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4. Das Pleonexie-Argument (348c– 350 c)
ОглавлениеDas Gerüst des Pleonexie-Arguments ist ein einfacher Syllogismus:
1 Der, der vor dem ihm Gleichen nichts, wohl aber vor dem ihm Ungleichen etwas voraushaben möchte, ist tüchtig und weise.
2 Der Gerechte will vor dem Gerechten nichts voraushaben, jedoch vor dem Ungerechten.
3 Also ist der Gerechte tüchtig und weise.
Somit ist die These des Thrasymachos, daß der Ungerechte vielmehr tüchtig und weise sei, abermals widerlegt und in ihr Gegenteil verkehrt. Fraglos haben wir es hier mit einem korrekten Schluß zu tun. Aber das Mißliche der Logik liegt eben darin, daß die Überzeugungskraft eines Arguments nicht nur von der logischen Korrektheit der behaupteten Ableitungsbeziehungen, sondern auch von der Überzeugungskraft der Prämissen abhängig ist. Die semantische Angel des Arguments ist der Begriff des ‘Einen-Vorteil-Habens’, des Übervorteilens; griechisch: ‘pleonektein’; das zugehörige Hauptwort lautet ‘pleonexia’, das ‘Mehr-haben-Wollen’. Und eben diese gemeinhin vom moralischen common sense als lasterhaft, oder zumindest moralisch anrüchig hingestellte Disposition charakterisiert nach Thrasymachos den Ungerechten. Ein Ungerechter ist eben jemand, der sich bei der Verwirklichung seiner Interessen von keinerlei moralischer Rücksichtnahme hemmen läßt. Freilich ist bei den aneinandergereihten Beispielen Sokrates’ nicht immer verständlich, was dieses Übervorteilen resp. Nicht-Übervorteilen, dieses Mehr-haben-wollen resp. Nicht-mehr-haben-wollen jeweils bedeuten kann.
Ratlosigkeit stellt sich gleich am Anfang ein, wo Sokrates die These entwickelt, daß der Gerechte weder vor dem Gerechten noch vor der gerechten Handlung eines anderen etwas voraushaben möchte, vor dem Ungerechten hingegen wohl einen Vorteil voraushaben möchte, oder, mit anderen Worten: daß der Gerechte nicht dem Gerechten, wohl aber dem Ungerechten gegenüber den Willen und Wunsch hat, mehr zu haben. Wie ist dieses ‘Mehr-haben-wollen’ einerseits und das ‘Nicht-mehr-haben-wollen’ andererseits hier gemeint? Natürlich will der Gerechte weder den Gerechten noch den Ungerechten übervorteilen; wir kommen hier also nicht allzu weit, wenn wir an eine konkrete Verteilungssituation denken. Es hat hier wohl mehr etwas mit Ruf, Respekt und Einstellungen zu tun: der Gerechte respektiert den Gerechten; der Gerechte respektiert freilich nicht den Ungerechten, wie könnte er. Der Ungerechte hingegen schätzt weder den Gerechten noch seinesgleichen; für einen selbstsüchtigen Nutzenmaximierer sind alle Konkurrenten. Aber vielleicht sind nicht Fremdeinschätzungen, sondern Selbsteinschätzungen gemeint. Der Gerechte ist mit sich und seinem Leben zufrieden; gegenüber anderen Gerechten behauptet er nicht, größere Lebenszufriedenheit zu besitzen; freilich behauptet er, im Vergleich mit den Ungerechten einen Lebenszufriedenheitsvorteil zu besitzen. Freilich ist dieser Interpretationsansatz nicht auf die Ungerechten übertragbar, die als konstitutiv Unzufriedene und Pleonexiegetriebene sich nicht unbedingt gegenüber allen anderen in einem besseren Glückszustand wähnen, jedoch nicht zögern, bei jeder sich bietenden Gelegenheit alle, Gerechte wie Ungerechte, zu übervorteilen und für ihre Zwecke auszubeuten.
Es ist wirklich nicht einfach, mit diesem Pleonexie-Argument einen vernünftigen Sinn zu verbinden. Sicherlich ist die Pleonexie überaus eng mit der Ungerechtigkeit verknüpft; Ungerechtigkeit zeigt sich ja darin, andere zu seinen eigenen Gunsten zu übervorteilen, verdankt sich also dem Laster der Pleonexie, dem Motiv des Mehr-haben-Wollens, des Mehr-als-andere-, des Mehr-als-einem-zusteht-haben-Wollens. Darum ja auch bestimmt der common sense Gerechtigkeit als eine Verteilung, die jedem das zukommen läßt, was ihm gebührt. So verständlich es aber nun ist, die Ungerechtigkeit über die Pleonexie zu definieren, so schwierig ist es, die Gerechtigkeit über die Nicht-Pleonexie gegenüber Gerechten einerseits und die Pleonexie gegenüber Ungerechten andererseits zu definieren. Da der Gerechte immer gerecht ist und nicht etwa nur gerecht gegenüber Gerechten und ungerecht gegenüber Ungerechten, taugt keine der möglichen Interpretationen ungerechten, pleonexie-motivierten Verhaltens, um die Position der Gerechtigkeit zu erläutern. Nur noch in einem übertragenen, die handfeste Ursprungsbedeutung des Übervorteilens weit zurücklassenden Sinn kann hier von einem Nicht-gegenüber-Gerechten-im-Vorteil-sein-Wollen und einem Gegenüber-Ungerechten-im-Vorteil-sein-Wollen die Rede sein. Überläßt man sich der Logik des Pleonexie-Begriffs, dann wird man zu einem von Konkurrenz und Kompetition geprägten Interaktionstyp geführt; da es aber nun keinen Sinn macht, die unterschiedlichen Positionen und Beziehungen der Gerechten und Ungerechten zu ihren Gegenspielern und zu ihresgleichen mittels gewöhnlicher Übervorteilungsbeispiele, mittels gewöhnlicher Nutzenmaximierungsbeispiele zu erläutern, müssen wir das Gerecht-sein-Wollen und das Ungerecht-sein-Wollen selbst zum Gegenstand von Pleonexie-Motiv und Nicht-Pleonexie-Motiv machen. Und dann kommen wir zu dieser Lesart des Eröffnungszugs des Arguments: Gerechte wollen nicht gerechter als Gerechte, trivialerweise aber gerechter als Ungerechte sein; Ungerechte wollen Ungerechte an Ungerechtigkeit übertreffen und natürlich auch ungerechter als Ungerechte sein. Aber auch hier zeigt sich die grundlegende Schwierigkeit des Arguments: zwischen Gerechtigkeit und Ungerechtigkeit besteht nicht die Symmetrie, die das Argument benötigt. Der Gerechte ist in der Tat jemand, der gerecht sein will; und daher können wir auch sagen, daß er nicht gerechter sein will als der Gerechte, aber durchaus gerechter sein will als der Ungerechte. Der Ungerechte ist aber nicht jemand, der ungerecht sein will; der Ungerechte ist nur jemand, der sich bei der Verwirklichung seiner Interessen durch die Bestimmungen der Gerechtigkeit nicht aufhalten läßt. Und erst recht ist der Ungerechte nicht jemand, der eigentlich gerecht sein will, aber beim Versuch, gerecht zu sein, kläglich scheitert und sich als in Gerechtigkeitsdingen Unwissender und Ungeschickter herausstellt. Welche Lesart wir auch immer wählen: zwischen dem Gerechtigkeitsteil und dem Ungerechtigkeitsteil des Arguments besteht keine Sinnsymmetrie; gehen wir von der Pleonexie im Sinne des Mehr-haben-Wollens an materialen Gütern aus, dann macht das Mehr-haben-Wollen des Gerechten gegenüber dem Ungerechten keinen Sinn, da auch die Übervorteilung von Ungerechten ungerecht ist; und gehen wir von der Pleonexie im Sinne des Gerechter-sein-Wollens des Gerechten gegenüber dem Ungerechten aus, dann macht das Mehr-haben-Wollen des Ungerechten keinen Sinn, da dieser nie Ungerechtigkeit will, sondern nur seinen Vorteil um jeden Preis.
Die Sinnasymmetrie ist eine Folge von Äquivozität: Mehr-haben-Wollen und Nicht-mehr-haben-Wollen meint durchwegs Unterschiedliches. Damit erweist sich die ganze Argumentation als brüchig; aber auch bei brüchigen Fundamenten erkennt man, für welche Gebäude sie gedacht sind. Daher ist auch bei diesem Eröffnungszug der anti-thrasymacheischen Widerlegungsargumentation leicht zu erkennen, was Sokrates mit dieser Pleonexie-Passage bezweckt und wie er seine sich erst mit einer Umkehrung der sophistischen These beruhigende Elenktik inszeniert. Denn Thrasymachos hatte ja behauptet, daß der Ungerechte sich durch Tüchtigkeit und Weisheit, zumindest durch Raffiniertheit und Cleverness auszeichne, wohingegen sich der Gerechte als einfältig und untüchtig erweise. Wenn aber nun gezeigt werden könnte, so meint Sokrates, daß jemand, der Gleiche nicht übervorteilt und nur vor ihm Ungleichen einen Vorsprung haben möchte, tüchtig und klug sei, daß sich möglicherweise Tüchtigkeit und Weisheit geradezu durch diese unterschiedliche Einstellung Gleichen und Ungleichen gegenüber bestimmen lasse, dann wäre Thrasymachos’ These von der Rationalitätsdefizienz des Gerechten widerlegt.
Und wie gewinnt Sokrates diese allgemeine These über den Zusammenhang von Gleichen und Ungleichen einerseits und den von Tüchtigkeit und Weisheit andererseits? Durch Beispiele, die die Analogie zwischen Gerechtigkeit und Fertigkeit, zwischen Gerechtigkeit und téchne erneut ins Spiel bringen. Jemand, so läßt sich die Botschaft der Beispiele zusammenfassen, der sein Fach versteht, der ein Experte, ein Kenner und Könner ist, wird nie etwas von einem anderen, der auch sein Fach versteht, der auch ein Experte, ein Kenner und Könner ist, voraushaben wollen, jedoch wird er vor dem Laien, Amateur, Ignoranten durchaus etwas voraushaben wollen. Kenner- und Könnerschaft bestimmt sich gerade dadurch, daß Kenner und Könner einander als Kenner und Könner erkennen und respektieren und sich nicht gegenüber anderen Kennern und Könnern überlegen dünken oder sie an Kennerschaft und Könnerschaft übertreffen wollen. Dem Ignoranten, Dilettanten und Stümper gegenüber dünken sie sich gleichwohl überlegen. Dieser hingegen, der Ignorant, Dilettant und Stümper, glaubt hingegen allen in Kennerschaft und Könnerschaft überlegen zu sein. Aber ist das denn wahr?
Daß der Experte sich selbst als Kenner und Könner einschätzt und damit einen theoretischen wie praktischen Kompetenzvorsprung gegenüber dem Laien beansprucht, wird man ruhig als eine analytisch wahre Aussage bezeichnen können. Daß hingegen keinerlei Kompetition zwischen Experten herrscht, diese in ruhiger Anerkennung der wechselseitigen Kompetenz überaus entspannt und respektvoll miteinander umgehen, ist zweifellos eine empirisch falsche Aussage: nicht daß es solche Kundigen grundsätzlich nicht gäbe, aber keinesfalls ist es so, daß alle Kundigen so wären. Nur dann, wenn sie von anderen Vögeln bedrängt sind, hacken Krähen einander keine Augen aus; wenn sie unter sich sind, wird oft genug alle Zurückhaltung fallengelassen. Ausgerechnet unter Experten sollte das, was die Griechen das Agonale nennen, was Kapitalisten hingegen als Kompetition und die Psychologen als Konkurrenzneid bezeichnen, nicht gelten? Ausgerechnet hier sollte die Pleonexie verstummen? Was also für die Gerechtigkeit selbst plausibel ist, ist keinesfalls mehr plausibel, wenn wir von der Gerechtigkeit zur allgemeinen Beschreibung des Expertentums übergehen. Es ist ein nahezu analytischer Bestandteil des Gerechtseins, daß sich der Gerechte nicht gerechter als der andere Gerechte dünkt und ein Wettbewerb im Gerechter-sein-als-andere sich nicht mit der Motivationslage des Gerechtseins in Übereinstimmung bringen läßt, es ist aber keinesfalls mit dem Begriff des Expertentums, des Kundigseins unauflöslich verknüpft, daß unter Experten kein Kompetenzwettbewerb stattfindet. Anerkennung ist ein knappes Gut, daher ist Konkurrenz unvermeidlich.
Machen Platons Argumente nicht häufig selbst Gebrauch von den unterschiedlichen Weisen, eine Kunst auszuüben? Kann man da nicht besser sein wollen als ein anderer, da es bessere und schlechtere Arten gibt, eine Kunst auszuüben? Gehört folglich nicht der Wunsch, besser zu sein als ein anderer Experte, unauflöslich zu dem Wunsch, seine Kunst so gut wie möglich auszuüben? Ist nicht oft der Vergleich mit anderen Experten die einzige Möglichkeit, um festzustellen, wie weit man es selbst in seiner Meisterschaft gebracht hat? Es bleibt also nur ein Ausweg: wir müssen den Wissenden und Weisen als einen Experten besonderer Art verstehen und seine Eigentümlichkeit eben darin erblicken, daß sein Wissen in sich ruht und keinerlei Drang verspürt, sich mit anderem Wissen gleicher Art zu messen. Freilich ist dann das ganze Argument durch einen definitorischen Handstreich zum Stillstand gekommen. Gerade eben dadurch zeichnen sich wahre Kennerschaft und Kundigkeit aus, daß sie sich in der Sache und der Aufgabe verlieren und keinerlei Bedürfnis verspüren, sich mit anderen Kennern und Kundigen zu messen, um sie zu übertrumpfen. Derartige Motive wären dem Wissen und dem Können äußerlich, würden das Wissen und Können von seiner natürlichen Ausrichtung auf die Sache und die Aufgabe ablenken, es mit fremden und äußerlichen Interessen vermengen, die in der Person oder der gesellschaftlichen Situation verankert wären, aber nichts mit der Natur des Wissens und Könnens zu tun hätten.
Genug davon. Es ist deutlich geworden, wohin man geraten kann, wenn man sich auf die Materialebene der platonisch-sokratischen Argumente begibt: man wendet den Wortlaut hin und her, man testet Lesarten und mit jeder neuen Drehung verstärkt sich das Gefühl, daß es hier argumentationslogisch nicht sonderlich korrekt zugeht. Nach einiger Zeit hält man irritiert inne und wendet sich wieder dem Ausgangspunkt zu, um in einem neuen Versuch die Materialebene des Arguments zu verlassen und sich der Strukturebene zuzuwenden. Insbesondere dann ist ein solches Vorgehen erfolgversprechend, wenn das Argument selbst mit Strukturen und Relationen, Beziehungen und Verhältnissen operiert. Und das tut das vorliegende Argument in hohem Maße.