Читать книгу Platons "Staat" - Wolfgang Kersting - Страница 8

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A. Erörterung geläufiger Gerechtigkeitsvorstellungen

I. Kephalos und die natürliche Sittlichkeit (327 a – 331 d)

Zusammen mit Glaukon war Sokrates in den Peiraieus hinuntergestiegen, um zur thrakischen Göttin Bendis zu beten und das Fest zu besuchen, das zu Ehren dieser neuen Athener Stadtgöttin im Hafen veranstaltet wurde. Als die beiden sich nun wieder auf den Heimweg zurück in die höhergelegene Stadt machen wollten, werden sie von einer Gruppe junger Leute angehalten und unter scherzhafter Zwangsandrohung zum Bleiben veranlaßt: während der Nachtfeier, so erzählte man ihnen, werde es hier unten ein spektakuläres Pferderennen geben, das man keinesfalls versäumen dürfe. Sokrates willigt ein, und um die Zeit bis zum Abend zu überbrücken, lädt Polemarchos den Philosophen und seinen Begleiter in sein nahegelegenes Haus ein, wo neben anderen bekannten jungen Leuten sich auch sein alter Vater Kephalos befindet, ein aus Sizilien zugereister Grieche, der es zu Ansehen und beträchtlichem Wohlstand gebracht hat.

Kephalos begrüßt den berühmten Gast; und aus den freundlichen und höflichen Worten entwickelt sich das erste Gespräch des ersten Buches. Es beginnt mit einem Austausch von Komplimenten. Wie sehr würde er sich doch wünschen, so der Hausherr, daß der Philosoph häufiger vorbeisehen würde, denn mit dem fortschreitenden Alter würden die Freuden des Körpers verkümmern und "das Verlangen nach geistig anregender Unterhaltung“ (328 d) sich immer stärker geltend machen. Sokrates ist höflich und entgegnet, daß er sich gern mit hochbetagten Männern unterhalten würde, um von ihnen zu erfahren, welche Bewandtnis es mit dem Älterwerden habe. Und so bittet er Kephalos denn auch gleich um einschlägige Unterweisung über die Bürden und Vorzüge des Greisenalters. Manche, so Kephalos, bejammerten ihr Alter und trauerten den Herrlichkeiten der Jugend hinterher und beklagten den Verlust der sinnlichen Freuden, stimmten auch Klagen über ihre Angehörigen an, die sie übel behandelten, doch er, Kephalos, könne ihnen nicht zustimmen, denn zum einen sei es eine Wohltat, wenn einem die sexuellen Begierden abhanden kommen würden, als ob man von vielen Gewaltherrschern befreit worden wäre, und zum anderen sei es ohnehin nicht die Physiologie, die die Lebenssituation der Menschen bestimme, sondern der Charakter, und einem gediegenen Charakter könne auch das Alter nichts anhaben, denn er bestimme, wie sich das Alter auswirke, auf einen selbst wie auf das Verhältnis zu anderen. Freilich würden manche das wohl nicht gelten lassen, meint Sokrates und versucht die Leichtigkeit, mit der Kephalos das Alter trage, weniger seinem Charakter als seinem Reichtum zuzuschreiben. Kephalos leugnet nicht, daß der Reichtum auch im Alter viele Vorteile besitze und auch der anständig Gesinnte das Alter in Armut nicht leicht ertragen könne, besteht aber doch darauf, daß Seelenfrieden und Ausgeglichenheit ohne einen anständigen Charakter nicht zu erreichen seien und auch der Reichste, mangele es ihm an Charakter, mit seinem ganzen Reichtum nichts gegen das Alter ausrichten könne.

Damit ist die Rede vom Alter auf den Reichtum gekommen. Wollte Sokrates erst von dem betagten Kephalos wissen, welche Nachteile und Vorzüge das Alter bringe, so will er jetzt von dem reichen Kephalos wissen, welches das größte Gut sei, dessen Genuß ihm sein großes Vermögen verschafft habe. Die Antwort, die der Greis gibt, überrascht: der Vorteil des Reichtums zeige sich darin, daß man am Ende seines Lebens, wenn man in Sorge um das Schicksal nach dem Tod ängstlich eine moralische Inventur seines abgelaufenen Lebens unternehme, zumindest als anständig Gesinnter die zuversichtliche Überzeugung haben dürfe, daß man wohl niemanden in der Vergangenheit mit Vorsatz belogen oder betrogen habe und bei seinem Tode "weder einem Gott irgendwelche Opfer ... noch einem Menschen Geld“ schuldig geblieben sei (331 b). Dieser erstaunliche Pragmatismus des Kephalos, der für den armen Sokrates freilich nicht sonderlich tröstlich sein kann, steht offenkundig in genauem Gegensatz zum christlichen Verdacht, daß eher ein Kamel durchs Nadelöhr gehe als ein Besserverdienender ins Himmelreich komme.

Und damit ist man bei dem Thema der Gerechtigkeit angelangt1. Nicht daß Kephalos selbst diesen Begriff erwähnt hätte, er hat ja auch gar nicht über Gerechtigkeit geredet. Sokrates, offenbar mit seiner Geduld am Ende, bringt diesen Begriff ins Spiel, führt ihn als eine Art Zusammenfassung der Rede des Kephalos ein und macht ihn in einem abrupten Diskurswechsel sogleich zum Ausgangspunkt einer philosophischen Untersuchung.

"Das ist ein sehr schönes Wort, Kephalos, sagte ich. Aber was eben diesen Punkt, die Gerechtigkeit nämlich, betrifft, wie sollen wir es damit halten? Sollen wir sie so schlechthin als gleichbedeutend mit der Wahrhaftigkeit setzen und mit dem Zurückgeben dessen, was man von anderen empfangen hat, oder liegt die Möglichkeit vor, eben dabei zuweilen, wohl gerecht, zuweilen aber auch ungerecht zu verfahren?“ (331 c).

Der Konversationston ist verschwunden, das bemüht gebildete, mit Dichterworten gespickte und ein wenig selbstgefällige Plaudern des Alten einem wahrheitsorientierten, methodisch organisierten Rededuktus gewichen. Jetzt wird Sokrates philosophisch und grundsätzlich; jetzt will er keine Erfahrungen hören, jetzt will er eine Antwort auf die Frage nach dem Wesen der Gerechtigkeit, nach dem, was Gerechtigkeit eigentlich ist. Mustergültig führt Platon hier die Dekontextualisierung vor, ohne die das Niveau philosophischer Fragestellungen nicht gewonnen werden kann: von der persönlichen Erfahrung zur Sache geht die Bewegung, von der sozialpragmatisch konstituierten, durch lebensweltliche Verflechtung und Situativität bestimmten Rede zur kontextfreien Begriffs- und Sachanalyse. War es bislang nur Kephalos, der redete und jede Frage des Gastes mit einem altersgeschwätzigen Wortschwall beantwortete, so redet nun Sokrates, und Kephalos wird ganz einsilbig. Nur noch ein mattes "Da hast du recht“ ist von ihm zu hören, und dann verabschiedet er sich: er müsse noch nach dem Opfer sehen.

Kephalos hatte, als reicher Mann nach dem größten Nutzen des Reichtums für ihn gefragt, folgendes erklärt: zumindest bei grundsätzlich anständig Gesinnten werde der Reichtum dazu führen, daß sie ihre Mitmenschen weder vorsätzlich belügen oder betrügen noch ihnen oder den Göttern bei ihrem Ableben irgend etwas schuldig bleiben werden. Reichtum ist also in hohem Maße nützlich für die Moral. Die Moral, um die es hier geht, ist die Moral der Schuldigkeitspflichten, der officia debiti; wir sind unseren Mitmenschen Wahrhaftigkeit und Ehrlichkeit schuldig; und ebenso sind wir verpflichtet, ihnen das zu geben, was wir ihnen schuldig sind. Und jemand, der seine Schuldigkeitspflichten erfüllt, der anderen gibt, was sie mit Recht von einem verlangen können, nennen wir einen gerechten Menschen. Reichtum ist also nützlich für die Gerechtigkeit, oder genauer noch: Reichtum macht es einem leichter, keine ungerechten Handlungen zu begehen. Die These, in die Kephalos’ Ausführungen münden, ist also eine These über Verwirklichungsbedingungen der Moral oder – auf das moralische Subjekt bezogen und daher im Hinblick auf Kephalos’ Betrachtungsperspektive angemessener formuliert – über Erleichterungsbedingungen eines sich um Moral bemühenden Lebens. Es ist eine pragmatische These, die zum einen nie beansprucht, über den lebensweltlichen Erfahrungshorziont des common sense hinauszugehen, und zum anderen von den moralischen Überzeugungen des common sense selbstverständlichen Gebrauch macht: was Moral ist, was Gerechtigkeit bedeutet, wird von Kephalos vorausgesetzt.

Sokrates stülpt nun diese These mit sophistischer List um: das als fraglos Geltende und in seinen Anforderungen Bekannte wird zum Gegenstand der Frage; und die von Kephalos vorgetragenen Beispiele moralischen Handelns werden von Sokrates als Definitionsangebote für den Moralresp. den Gerechtigkeitsbegriff genommen, so daß er dann an den Anfang seiner Ausführungen die auf einem vorsätzlichen Mißverständnis der Äußerungen des Kephalos beruhende und aus anderen Dialogen bekannte Was-ist-X-Frage stellen kann. Wie ist es um die Gerechtigkeit bestellt? Ist sie gleichzusetzen mit Wahrhaftigkeit und dem Zurückgeben dessen, was man von anderen geliehen oder für andere verwahrt hat? Offensichtlich nicht, denn der, dem wir Wahrhaftigkeit schulden oder etwas zurückzugeben verpflichtet sind, könnte sich in einem Zustand befinden, in dem es höchst unvernünftig – ‘ungerecht’ – sein könnte, ihm die Wahrheit zu sagen oder ihm das Geliehene oder für ihn Verwahrte zurückzugeben. Also "bestimmt man die Gerechtigkeit nicht richtig, wenn man sagt, sie bestehe darin, daß man die Wahrheit sagt und zurückgibt, was man empfangen hat“ (331 c).

Mit dem Gegenbeispiel von dem wahnsinnig gewordenen Freund, dem man die hinterlegte Waffe besser nicht aushändigen sollte, befindet sich Sokrates erst am Anfang seiner Gerechtigkeitsausführungen. Für Kephalos geht aber bereits dieser Anfang zu weit. Der Reflexionsstandpunkt der Philosophie ist ihm unverständlich. Seine im Herkömmlichen verankerten Wertüberzeugungen müssen die begrifflichen Erörterungen der philosophischen Wahrheitssuche und Geltungssicherung bestenfalls als unnötig, schlimmstenfalls als ärgerlich und frivol ansehen. Kephalos verkörpert das ethische Wissen der Väter. Der, dem alles selbstverständlich ist, findet sich in einer philosophischen Unterredung, in der es um Angriff und Verteidigung, Widerlegung und Rechtfertigung geht, nicht zurecht. Nur der kann da mitspielen, der zu grundlegenden Reflexions- und Distanzierungsleistungen fähig ist; wer jedoch Geltung lebt, kann nicht Geltung thematisieren und seine Bedingungen untersuchen. Kephalos kann erzählen, aber nicht argumentieren. Er hat keine Begriffe, sondern nur konventionelle Erfahrungen, die er auf konventionelle Weise zum Ausdruck bringt, durch Dichterworte und Sentenzen wie aus einem ethischen Almanach. Sein gelebtes Ethos ist der Reflexionsmacht der Philosophie nicht gewachsen. Sobald es anfängt, sich den philosophischen Diskursen zu stellen und den Regeln der diskursiven Rationalität zu unterwerfen, beginnt sein Sterben, gleichgültig welchen Ausgang dieses Spiel der argumentativen Selbstbehauptung und der rationalen Begründung nimmt. Eine Tradition, die sich mit Gründen am Leben halten will, ist längst tot; das ist das Dilemma eines jeden weltanschaulichen, über den pragmatischen Realismus des common sense hinausgehenden Konservativismus.

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