Читать книгу Platons "Staat" - Wolfgang Kersting - Страница 12
2. Ungerechtigkeit ist rational vorzugswürdig (343 b – 344 c)
ОглавлениеWie aber seine lange Entgegnung auf Sokrates’ raffinierte Inversion seiner Ausgangsthese nun deutlich macht, hat Thrasymachos nie eine normative Gerechtigkeitsdefinition im Sinn gehabt. Freilich ging es ihm auch nicht um eine Reduktion von Gerechtigkeit auf Legalität oder um die herrschaftssoziologische Beobachtung, daß die Herrschenden ihr Interesse in der Regel nie aus den Augen verlieren. Wie seine umfangreiche Ausführung vermuten läßt, ging es dem Sophisten wohl von Anfang an um rationale Gerechtigkeitskritik, um den Nachweis, daß Gerechtigkeit sich nicht auszahle, Gerechtigkeit zu verlangen also lebensfremd sei, und jeder vernünftige Mensch gut daran tue, sich nicht um die Belange der Gerechtigkeit zu kümmern. Nur vermochte er dies aufgrund sprachlicher Ungeschicklichkeit bislang noch nicht in hinreichender Deutlichkeit zum Ausdruck zu bringen – was Sokrates immerhin die Gelegenheit bot, mit seiner Widerlegung der These, daß wahre Herrschaftskunst in der Mehrung des den Herrschenden Zuträglichen bestünde, eine erste Ahnung von wahrhafter Herrschaftsausübung und der Allgemeindienlichkeit der Gerechtigkeit zu vermitteln.
Im einzelnen umfaßt Thrasymachos’ Entgegnung die folgende Thesenfolge:
1 Gerechtigkeit ist das dem Herrschenden Zuträgliche und dem Gehorchenden Unzuträgliche.
2 Ungerechtigkeit "herrscht über die ‘wahrhaft’ Einfältigen und Gerechten“ (342 c).
3 Der gerechte Mann ist gegenüber dem Ungerechten allenthalben im Nachteil.
4 Gerechtigkeit bringt keinen Vorteil, Ungerechtigkeit bringt allen Vorteil; das ist am leichtesten einzusehen, wenn man die Tyrannenherrschaft betrachtet, die "vollendetste Ungerechtigkeit“, "die den Frevler zum glücklichsten Menschen macht, die von ihm Mißhandelten aber und keines Unrechts Fähigen zu den unglücklichsten“ (344 a).
5 "Wer die Ungerechtigkeit schmäht, tut dies nicht aus Scheu vor dem Unrechttun, sondern vor dem Unrechtleiden“ (334 c).
6 "Ungerechtigkeit, wenn sie nur gehörig im Großen verübt wird, hat etwas viel Kraftvolleres, Vornehmeres und Herrenmäßigeres als die Gerechtigkeit“; der "vollendete Meister aller Ungerechtigkeit“ wird heimlich von allen bewundert (334 c).
Es ist interessant, diesen Argumentationsweg näher zu betrachten. Ursprünglich wurde die Gerechtigkeitsformel: Gerecht ist das den Herrschenden und Stärkeren Zuträgliche aus der Perspektive des Stärkeren ausgelegt. Nun aber kommt die Betrachtungsperspektive des Schwächeren ins Spiel: der Untergebene und Gesetzesunterworfene verhält sich durch Dienen und Gehorsam gerecht und läßt dadurch dem Stärkeren das diesem Zuträgliche zuteil werden. Gerechtigkeit ist "in Wahrheit der Vorteil eines anderen“ (344 c), also etwas, was gut für einen anderen, aber nicht gut für einen selbst ist. Gerechtigkeit läßt also der Dienende und Gehorchende walten, indem er das tut, was anderen von Vorteil ist, ihm hingegen zum Nachteil gereicht. Daher, so des Sophisten verallgemeinernder Schluß, ist Gerechtigkeit Selbstbenachteiligung und Mißachtung der eigenen Interessen; daher wird man Gerechtigkeit nur dort finden, wo jemand entweder aus lauter Einfältigkeit sich nicht um seine eigenen Interessen kümmert oder aus Schwäche nicht in der Lage ist, seine Interessen wirksam durchzusetzen. Entscheidend ist, daß mit Thrasymachos’ Neueinsatz die Betrachtungsperspektive so verändert worden ist, daß das, was bislang der Nutzen der Gerechtigkeit (für die politisch Stärkeren) war, jetzt als Kosten der Gerechtigkeit (für die allgemein menschlich und gesellschaftlich Schwachen) erscheint. Ursprünglich war ‘gerecht’ das für den Stärkeren Förderliche, dann, aus der Perspektive des Schwachen betrachtet, das für den anderen Förderliche. Damit wird der Übergang hergestellt zur These von der allgemeinen Nachteiligkeit des Gerechtigkeitübens und der allgemeinen Vorteilhaftigkeit des Ungerechtseins. Freilich muß dabei unterschlagen werden, daß bei der Ausgangssituation genau das Gegenteil angenommen wurde, nämlich die Vorteilhaftigkeit der Gerechtigkeit für die Stärkeren. Jetzt sind die sich Vorteile verschaffenden und Vorteile sichernden Stärkeren geradezu Beispiele der Ungerechtigkeit, wohingegen die Schwachen Beispiele der Gerechtigkeit seien, einer Gerechtigkeit freilich, die alles andere als attraktiv ist und keinerlei Lob verdient.
Gerechtigkeit zahlt sich nicht aus, so zeigt uns Thrasymachos an vielen Beispielen. Insbesondere ist die Verbindung von Ungerechtigkeit, Vorteil und Glück dann am zuverlässigsten und festesten, wenn wir uns die Ungerechtigkeit im großen Stil, den großkalibrigen Verbrecher ansehen. Thrasymachos ist ein genauer Beobachter der menschlichen Empfindungen und Angelegenheiten. Es ist ein eigentümliches Phänomen, daß der moralischen Ungeheuerlichkeit, der Schandtat und dem Frevel, wenn sie denn nur das Banal-Durchschnittliche übersteigen und von Format sind, ein merkwürdiger, von Schauer durchzogener Respekt entgegengebracht wird; die regelkonforme Normalität ist von dem Regelbruch großen Ausmaßes fasziniert. Vollendete Ungerechtigkeit ist eine, die sich zeigt, die vor aller Augen, unverborgen und am hellichten Tag handelt. Hier braucht die Sonne nichts mehr an den Tag zu bringen, hier findet die Schandtat immer schon in der Öffentlichkeit statt. Und am raffiniertesten sind diese "vollendeten Meister aller Ungerechtigkeit“ (344 c), wenn sie ihre raffgierigen und moralverächtlichen Vorteilsmehrungsstrategien, ihre Raubzüge und Verbrechen mit dem Siegel der Gerechtigkeit und des verdienten Glücks versehen können, wenn es ihnen gelingt, sich als "Glückselige“ und "Gottbegnadete“ feiern zu lassen.
Thrasymachos’ Vortrag gipfelt in einem Lob der Ungerechtigkeit, das eine Realismusthese mit einer Ästhetizismusthese verbindet. Thrasymachos begnügt sich nicht mit dem Nachweis der rationalen Vorzugswürdigkeit der Ungerechtigkeit, sondern er feiert die Ungerechtigkeit, bewundert sie als Haltung einer amoralischen Exzellenz. Der auslösende Befund selbst ist nicht ungewöhnlich: daß die Welt nicht gerecht ist, sondern meritorisch pervers agiert und die Gerechten bestraft und die Ungerechten belohnt, gehört zum Standardrepertoire der moralischen Weltklage. Ungewöhnlich und verstörend ist aber Thrasymachos’ Wertung dieses Sachverhalts; sie hat ihn neben Machiavelli und Kallikles zu einer der großen abendländischen Symbolfiguren des Immoralismus gemacht. Thrasymachos schlägt sich auf die Seite des Gewinners; er preist die Ungerechtigkeit und ihre rationale Überlegenheit. Aber sie ist nicht nur eine dominante Strategie der Nutzenmehrung, sie hat auch, und damit geht die Realismusthese in die Ästhetizismusthese über, einen eigentümlichen Wert, der eine sich über alle moralischen Konventionen hinwegsetzende Bewunderung auszulösen vermag. Insbesondere wenn Ungerechtigkeit im großen Stil ausgeübt wird, zeigt sich ihr amoralisch-aristokratischer Charakter, erweist sie sich als "etwas viel Kraftvolleres, Vornehmeres und Herrenmäßigeres als die Gerechtigkeit“ (344 c).
Wie sehr Sokrates sich irrt, wenn er Thrasymachos’ Ausführung als Vorschlag für eine alternative normative Gerechtigkeitsdefinition versteht, zeigt sich darin, daß Thrasymachos’ rationale Gerechtigkeitskritik nur dann sinnvoll ist, wenn sie sich auf die konventionelle Semantik der Gerechtigkeitssprache stützt. Der, der der Gerechtigkeit nachsagt, daß sie sich nicht auszahlt, nimmt sie in ihrem Normalverständnis und bestätigt sie durchaus in ihrem üblichen normativen Anspruch. Weder leugnet er ihren normativen Anspruch noch plädiert er für eine Neubestimmung. Er macht nur geltend, daß die Forderungen der Gerechtigkeit in einem so eklatanten Maße dem menschlichen Glücksinteresse widerstreiten, daß Gerechtigkeit nur bei Schwachen und Einfältigen zu finden sei, wohingen alle, die ihr Interesse durchzusetzen in der Lage seien, sich über sie hinwegsetzten. Nur durch Ungerechtigkeit also kann man seinen Vorteil finden, wenn man jedoch Gerechtigkeit übt, dann wird man nur denen in die Hände arbeiten, die sich in ihrer Interessenverfolgung durch moralische Disziplin nicht behindern lassen. Daher kann Thrasymachos seine Rede mit folgendem paradox klingenden Resümee beschließen: "Das Gerechte ist der Vorteil des Stärkeren, das Ungerechte aber ist das, was für die eigene Person Nutzen und Vorteil schafft“ (344 c).
Thrasymachos und Sokrates reden offenkundig aneinander vorbei. Während der Philosoph das Wesen der Gerechtigkeit klären möchte, wissen möchte, was Gerechtigkeit ist, und darum gängige Gerechtigkeitsdefinitionen einer philosophischen Überprüfung unterwirft, ist der Sophist einzig an den Auswirkungen gewöhnlichen gerechten Verhaltens interessiert. Während die philosophische Untersuchung einen wissensbegründeten Gerechtigkeitsbegriff anvisiert und daher das konventionelle Gerechtigkeitsverständnis transzendieren muß, macht der Sophist gerade dies konventionelle Gerechtigkeitsverständnis zur Grundlage seiner empirischen Nützlichkeitsbetrachtungen. Die dabei angestellten provozierenden Beobachtungen über die Nachteiligkeit der Gerechtigkeit sind jedoch trotz aller Entfernung von der Ausgangsfrage nach dem Wesen der Gerechtigkeit und trotz aller Differenz zwischen dem philosophischen Klärungsdiskurs und dem sophistischen Entlarvungsdiskurs von großer Bedeutung für den Fortgang des Dialogs, enthalten sie doch eine große gerechtigkeitstheoretische Herausforderung, der sich jede philosophische Bestimmung der Gerechtigkeit stellen muß. Mit seiner Darstellung des heiklen Verhältnisses von Gerechtigkeit und Glück hat Thrasymachos eine allgemeine gerechtigkeitsphilosophische Gelingensbedingung in die Diskussion eingeführt. Wenn es der Philosophie nicht gelingt, eine glücksdienliche Gerechtigkeitsvorstellung zu entwickeln und die sophistischen Analysen durch eine überzeugende alternative Deutung der eudämonistischen Gerechtigkeits- und Ungerechtigkeitswirkungen vergessen zu machen, wird sie scheitern. Denn die Frage nach dem Wesen der Gerechtigkeit ist von eminenter Wichtigkeit, bezieht sie sich doch auf die "ganze Art der Lebensführung, von deren Befolgung es für einen jeden von uns abhängt, ob er das zweckmäßigste Leben führt“ (344 d). Und sollte es der Wahrheit entsprechen, daß "die Ungerechtigkeit ... gewinnbringender als die Gerechtigkeit“ ist, man ihr also "völlig freie Bahn“ lassen und sie nicht hindern soll, dann gibt es kaum noch einen einleuchtenden Grund, die "Gerechtigkeit über die Ungerechtigkeit zu stellen“ und bei der Frage nach der richtigen Lebensführung sich an die Gerechtigkeit zu halten (345 b).
Die thrasymacheische These, daß sich Gerechtigkeit nicht auszahle und Ungerechtigkeit weitaus nützlicher sei, stellt für Sokrates eine große Herausforderung dar. Er muß sie überzeugend widerlegen, denn daß eine Gerechtigkeit, die keinerlei lebenspraktischen Nutzen mit sich bringt, wenig erstrebenswert ist, bezweifelt er nicht. Auch für Sokrates steht es fest, daß niemand etwas tun wird, was ihm schadet. Höherrangige Motive der Pflicht, die sich über die Nutzen-Kosten-Kalkulationen der interessenverwaltenden Klugheit erfolgreich hinwegsetzen, kennt er nicht. Jede Moral, die sich gegenüber dem thrasymacheischen Lob der Ungerechtigkeit behaupten will, muß die von dem Sophisten aufgemachte eudämonistische Rechnung korrigieren. Nicht durch Außerkraftsetzung des Beurteilungsprinzips der Handlungsfolgenabwägung kann sich die Gerechtigkeitsmoral gegen ihre sophistische Diskreditierung wehren, sondern allein durch eine Gegenrechnung auf gleichem eudämonistischen Niveau, durch den Nachweis, daß die Glücksverteilungen und Gerechtigkeitsverteilungen konvergieren und sich nicht, wie Thrasymachos glauben macht, umgekehrt proportional zueinander verhalten. Der Philosoph muß die sophistische Herausforderung also annehmen, die Suche nach einem angemessenen Gerechtigkeitsbegriff erst einmal aufschieben und sich der Richtigstellung der thrasymacheischen These über die rationale Vorzugswürdigkeit der Ungerechtigkeit widmen. Das thrasymacheische Lob der Ungerechtigkeit verlangt nach einer sofortigen Antwort, nach einem Lob der Gerechtigkeit, das die Vorzüge der Gerechtigkeit herausstreicht. Diese Verteidigung der Gerechtigkeit kann freilich nur tentativ und vorläufig sein, da eine angemessene philosophische Wesensbestimmung der Gerechtigkeit noch aussteht, eine gültige Darstellung des eudämonistischen Lohns der Gerechtigkeit aber eine vollständige Kenntnis des Wesens der Gerechtigkeit voraussetzt.