeit üben, die dem Konformitätsdruck der Allgemeinheit nicht standhalten können, die Starken hingegen, die sich um die Meinung der Menschen nicht scheren, werden die Last der Gerechtigkeit abwerfen und sich von ihren Zumutungen befreien.
Zur Vorbereitung der genau abwägenden Entscheidung, welche der Meinungen nun die Wahrheit für sich hat, die sokratische oder die von Thrasymachos nur zugespitzte und radikalisierte des common sense, liefert Glaukon eine Reihe von Klarstellungen, die die einzelnen Thesen mit einem deutlichen Profil versehen sollen. Im einzelnen handelt es sich dabei um eine Thesenabfolge, die mit Spekulationen über die Entstehung der Gerechtigkeit beginnt, sodann den Lastcharakter der Gerechtigkeit und die Unwilligkeit des Gerechten darstellt und schließlich in ein Lob des besseren Lebens der Ungerechten à la Thrasymachos mündet. Dabei will er sich, eingedenk seiner Rolle des advocatus diaboli, um eine möglichst gewinnende Darstellung des Gerechtigkeitsskeptizismus des common sense bemühen.