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II. Gespräch mit Polemarchos: Über die Rückerstattung (331 e – 336 a)
ОглавлениеDer neue Gesprächspartner von Sokrates ist Polemarchos, der Sohn des Kephalos und nicht nur Erbe seines Vermögens, sondern auch, so Platons launiges Wortspiel, "Erbe seiner Rede“ (331 e). Und als solcher verhält er sich auch. Er nimmt die These auf, die Sokrates aus den Äußerungen des Alten herausgefiltert hatte, und versucht sie, auch das in Nachfolge seines Vaters, mit einem Dichterwort, einem Wort des Simonides zu verteidigen, der behauptet habe, daß Gerechtigkeit verlange, einem jeden das zu erstatten, was man ihm schuldig sei. In Erinnerung an sein Gegenbeispiel vom wahnsinnig gewordenen Freund gibt Sokrates daraufhin zu bedenken, daß Simonides derartiges vernünftigerweise nicht gemeint haben könne, da eine Rückerstattung nicht gerecht sein könne, wenn sie zum Nachteil des Adressaten ausschlüge. Polemarchos, ein braver Mann, aber ersichtlich nicht der Hellsten einer, bietet daraufhin folgende Interpretation des Simonides-Wortes an: Freunde seien Freunden Gutes zu tun schuldig und müßten entsprechend die zu erwartenden Auswirkungen einer Rückerstattung berücksichtigen. Und wie, so fragt Sokrates dann, stehe es mit der Rückerstattungspflicht, wenn der Adressat ein Feind sei? Ihm gegenüber sei an der Rückerstattungspflicht in jedem Fall festzuhalten, da man ja nur seinen Freunden Gutes tun solle, nicht hingegen seinen Feinden, denn diesen gebühre Böses. So ist Polemarchos zu folgendem neuen Merksatz der Gerechtigkeit gelangt: Jedem das, was ihm gebührt: dem Freunde Gutes, dem Feinde Böses.
Offenkundig sind hier die Begriffe mehrfach gewechselt worden: aus dem, was man anderen schuldig ist, ist das geworden, was anderen gebührt, und dies ist im Fall des Freundes das Gute, und im Fall des Feindes das Böse. Aus der festumrissenen Rückerstattungspflicht, die genau bestimmt, was zu tun ist, ist die vage Aufforderung geworden, Freunde freundlich und Feinde feindlich zu behandeln. Es würde zu weit führen, Sokrates’ souverän angerichtete Denkwirrnis zu entwirren und die einzelnen Sprünge und Fehler zu benennen. Deswegen nur ein kleiner Einblick in den argumentationslogischen Hauptfehler. Ausgangspunkt war zum einen Sokrates’ Probedefinition und zum anderen ihre Widerlegung durch ein Gegenbeispiel. Dies mußte Reaktionen hervorrufen: denn Gerechtigkeit über Schuldigkeiten zu bestimmen, ist alles andere als extravagant, sondern trifft einen sich über die Zeiten durchhaltenden und tief in den Überzeugungen des common sense verankerten Bedeutungskern. Der ist gerecht, der das tut, was zu tun er schuldig ist; der Gerechtigkeitspflichten erfüllt, Schulden ausgleicht, der Schadensersatz leistet, das Geliehene zurückgibt, seinen Vertrag erfüllt usf. Es ist dies ein zutiefst in der Alltagspragmatik verankertes Gerechtigkeitsverständnis, das genau die Handlungsweise positiv auszeichnet, die unerläßlich ist, um die wechselseitige Berechenbarkeit und das gesellschaftliche Vertrauen zu sichern. Aristoteles hat diese Gerechtigkeitsart als diorthotische Gerechtigkeit bezeichnet2; später nannte man sie iustitia regulativa sive correctiva oder, seit Thomas von Aquin, iustitia commutativa. Es ist dies die allgemeine, Versprechenseinhaltung, Gesetzesbefolgung und Vertragstreue umfassende Verkehrsgerechtigkeit, deren Regeln unverzichtbar für die Aufrechterhaltung jeder gesellschaftlichen Kooperation sind. Es ist also ein sehr unemphatischer Gerechtigkeitsbegriff, um den es hier geht; und daß jemand, der weggeht, aus dem Leben, aus dem Land, aus der Stadt oder nur aus dem Lokal, keine offenen Rechnungen hinterlassen sollte, gehört auch zu dieser Gerechtigkeitsvorstellung.
Ein alltagspragmatisches Regelverständnis setzt immer eine situationssensible Moralwahrnehmung und damit die souveräne Beherrschung von Normalität und Ausnahme voraus. Daher ist es widerlegungsresistent und immer schon da, wo die Gegenbeispiele hin möchten. Nur wenn wir das alltagspragmatische Regelverständnis zu einem deontologischen Absolutismus zuspitzen und gleichzeitig unterstellen, daß es keine anderen beachtenswerten Normperspektiven gibt, kann das Gegenbeispiel Verwirrung stiften. Die Verwirrung, die Sokrates inszenierte, rührte daher, daß Umstände denkbar sind, unter denen eine allgemein gebotene Rückerstattung schädliche Auswirkungen für den Adressaten der Rückerstattung haben kann. Eine angemessene Reaktion auf diesen Einwand hätte in der Ausformulierung dessen, was ohnehin jeder weiß, gelegen: wenn in einer Situation die Rückerstattung zu Konsequenzen führt, die im Lichte anderer Wertperspektiven moralisch unzulässig sind, dann muß die Rückerstattung unterbleiben, oder kürzer: wenn die Rückerstattung zu einer Wertekollision führt und die Wahrnehmung der Gerechtigkeitspflicht andere Werte dramatisch verletzt, dann muß sie unterbleiben.
Das von Sokrates inszenierte Frage-und-Antwort-Spiel nimmt jedoch einen anderen Verlauf: das Beispiel überschattete die Ausgangsthese und bestimmte die ins Spiel eingeführten Begriffe. Aus Rückerstattungen, die moralisch zulässig oder moralisch unzulässig sein können, wurde eine Zufügung von Gutem oder Schlechtem; aus dem allgemeinen Schuldner wurde unter der Dominanz des Beispiels der Freund, dem sich dann der Feind als Widerpart zugesellte. Unterderhand hat Platon den gerechtigkeitssemantischen Horizont verändert: an die Stelle des Gerechtigkeitstyps, der Gerechtigkeit über die Erstattung von Schuldigem definiert, war jetzt ein Gerechtigkeitstyp getreten, der Gerechtigkeit über die Zuteilung von Gebührendem und Zukommendem definiert. Dieser Bedeutungwechsel von der Gerechtigkeit als iustitia commutativa zur Gerechtigkeit als iustitia distributiva ist beträchtlich: eines ist es, jedem zu geben, was wir ihm schuldig sind; ein ganz anderes aber ist es, jedem zu geben, was ihm gebührt, was ihm zukommt. Sokrates hingegen verwischt diese gerechtigkeitssemantische Differenz und gibt den Begriff des Gebührlichen und Zukommenden als Explikation des Begriffs des Schuldigen aus. "Also hat Simonides, sprach ich, wie es scheint, gar dichterisch versteckt angedeutet, was das Gerechte sei. Mir scheint, sein Gedanke war, es sei gerecht, jedem zu geben, was ihm gebührt; das aber nannte er das, was man schuldig ist“ (332 c).
Was aber ist damit gemeint: jedem das ihm Gebührende und Zukommende zu geben und zuteil werden zu lassen? Zu Erläuterungszwecken betrachtet Sokrates zuerst die vertrauten Tätigkeitsfelder der Heilkunst, der Kochkunst und fragt hier jeweils nach den spezifischen Leistungen und den einschlägigen Adressaten oder Nutznießern, um dann per analogiam die Gerechtigkeit ins Spiel zu bringen: "Also nun die Kunst der Gerechtigkeit – was erstattet sie und wem, um ihren Namen zu verdienen?“ (332 d). Und was antwortet Polemarchos darauf? Nun, er sagt nicht etwa folgendes: "Halt, Sokrates, so nicht. Nichts deutet darauf hin, daß Simonides gemeint haben könnte, Gerechtigkeit sei eine besondere Fertigkeit, die wie jede andere auch durch Angabe ihres Gegenstandes, ihrer Wirkungsweise und ihres Adressatenkreises bestimmt und damit gegen andere Tätigkeitsfelder abgegrenzt werden könnte.“ Er nimmt vielmehr Sokrates’ Analogie an und antwortet, daß Gerechtigkeit dann ja wohl die "Kunst sei, Freunden Gutes zu tun und Feinden Böses“3.
Mit dieser Antwort ist Polemarchos jedoch in die Falle gegangen. Das zeigt sich sofort, wenn wir seine Antwort ein wenig umformulieren: Gerechtigkeit ist die Fertigkeit, Gutes zu tun und Böses zu tun, der Gerechte somit ein Experte des Guten und des Bösen. Aber Sokrates läßt sich Zeit; erst einmal gilt es, den zweiten Analogiestrang zu knüpfen. Nachdem die Gerechtigkeit als eine bestimmte ‘téchne’ eingeführt worden ist, muß noch der ihr zugeordnete Gegenstandsbereich umrissen werden. Während es evident ist, wie der Arzt seinen Freunden nutzen und seinen Feinden schaden kann, und nicht minder klar, wie der Steuermann sich auf hoher See seinen Freunden als nützlich und seinen Feinden als schädlich erweisen kann, ist keinesfalls ersichtlich, "auf welchem Gebiet des Handelns und bei welchen Leistungen der Gerechte vor allen anderen imstande ist, den Freunden zu nützen und den Feinden zu schaden“ (332 e). Polemarchs Antwort: "Auf dem Gebiet der Kriegführung und der Hilfeleistung als Bundesgenosse.“ Er bringt damit die Gerechtigkeit wieder in gewohntes alltagspragmatisches Fahrwasser zurück. Im Falle eines Krieges steht man zur Allianz, beweist Bündnistreue und hält sich an die Verträge. Dieses Beispiel provoziert freilich die Frage nach der Rolle der Gerechtigkeit im Frieden. Worin, so fragt Sokrates, liegt denn nun der Nutzen der Gerechtigkeit im Frieden? Und die Antwort des Polemarchos lautet: Der Nutzen der Gerechtigkeit im Frieden zeigt sich im gegenseitigen Umgang miteinander und besonders bei gemeinsamen Unternehmungen. Und gegen diese Antwort, mit der Polemarchos an den Anfang seiner Ausführungen anknüpft, ist erst einmal gar nichts einzuwenden. Genau das versteht man gemeinhin unter Gerechtigkeit: eine auf wechselseitiger Anerkennung beruhende Tugend der sozialen Kohärenz, der Handlungskoordination und der gesellschaftlich-wirtschaftlichen Kooperation. Dieser Gerechtigkeitsbegriff liegt als unentfaltete Intuition nahezu allen sozial-, rechts- und politikphilosophischen Ordnungskonzeptionen zugrunde. Aristoteles, Kant, Rawls haben allesamt nichts anderes getan, als diese Intuition einer sozialitätsermöglichenden Gerechtigkeit unter unterschiedlichen kategorialen Rahmenbedingungen auszudifferenzieren.
Sokrates freilich hat ganz anderes im Sinn als einen Gerechtigkeitsbegriff, der sich als Ermöglichungsbedingung gemeinsamer Unternehmungen versteht. Daher versucht er, den Nutzen der Gerechtigkeit für gemeinsame Unternehmungen lächerlich zu machen: "Ist nun der Gerechte ein guter und nützlicher Partner, wenn es sich um das Ziehen der Steine im Brettspiel handelt, oder ist es da nicht vielmehr der Brettspielkundige?“ (333 b). Der letztere natürlich, antwortet Polemarchos; und wir alle stimmen ihm zu. Wenn wir einen dritten Mann zum Skat brauchen, rufen wir nicht nach einem Gerechten, sondern nach einem, der Skat spielen kann und will. Auch hier gelingt das sokratische Spiel nur darum, weil Polemarchos nicht dagegen Einspruch erhebt, daß Sokrates formale und inhaltliche Bedingungen zusammenschiebt und den Gerechtigkeitsbegriff drastisch vergegenständlicht, Gerechtigkeit als inhaltliche Fertigkeit neben andere Fertigkeiten stellt, ihr damit einen spezifischen Nutzen zuordnet. Und da die Gerechtigkeit weder eine gesellschaftliche Spezialtechnik ist noch einen ganz spezifischen inhaltlichen Nutzen erbringt, hat er leichtes Spiel. Sokrates stellt kategoriale Fallen auf, in die seine Gesprächspartner hineintappen; wären sie klug gewesen, dann hätten sie sich nicht vom Köder locken lassen, sondern Sokrates der Fallenstellerei überführt.
Natürlich suchen sich die Menschen für ihre Unternehmungen sachverständige Partner aus; mit Gerechtigkeitssachverständigen kann man in der Tat keine profitablen joint ventures ins Leben rufen. Denn es gibt niemanden, der in dem Sinne ein Gerechtigkeitssachverständiger wäre, wie ein Maurer ein Sachverständiger für Mörtel und Backsteine und der Arzt ein Sachverständiger für Krankheiten und Medizin und ein Lotse ein Sachverständiger für Fahrrinnen, Strömungen und Klippen ist. Darum ist die Frage: "Für welche Gemeinschaft ist nun also der Gerechte ein besserer Partner als der Bauverständige und der Zitherspieler, und zwar in dem Sinne ein besserer Partner wie der Zitherspieler es im Vergleich mit dem Gerechten ist, wenn es sich um das Schlagen der Zither handelt?“ (333 b), falsch gestellt, denn Gerechtigkeit ist keine Fertigkeit neben anderen; es gibt nicht Ärzte, Steuerleute, Köche und Gerechte. Es gibt gute und schlechte Ärzte, gute und schlechte Steuerleute und gute und schlechte Köche und gerechte oder ungerechte Handlungen oder ungerechte oder gerechte Menschen. Da ein gerechter Mensch sicherlich nicht ein solcher ist, der zumeist ungerechte Handlungen begeht, ist anzunehmen, daß jemand darum ein gerechter Mensch ist, weil er zumeist gerechte Handlungen begeht. Nun aber stehen nicht ärztliche Handlungen, navigatorische Handlungen, kulinarische Handlungen und gerechte Handlungen nebeneinander; das würde den Vergegenständlichungsfehler nur auf einer anderen Ebene wiederholen. Vielmehr ist es grundsätzlich so, daß jede Handlung, auch medizinische, navigatorische und kulinarische, die von guten und schlechten Ärzten ebenso wie die von guten und schlechten Steuerleuten und Köchen, daraufhin befragt und beurteilt werden kann, ob sie gerecht oder ungerecht ist. Daher dürfen wir den Gerechtigkeitsbegriff nicht in Analogie zu Fertigkeiten und spezifischen, mit den Fertigkeiten kausal notwendig verbundenen Nützlichkeiten definieren. Die Suche nach Gerechtigkeit als Durchsuchung der Kompetenznischen, Spezialistenterrains und Expertenfelder einer arbeitsteilig organisierten Gesellschaft zu organisieren, ist irreführend. Freilich gelingt es Platon, durch diese Fehlanalogie jetzt schon auf das Begriffsfeld vorzubereiten, auf dem er später seine Gerechtigkeitsdefinition entwickeln wird. Gerechtigkeit wird sich dann als das genaue Gegenteil dieser hier diskutierten Ausgangskonzeption erweisen. Der Gerechte ist dann nicht ein Spezialist unter Spezialisten, sondern ein Spezialist für das Allgemeine; und das Allgemeine ist ein spezialistisch organisierter Handlungszusammenhang. Das besagt: der Gerechte ist kein Spezialist für individuelles Handeln, sondern ein Spezialist für kollektives Handeln, also ein Integrationsspezialist, der alle individuellen Handlungsstränge zielgerecht und zur Mehrung des Gesamtwohls zusammenbindet.
Gesprächspartner mit solchen Antworten wie oben skizziert würden freilich das elenktische Spiel der sokratischen Philosophie durchkreuzen und das Monopol des Philosophen hinsichtlich der Argumentationsinszenierung durchbrechen. Platons Darstellung der tätigen philosophischen Widerlegungskunst benötigt Mitunterredner, die sich von Beispiel zu Beispiel hangeln, nie von der vorgegebenen Verlaufsrichtung des Gedankengangs abweichen und niemals selbst ihr Vorgehen und Sokrates’ Fragestrategien thematisieren und damit die Ebene argumentationslogischer Validitätsprüfung erklimmen. Deswegen begehrt Polemarchos auch jetzt nicht auf, sondern gibt brav seine Antwort auf Sokrates’ Frage: bei Geldgeschäften sei der Gerechte der bessere Partner. Aber was, so Sokrates, verstünden Gerechte denn von Pferden? Zöge man beim Kauf eines Pferdes nicht besser einen Pferdesachverständigen als einen Gerechten zu Rate? Das muß Polemarchos kleinlaut zugeben; aber er glaubt seine These durch eine weitere Modifikation retten zu können: zwar sei der Gerechte kein begehrter Partner, wenn es um das Kaufen gehe, aber doch, wenn es darum gehe, Geld sicher zu verwahren.
Damit hat sich der Kreis geschlossen: das Polemarchos-Gespräch endet dort, wo es angefangen und das Kephalos-Gespräch geendet hat: Gerechtigkeit zeigt sich darin, ein zuverlässiger Verwahrer anvertrauten Geldes zu sein, auf Wunsch anderen das Hinterlegte zurückzugeben und ihnen das Schuldige zu erstatten. Geld freilich, so sagt man, muß arbeiten und darf nicht faul irgendwo in einem Kasten liegen. Dann ist es ohne jeden Nutzen. Das aber besagt für den Gerechten, der nach Polemarchos ein kompetenter Geldaufbewahrer ist: daß dieser letztlich nur für Nutzloses nützlich ist. Und das kann man dann folgendermaßen verallgemeinern: der Gerechte ist nützlich für das Aufbewahren von Dingen; sobald es aber darum geht, diese Dinge angemessen zu verwenden, ist der jeweilige Fachmann gefragt. Und da Aufbewahren Nicht-Gebrauch besagt, kann Sokrates das niederschmetternde Ergebnis der Polemarchos-Befragung folgendermaßen zuspitzen: völlig wertlos also ist die Gerechtigkeit, da sie lediglich für den Nicht-Gebrauch der Dinge brauchbar, für ihren Gebrauch hingegen nutzlos ist.
Sokrates treibt die Analogie zwischen Technik und Gerechtigkeit aber noch weiter. Der Gesundheitsspezialist ist der beste Krankheitsspezialist; der Dieb der beste Sicherheitsfachmann und der Angreifer der beste Verteidiger. Die Fertigkeiten sind also als solche moralisch neutral und können mit gleicher Effizienz für moralisch zulässige und für moralisch unzulässige Absichten verwendet werden. Das muß aber dann auch für die Gerechtigkeit gelten: der Gerechte ist also nicht nur ein Spezialist im Geldverwahren, er ist auch überaus geschickt, ihm anvertrautes Geld verschwinden zu lassen. Als ein Dieb also entpuppt sich der Gerechte, sagt Sokrates, und die Gerechtigkeit als "Diebeskunst“ (334 b).
Dabei geht er natürlich weit über das syllogistisch vertretbare Maß hinaus; denn genausowenig wie sich der Sicherheitsfachmann als Einbrecher entdeckt und der Arzt als Giftmörder, entpuppt sich der Gerechte als Dieb. Aber was Sokrates mit diesem Ambivalenzargument zeigen will, ist deutlich: er will zeigen, daß die von ihm selbst ins Spiel gebrachte Analogie die Diskussion keinen Schritt vorangebracht hat. Gerechtigkeit kann nicht in Analogie zu anderen Fertigkeiten als eine bestimmte Kompetenz mit fest umrissenem Tätigkeitsbereich bestimmt werden. Er hätte das Argument auch anders anlegen können: er hätte zum Beispiel darauf aufmerksam machen können, daß wir gute Ärzte von schlechten Ärzten unterscheiden, ebenso gute Köche von schlechten Köchen; und selbst bei Dieben treffen wir eine derartige, allein auf ihr handwerkliches Können bezogene Unterscheidung. Wäre nun die Analogie tragfähig, dann müßten wir auch gute Gerechte von schlechten Gerechten unterscheiden können: dagegen aber sträubt sich die Semantik des Guten, gleichgültig ob wir dieses Gute pragmatisch oder moralisch auslegen. Verstehen wir es moralisch, dann geraten wir in einen normativen Widerspruch; verstehen wir es pragmatisch, dann geraten wir in einen epistemologischen Widerspruch. Gerechtigkeit ist keine Fertigkeit, die auf gute oder auf schlechte Weise ausgeübt wird. Ein schlechter Koch ist immer noch ein Koch; aber worin unterscheidet sich ein schlechter Gerechter von einem Ungerechten?
Polemarchos ist durch Sokrates’ Analogisieren und die dadurch produzierten absurden Ergebnisse arg ins Schwimmen geraten; aber daran, daß die Gerechtigkeit den Freunden nützt und den Feinden schadet, will er unbedingt festhalten (334 b). Dort, wo er Sokrates erfolgreich hätte zurückweisen können, hat er es nicht getan; und nun glaubt er den Teil seiner Definitionsthese retten zu können, der sich bereits auf den ersten Blick als unhaltbar erweist; denn was für merkwürdige Implikationen hat er: wenn der Steuerberater seinem Freund bei der Steuerhinterziehung hilft, kann das gerecht sein? Wenn ein Mafioso einen anderen vor dem Zugriff der Polizei verbirgt, ist das gerecht? Freundschaft gibt es unter Gangstern und Ehre unter Dieben. Und zum anderen: kann Gerechtigkeit je verlangen, jemandem zu schaden? Bei der Überprüfung des ersten Punktes arbeitet Sokrates jedoch nicht mit dem Freundschaft-unter-Gangstern-Argument, sondern mit dem Argument vom falschen Freund (334 c). Da wir uns gelegentlich irren und jemanden für einen Freund gehalten haben, der in Wirklichkeit kein Freund war, aber auch andere als Feinde behandelt haben, die in Wirklichkeit keine Feinde waren, kann uns das Simonides-Wort geradewegs zum Gegenteil seiner selbst führen: wir tun unseren Feinden Gutes und schädigen unsere Freunde. Polemarchos will sich durch eine naheliegende Ad-hoc-Modifikation retten und ersetzt in seiner Definitionsformel den Freund durch den wahren Freund und den Feind durch den einen wahren Feind. Sokrates sagt nun nicht, daß das wenig hilfreich sei, da sich derartiges immer erst hinterher herausstelle. Statt dessen stellt er grundsätzlich in Frage, daß eine Gerechtigkeitsdefinition zutreffend sein könne, in der die Schädigung anderer der Gerechtigkeit zur Aufgabe gemacht werde.
Um nun Polemarchos von seiner Auffassung abzubringen, untersucht er das Schädigen und seine Auswirkungen näher. Das dabei angewandte Argument lautet folgendermaßen: 1. Jede Schädigung ist eine Verschlechterung. 2. Die Verschlechterung führt zu einer Einbuße der einschlägigen Tüchtigkeit: wenn ein Pferd Schaden nimmt, taugt es nicht mehr als Reittier; wenn ein Hund Schaden nimmt, ist er als Wachhund nicht mehr zu gebrauchen. 3. Die spezifisch menschliche Tüchtigkeit ist die Gerechtigkeit. 4. Wenn man also Menschen Schaden zufügt, dann werden sie ungerechter; Schädigen ist hier Ungerechter-machen, also nicht schlicht etwas, was kaum im Interesse des Betroffenen sein kann, sondern etwas von der Art einer sittlichen Verderbung oder ethischen Korruption. 5. Können aber Gerechte andere Menschen durch ihre Gerechtigkeit ungerecht machen, sie sittlich depravieren? Musikkundige machen durch ihre Kunst niemanden unmusikalisch, und Reitkünstler machen durch ihre Kunst andere nicht zu Nichtreitern. Folglich ist auch nicht anzunehmen, daß Gerechte andere durch Gerechtigkeit zu Ungerechten machen. Damit ist die Feind-Klausel der polemarchischen Gerechtigkeitsdefinition hinfällig geworden.
Der Simonides-Ausspruch bringt die Philosophie bei ihrer Suche nach einer angemessenen Bestimmung der Gerechtigkeit also nicht voran. In seiner abwegigen Vorstellung von Gerechtigkeit drückt sich, so Sokrates’ Vermutung, lediglich die Überzeugung eines "von Machtbewußtsein erfüllten reichen Mannes“ aus (336 a), eines Mannes also, der seinen Nutzen zu maximieren trachtet und in Kategorien der Konkurrenz und Kompetition denkt. Es ist somit eine Gerechtigkeitsvorstellung, die sich der Gierige zusammengeschmiedet hat, der dem Laster der Pleonexie, des Immer-mehr-haben-Wollens verfallen ist, eine Gerechtigkeitsvorstellung, die wenig mehr als das Prinzip der Vergeltung, des Mit-gleicher-Münze-Zurückzahlens umfaßt: der mir nützt, dem nütze ich auch, der mich schädigt, den schädige ich auch; Gerechtigkeit also als Verbund aus strategischer Kooperation einerseits und Abschreckung und Vergeltung andererseits. Wenig ist hier von dem vernünftigen alltagspragmatischen Gerechtigkeitsverständnis der Erfüllung von Schuldigkeiten übriggeblieben; es ist geradezu in sein Gegenteil verkehrt worden. Meinte man vorher, mit ihm den Schlüssel gesellschaftlicher Kohärenz und wechselseitigen Vertrauens in den Händen zu halten, so muß man diesen Grundsatz des Simonides jetzt für etwas sittlich höchst Verwerfliches halten, nicht für den Steckbrief einer Tugend, sondern für die Formel eines Lasters.
Kleinlaut und verwirrt stimmt Polemarchos Sokrates zu: offenkundig könne nichts mehr die Gerechtigkeit verfehlen als der simonidische Ausspruch. Aber wie das alles geschehen ist, wie er dazu gebracht worden ist, die doch selbstverständliche Gerechtigkeitsforderung der korrektiven Rückerstattung des Geliehenen und Hinterlegten jetzt in diesem Licht zu sehen, weiß er so recht nicht. Angesichts der von Sokrates mit sichtlicher Zufriedenheit gezogenen aporetischen Bilanz läßt er resigniert den Stab fallen, wo er sofort von Thrasymachos von Chalkedon, dem neuen Gesprächspartner von Sokrates, ergriffen wird. Daß die Gesprächspartner Sokrates’ wechseln, das Gesamtgespräch also eine Abfolge von Einzeldialogen ist, ist ein Kennzeichen besonders der früheren Dialoge; ein Gesprächspartner nach dem anderen tritt an, gerät in die Mühle der sokratischen Elenktik und streckt dann entnervt die Waffen.