Читать книгу Platons "Staat" - Wolfgang Kersting - Страница 17
5. Das Kooperationsargument (351 a – 352 c)
ОглавлениеIch wende mich jetzt dem zweiten Widerlegungsargument Sokrates’ zu, dem Argument von der Kooperation. Es will Thrasymachos’ Teilthese von den Aristokraten der Ungerechtigkeit attackieren; es will die Behauptung erschüttern, daß der Ungerechtigkeit, insbesondere der im großen Stil praktizierten, kraftvolle Schönheit und herrenmäßige Vornehmheit anhaften würde. Von ihren ästhetizistischen Konnotationen befreit behauptet die These, daß es geradezu eine natürliche Verbindung zwischen Ungerechtigkeit und Stärke gäbe, daß die Ungerechtigkeit den Ungerechten in eine Position der Stärke und Überlegenheit versetze sowie umgekehrt nur der Starke und Kraftvolle sich die Vorteile der Ungerechtigkeitsstrategie sichern könne.
Natürlich haben wir es immer nur mit Variationen des einen thrasymacheischen Grundmotivs zu tun: die Ungerechtigkeit ist der Gerechtigkeit in allen Belangen überlegen – nur, so könnte man hinzufügen, in moralischen Belangen nicht; aber da außer ihrer moralischen Vorzugswürdigkeit die Gerechtigkeit nichts anzubieten hat, hat sie gegenüber der Ungerechtigkeit einen schweren Stand. Sokrates will nun diese herausforderungsvolle These angreifen und die Überlegenheit der Gerechtigkeit aufzeigen. Damit das gelingen kann, darf er sich freilich nicht auf den irreduziblen Eigenwert des Moralischen berufen, den interessenpolitischen Zugang des Sophisten verwerfen und die Frage nach dem Nutzen der Gerechtigkeit als moralisch illegitim abweisen. Er darf auch nicht, wie später Kant, einen unüberbrückbaren Graben zwischen moralischen Beweggründen und empirischen Interessen ausheben. Nein, er muß sich auf genau das Parkett begeben, das der Sophist verlegt hat, und eine externe Bewertung der Gerechtigkeit vornehmen, zeigen, daß auch unter dem strategischen Gesichtspunkt der Nutzenmehrung die Sache der Gerechtigkeit die stärkere ist. So argumentiert denn Sokrates auch nicht mit der Unzuständigkeit der sophistischen Bewertungsperspektive, sondern mit dem Nachweis empirisch falscher Beurteilungen und daraus folgender falscher Bewertungen.
Wie aber kann er denn nun zeigen, daß nicht die Ungerechtigkeit, sondern die Gerechtigkeit kraftvoll ist? Sokrates’ Gegenargument stützt sich auf zwei Thesen. Die erste These besagt: Kooperation ist der Konkurrenz, Einigkeit der Zwietracht, Freundschaft der Feindschaft vorzuziehen, denn Kooperation, Einigkeit und Freundschaft sind angenehmer und für die Verwirklichung der eigenen Interessen nützlicher; Entzweiung, Konkurrenz und Feindschaft schwächen, Freundschaft, Kooperation und Einigkeit hingegen stärken die eigene Position. Die zweite These besagt: Ungerechtigkeit erzeugt Konkurrenz und Feindschaft und Krieg; Gerechtigkeit hingegen erzeugt Kooperation, Einigkeit Freundschaft und Frieden. Also sucht der, der stark sein will, die Strategie der Gerechtigkeit, wenn er klug ist. Derjenige jedoch, der die Strategie der Ungerechtigkeit wählt, hat sich unklug verhalten, denn er hat Haß, Neid und Zwietracht gewählt, sich für eine Strategie der Selbstschwächung entschieden.
Wir wissen heute besser als Platon, daß er in beidem recht hat. Zum einen ist es wirklich so, daß die Kooperationsstrategie rational vorzugswürdig, die Kooperation der Konkurrenz rational überlegen ist, somit die Kooperationsoption eine Verbesserung der eigenen Nutzenposition impliziert. Zum anderen ist ein gewisses Maß an moralischer Disziplin, an Vertrauensvorschuß für das Gelingen jeder Kooperation notwendig, Gerechtigkeit also unerläßlich für Kooperation. Kooperation ist also geradezu ein Erzeugnis der Gerechtigkeit, Gerechtigkeit somit eine ausgezeichnete Strategie zur Mehrung der eigenen Stärke und Handlungsmächtigkeit. Kraftvoll ist die Gerechtigkeit also, weil der Gerechte in hohem Maße kooperationsfähig ist. Schwach, und das meint: rational unterlegen ist die Ungerechtigkeit, weil der Ungerechte eminent kooperationsunfähig ist. Das Handlungsgesetz der Pleonexie erzeugt in den Partnern Mißtrauen, und diese Kombination von Pleonexie und Mißtrauen wird jede Kooperation sprengen und unverzüglich in eine sich wechselseitig belauernde Konkurrenz verwandeln.
Übrigens: wir wissen heute nicht nur besser als Platon, daß er in beidem recht hat, wir wissen zudem auch, daß und warum er gleichwohl mit seinem Argument Schiffbruch erleidet. Denn so richtig es ist, daß gelingende Kooperation gerechte Verhältnisse zwischen den Partnern verlangt, so falsch ist es zu meinen, daß die Ungerechtigkeit sich nicht des Rationalitätsvorteils der kooperativen Gerechtigkeit bedienen könnte und prinzipiell zur Kooperation unfähig wäre. Seeräuberstaaten, Gangsterbanden, mafiose Vereinigungen, parteipolitische Kartelle: allesamt verstehen sie die Rationalitätsvorteile der Kooperation zu nutzen, freilich allesamt auch zum Nachteil der Moral, der Gerechtigkeit und des Allgemeinwohls. Die größten Verbrecher können die gerechtesten Teiler der Beute sein und werden es klugerweise auch sein, um sich den Rückhalt der Bande, Clique oder Partei für ihre weitere verbrecherische Karriere zu sichern. Der Fehler des platonischen Arguments liegt also darin, den Ungerechten für so unklug zu halten, daß er die Kooperationsdisziplin nicht aufbringen kann, die zur Stärkung seiner politischen, sozialen und ökonomischen Position notwendig wäre. Und damit hätte es Thrasymachos den Weg für eine triumphale Verteidigung eröffnet: denn Thrasymachos hätte etwa folgendes entgegnen können: Du hast recht, Sokrates, Kooperation ist rational vorzugswürdig und stärkt die Position der Partner untereinander wie gegenüber nicht an der Kooperation beteiligten anderen, denn diesen gegenüber sind sie jetzt stärker als wenn sie allein auftreten würden, und aufgrund des Friedens untereinander können sie ihre ganzen Kräfte für die Durchsetzung der gemeinsamen Interessen einsetzen. Und weil ich immer schon gesagt habe, daß der Ungerechte der Kluge und Tüchtige und Raffinierte ist, habe ich immer auch gemeint, daß er alle Mittel einsetzen wird, um seine Position zu stärken. Und dazu gehört auch die Kooperation, sofern sie ihm nützlich ist. Und er wird so klug sein, diese ihm dienliche Kooperation nicht durch pleonektische Übervorteilung seiner Partner aufs Spiel zu setzen. Ich sagte ja, daß der Ungerechte klug ist; er ist allemal so klug wie der listige Odysseus, der sich selbst band, um die Freuden zu genießen, die er ohne Selbstbindung nicht hätte genießen können.
Und warum hätte Thrasymachos so antworten können? Weil weder aus der moralischen Vorzugswürdigkeit der Kooperation ihre rationale Vorzugswürdigkeit folgt noch aus ihrer rationalen Vorzugswürdigkeit ihre moralische Vorzugswürdigkeit. Denn moralisch vorzugswürdig sind Kooperationen nur dann, wenn sie allgemeindienlich sind und nicht zu Lasten Dritter gehen. Aufgrund dieser wechselseitigen Unabhängigkeit rationaler und moralischer Vorzugswürdigkeit muß jeder Versuch scheitern, die Gerechtigkeit dadurch als nützlichere Strategie auszuweisen, daß sie kooperationsrationale Gewinne ermöglicht, die anderenfalls ausbleiben würden.
Nichts kann Platon weniger gebrauchen als die mit dieser Differenzierung zwischen moralischer und rationaler Vorzugswürdigkeit einhergehende Gabelung der Kooperation in eine moralisch zulässige und eine moralisch unzulässige Kooperationsart. Denn dann ist die Argumentationsfront, die Gerechtigkeit, Stärke und Kooperativität verschränkt, gesprengt. Dann ist aber auch, und das wäre für Platon ein methodologisches Desaster, die Korrespondenz von Staat und Seele, von kleinem Menschen und großem Menschen zerstört. Platons Argumentation kann nur unter der Voraussetzung eines strikten Dualismus von Ordnung und Unordnung gelingen; wie sollte sich im Innerseelischen die Distinktion zwischen effektiver moralisch zulässiger und effektiver moralisch unzulässiger Kooperation abbilden lassen? Platon jedenfalls ist es nicht möglich, weil er, wie wir noch sehen werden, zwar einen komplexen Seelenbegriff hat, jedoch einen einsinnigen Vernunftbegriff, und somit zwischen rationaler und moralischer Vernunft nicht unterscheiden kann. Sein Vernunftbegriff ist unterbestimmt und gestattet nicht, zwischen einer moralischen Ordnungspolitik im Seelenhaushalt und einer rationalen Ordnungspolitik im Seelenhaushalt, deren Anforderung an Selbstbeherrschung und Selbstdisziplin keinesfalls geringer als im Falle moralischer Selbstherrschaft ist, zu unterscheiden. Somit kann er nicht unterschiedliche Ordnungsformen gegenüberstellen. Aber das ist bereits ein weiter Vorgriff, der hier freilich angebracht ist. Denn hier klingt das Platonische Parallelmotiv, die Parallelisierung von Staat und Seele, bereits deutlich an. Gleichwohl offenbart sich das erst in der Rückschau und unter der Voraussetzung der Lehre von den Seelenteilen.
Sokrates unterscheidet in seiner Argumentation wie selbstverständlich zwischen einer Gerechtigkeit zwischen den Menschen und einer Gerechtigkeit in einem Menschen; entsprechend redet er auch von der Ungerechtigkeit zwischen den Menschen und der Ungerechtigkeit in einem Menschen. Da das Werk der Gerechtigkeit Eintracht und Zusammenarbeit, das Werk der Ungerechtigkeit hingegen Zwietracht und Feindschaft ist, haben Gerechtigkeit und Ungerechtigkeit immer eine Doppelwirkung, produzieren sie immer gleichzeitig ein Außenwerk und ein Innenwerk, eine äußere und innere Eintracht einerseits und eine äußere und innere Zwietracht andererseits. Der Gerechte ist mit allen Freund, auch mit sich selbst, kommt mit allen gut aus, auch mit sich selbst, lebt mit allen in Harmonie und mit sich selbst in Übereinstimmung. Der Ungerechte hingegen ist mit allen Feind, auch mit sich selbst; der Ungerechte ist selbstverfeindet und lebt mit allen in Zwietracht, ist auch mit sich selbst nicht in Übereinstimmung, zerrissen und letztlich zutiefst unglücklich. Die Haut ist eine Spiegelachse: an ihr spiegelt sich das Werk der Gerechtigkeit und Ungerechtigkeit, spiegelbildlich wiederholen der Gerechte und der Ungerechte im eigenen Inneren das, was ihr Verhalten äußerlich bewirkt. Einsam, mit allen verfeindet, in sich zerrissen und handlungsunfähig, allein und ohne jede Unterstützung und schwach: so präsentiert sich der Ungerechte nach der knappen kooperationstheoretischen Analyse der Strategien der Gerechtigkeit und der Ungerechtigkeit; und der Gerechte ist sein genaues Gegenteil: mit allen Freund, durch gemeinsam getragene Unternehmungen gestärkt, allseitig unterstützt und verbündet. Abermals also hat sich Thrasymachos’ These in ihr Gegenteil verkehrt.