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Einleitung

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"Das war die Lage der Dinge; und so sah es aus mit den Männern, die die Leitung des Gemeinwesens in ihren Händen hatten und die öffentlichen Angelegenheiten besorgten, und so stand es um die Gesetze und Sitten. Und je eingehender ich dies alles mit prüfendem Blick betrachtete und je mehr ich an Jahren heranreifte, desto schwieriger erschien mir, ein Gemeinwesen zu regieren. Denn einerseits, so sagte ich mir, ist es ohne Freunde und zuverlässige Anhänger nicht zu schaffen – die waren unter den alten Bekannten nicht ohne weiteres zu finden (denn unsere Stadt lebte nicht mehr nach den Sitten und Gewohnheiten der Väter), und andere, neue zu gewinnen, war allenfalls unter größten Schwierigkeiten möglich –, und andererseits nahm der Verfall der Sitten und die Mißachtung der Gesetze immer mehr überhand. War ich also anfänglich ganz erfüllt von dem Drang nach einem politischen Amt und staatsmännischer Betätigung, so wurde mir bei Betrachtung dieser Zustände und dieses wirren Durcheinanders der Dinge schließlich ganz schwindelig zumute. Dabei fuhr ich zwar fort darüber nachzudenken, wie sich in dieser Hinsicht und im gesamten politisch-staatlichen Leben überhaupt ein Umschwung zum Besseren finden ließe, für das eigene politische Handeln wollte ich aber auf einen günstigeren Zeitpunkt warten. Schließlich aber kam ich zu der Überzeugung, daß alle bestehenden Verfassungsordnungen samt und sonders politisch verwahrlost sind, da sich ihre Gesetzgebung in einem heillosen Zustand befindet und ohne eine ans Wunderbare grenzende Veranstaltung im Verein mit einem glücklichen Zufall nicht gebessert werden kann. Und so sah ich mich denn zurückgedrängt auf die Pflege der wahren Philosophie, zu deren Lob ich sagen muß, daß allein sie die Quelle der Erkenntnis dessen ist, was im öffentlichen Leben sowie auch für den einzelnen Menschen als wahrhaft gerecht gelten kann. Es wird also die Menschheit, so erkläre ich, nicht von ihrem Elend erlöst werden, bis entweder die Gemeinschaft der wahren und echten Philosophen zur Herrschaft im Gemeinwesen gelangt oder bis die Machthaber im Staate durch göttliche Fügung wahrhaft zu philosophieren sich entschließen“ (Epistole Z 325 c – 326 b).

Diese Passage entstammt dem berühmten siebten der dreizehn hinterlassenen Briefe Platons. Er ist 354 geschrieben worden, nach der Ermordung Dions; Platon war damals über 70 Jahre alt. Er richtet sich an Anhänger und Freunde, die sein politisches Werk fortsetzen wollen. Platon berichtet in diesem Brief über sein politisches Leben, über seine ursprünglichen, der Familientradition folgenden politischen Karrierepläne, über seine politischen Erfahrungen in Athen, über die Entstehung seiner Überzeugung, daß eine verantwortungsvolle Leitung eines Gemeinwesens ohne eine philosophisch ausgewiesene Kenntnis der sozialen und der individuellen Gerechtigkeit nicht gelingen kann, und dann über seine Reisen nach Syrakus und seine Begegnungen mit Dion und Dionysos. Dion war der junge Schwager des Tyrannen, den Platon bei seinem ersten Besuch, wohl 388/87, kennengelernt hatte und nachhaltig für seine Philosophie und seine politischen Ideen begeistern konnte. Denn zwanzig Jahre später, nach dem Tode des Tyrannen, lud Dion Platon erneut nach Syrakus ein, um den gemeinsamen Versuch zu unternehmen, Dionysos II., den jungen Sohn und Nachfolger von Dionysos I., für eine politische Reform im Sinne Platons zu gewinnen. Das mißlang freilich gründlich; Dionysos II. erwies sich als Feind der Reform und der Reformer, er behandelte seinen Onkel Dion niederträchtig, beraubte ihn und jagte ihn aus der Stadt. Platon floh nach Athen zurück. Im Jahr darauf nun bekundete der Tyrann in einem Brief an den Philosophen einen Sinneswandel und Aufgeschlossenheit für die platonische Reform; und auch andere berichteten Platon von dem neu erweckten Interesse des Tyrannen an der Philosophie und den erstaunlichen Fortschritten, die er bereits im philosophischen Denken gemacht habe. Der Philosoph reiste also ein weiteres Mal an den Hof des Syrakuser Tyrannen, oder in seinen, mit einem Homer-Zitat geschmückten Worten: "ich kam zum dritten Mal in den Abgrund der Skylla, daß ich sie nochmals durchmäße, die fürchterliche Charybdis“.

All die Mühe war jedoch vergeblich, der Tyrann bestand die Philosophenprobe, den Lackmustest der Weisheit nicht. Philosophie und Macht kamen in ihm nicht so zusammen, wie es für eine Politik der Gerechtigkeit erforderlich ist, die Macht stellte sich nicht in den Dienst der Philosophie, sondern eine schlechte Seele bediente sich umgekehrt der Autoritätsrituale und Dignitätsinsignien der Philosophie, um ihre Geltungssucht zu stillen. Platons philosophische Politikberatung blieb also ohne jede Wirkung, sein Versuch, eine politische Gerechtigkeitsordnung im Rahmen einer Reform von oben zu verwirklichen, war jämmerlich gescheitert. Wie die Philosophenprobe zeigte, gehörte der Tyrann nicht zu denjenigen wenigen Menschen, die für Philosophie empfänglich sind und die Übungen und Entbehrungen auf sich nehmen, die eine philosophische Natur auf sich nehmen muß, um ein Philosoph zu werden, denn Philosophie ist kein äußerliches Wissen, kein äußerlicher Zierat, mit dem man sich schmückt und die unwissende Welt verblüfft, sondern eine Lebensform, die man durch Selbstformung gewinnt1.

Der Brief ist zwanzig Jahre nach Abfassung der ‘Politeia’ geschrieben worden; und die anfangs zitierte Passage enthält den politikphilosophischen Grundgedanken des Dialogs in nuce und nennt seine zentrale politische und kulturelle Voraussetzung. Die politische Situation im zeitgenössischen Athen, die uns Platon im Brief schildert, trägt deutliche Zeichen einer Krise. Den allgemeinen politischen Hintergrund nennt Platon nicht: daß das große athenische Jahrhundert, das fünfte, das Jahrhundert des Kleisthenes und Perikles, 404, mit dem Ende des nahezu dreißig Jahre währenden Peloponnesischen Krieges, vorüber ist, Athen durch den Krieg ausgeblutet ist; seine Macht über die See verloren hat; der demokratische Aufschwung in der allgemeinen Haltlosigkeit in diktatorische Wirrnis umgeschlagen ist. Er setzt mit einer knappen Skizze der vorfindlichen Verhältnisse ein: Die Verfassung ist zerbrochen, die Institutionen sind unwirksam geworden, tyrannisch agierende Eliten haben die Macht übernommen und das Gemeinwesen noch weiter heruntergebracht; all ihre Erneuerungsvorhaben erwiesen sich aufgrund ihrer politischen Inkompetenz und ihrer moralischen Verderbtheit als gravierende Fehlschläge; in kürzester Frist, so heißt es im Brief, ließen sie die "frühere Verfassung als eine goldene erscheinen“. Platon geht dabei nicht in die Einzelheiten, zählt nicht die Verfehlungen, listet nicht die Skandale auf, berichtet nicht ausführlich von den Folgen dieser schlechten Herrschaft für die Bürger. Er beschränkt sich auf die Erwähnung von zwei zusammenhängenden Begebenheiten: "unter anderem wollten sie (gemeint sind die sogenannten Dreißig Tyrannen, W. K.) auch meinen lieben älteren Freund Sokrates, den ich nicht zögere, den Gerechtesten seiner Zeit zu nennen, zusammen mit anderen ausschicken, einen Mitbürger gewaltsam zur Hinrichtung zu holen, damit er denn an ihren Taten Anteil hätte, ob er wollte oder nicht; doch er widersetzte sich, nahm lieber die größten Gefahren auf sich, um nur nicht Mittäter bei ihren gottlosen Werken zu werden“ (324 e – 325 a). Und die andere Begebenheit ist der Prozeß, der Sokrates nach der Vertreibung der Dreißig Tyrannen durch die neue Oligarchie gemacht wurde; ausgerechnet von denjenigen, die zu verraten er sich unter der Herrschaft der Dreißig geweigert hatte, wurde Sokrates der Gottlosigkeit und der moralischen Korruption der athenischen Jugend angeklagt und zum Tode verurteilt. Platon war 28 Jahre alt, als Sokrates den Schierlingsbecher trank.

Konnte es ein deutlicheres Zeichen der politischen Verwirrung und sittlichen Verkommenheit, der moralischen Desorientierung und Haltlosigkeit der Herrschenden wie der Bürger geben als diese Behandlung des Gerechtesten von allen? Erst dieser gemeine und perfide Versuch, ihn zum Komplizen der eigenen Verbrechen zu machen, und sodann dieser heuchlerische, angeblich um die Ehre der Götter und die Zukunft der Stadt besorgte Prozeß, der das Recht verhöhnte und Wahrheit und Gerechtigkeit mit Füßen trat? Die Krise ist tiefgreifend, denn die Grundlagen des Gemeinwesens sind völlig zerstört. Nicht nur die Verfassung ist aus den Fugen geraten; nicht nur das Recht liegt darnieder. Auch Sitte, Gewohnheit und Herkommen sind unwirksam geworden; die traditionelle Sittlichkeit hat keinerlei überzeugungsbildende und handlungsleitende Kraft mehr; ihre Verbindlichkeitsressourcen sind versiegt. Wenn jedoch die sittlichen Institutionen der Traditionswelt nicht mehr geachtet werden und keinerlei Anerkennung mehr finden, wird eine Politik der Rückbesinnung, der Wiederaneignung alter Wertüberzeugungen nicht mehr erfolgreich sein können. Die in traditionsbestimmten Gesellschaften bewährte integrationspolitische Rezeptur der sittlichen Erneuerung muß angesichts eines so tiefreichenden Geltungsbruchs versagen. Nur dann kann eine Erneuerung erfolgreich sein, wenn das Alte noch unbefragte Achtung genießt; nur dann kann die Erinnerung heilsam sein, wenn das Erinnerte immer präsent war und nur durch Verschleiß, nachlassende Strenge und Unachtsamkeit abgedunkelt worden ist. In grundstürzenden Zeiten ist jedoch von den Alten und Vätern keinerlei Hilfe zu erwarten. Die Überzeugungen der Vergangenheit haben alle Macht verloren; das vergangene Wissen liefert keine Einsichten mehr; die vergangenen Gründe unterstützen keine Wahrheit. In einer tiefgreifenden Krise der Institutionen der Politik, des Rechts und der Sittlichkeit gibt es nichts, an das sich anknüpfen ließe; das Bestehende und Vorfindliche ist verderbt und unbrauchbar; nicht mit ihm, sondern nur gegen es läßt sich eine Politik der Verbesserung der politischen Institutionen und des menschlichen Charakters durchsetzen. Es bedarf eines Neuanfangs, einer fundamental neuen Grundlegung; es müssen neue Erkenntnis- und Verbindlichkeitsquellen gefunden werden, aus denen sich eine Politik der Gerechtigkeit speist. Und diese neue Grundlegung, das ist Platons leidenschaftliche Überzeugung, kann nur durch die wahre und echte Philosophie erreicht werden. Nur die Philosophie kann die Stadt und die Menschen retten, weil nur sie weiß, was Gerechtigkeit ist und was das Gute verlangt, nach welchen Grundsätzen ein gerechtes Gemeinwesen geordnet ist und was einen gerechten Menschen und ein gelingendes Leben ausmacht. Nur wenn sich philosophische Einsicht und politische Macht auf die eine oder die andere Art vermählen, können die Menschen von ihrem Elend erlöst werden. Daher muß es die erste Aufgabe des Philosophen sein, die hoffnungsvollen philosophischen Naturen vor der sittlichen Korruption zu bewahren, sie zu wahrem Philosophentum zu erziehen und für die schwierige politische Aufgabe bereitzumachen2.

Auch in der Geschichte des politischen Denkens sind die Blätter des Glücks leer; und die Reihe der politischen Denker, die ihre politischen Vorstellungen vor einem krisentheoretischen Hintergrund konturieren und Politik als Krisenüberwindungsprogramm expliziert haben, ist lang und prominent besetzt. Natürlich findet sich Carl Schmitt in dieser Reihe, der Politik und Krise so eng aneinandergerückt hat, daß sich souveräne Macht geradezu in der politischen Verfügung über die Krise, ihrer Ausrufung wie ihrer Beseitigung, zum Ausdruck bringt. Und auch Karl Marx steht in ihr, der als zünftiger Eschatologe die gesamte Geschichte in eine gewaltige und letzte Krise münden läßt, in der das messianische Proletariat über den fortschrittshemmenden Klassenfeind zu Gericht sitzt und die Menschheit erlöst. Und natürlich gehört auch Jean-Jacques Rousseau in diese Genealogie, für den die frühbürgerlich-kapitalistische Gesellschaft die Krise ist, und selbstverständlich auch Thomas Hobbes, bei dem die Krise ‘Naturzustand’ heißt und dessen Absolutismus in einem krisentheoretischen Radikalismus gründet. Und nicht zuletzt der Florentiner Politikberater Machiavelli, der nicht müde wird, seiner Klientel klarzumachen, daß man am besten als rational kalkulierender und beherzt seine Chancen suchender Krisengewinnler zu politischer Macht, Ruhm und Ehre gelangt.

Am Anfang dieser Reihe aber steht Platon, der die erstaunliche These vertritt, daß nur philosophische Grundlegung festen Halt und zeitlos gültige Orientierung gewährt, daß nur die Philosophie die Menschen aus der moralischen und politischen Krise führen kann, daß die öffentlichen Angelegenheiten nur dann in eine gerechte Ordnung gebracht werden können, wenn entweder die Philosophen die Herrschaft ausüben oder die Herrscher Philosophen werden, denn nur durch die Philosophie ist das Gerechtigkeitswissen zu erlangen, dessen die Politik bedarf, um gute Politik zu sein, das aber auch für ein gelingendes Leben jedes Menschen notwendig ist, denn nur dann kann menschliches Leben gelingen, wenn es im Bemühen um die Gerechtigkeit, um die Ausbildung eines guten Charakters geführt wird.

Freilich findet sich in der Politeia keine offensichtliche Entsprechung zum hobbesschen Dualismus von Naturzustand und Leviathan, zum rousseauschen Kontrast zwischen bürgerlicher Gesellschaft und republikanischer Lebensgemeinschaft oder zum marxistischen Gegensatz von Klassenkampfgeschichte und sozialistischer Utopie. Der enge und explizite Zusammenhang, der in der zitierten Passage aus dem siebten Brief, zwischen dem politischen und moralischen Niedergang eines Gemeinwesens und seiner Bürger einerseits und der wahren und echten Philosophie andererseits hergestellt wird, ist kein systematisches Kompositionsprinzip der Politeia. Die Philosophie wird hier nicht ausdrücklich zu einer erfahrenen und theoretisch verarbeiteten Wirklichkeit in Beziehung gesetzt. Hier haben wir keine Schilderung eines wie auch immer gearteten negativen sozialen Zustandes, der unerträglich ist und unsere Interessen verletzt und auf den die politische Philosophie mit ihren normativen ordnungspolitischen Entwürfen antwortet. Während der Staatsphilosoph Hobbes das fundamentale Überlebensinteresse der Menschen als Propagandisten gewinnen kann, der Staat erst kommt, nachdem er verzweifelt gerufen wird, muß in der Politeia die Philosophie die Menschen erst von ihrer Philosophiebedürftigkeit überzeugen. Freilich kennt auch die Politeia einen Naturzustand, den zu überwinden ihre Bestimmung ist. Dieser ist aber von besonderer Art; es ist ein Zustand des Nichtwissens, der aber gleichwohl den späteren Naturzustandskonzeptionen der neuzeitlichen politischen Philosophie systematisch an die Seite gestellt werden kann. Denn die Grundlagenkrise des öffentlichen Lebens ist Ausdruck eines fundamentalen Wissensmangels. Nur dann kann die Philosophie den politischen und moralischen Niedergang des öffentlichen Lebens aussichtsreich aufhalten, wenn die Korruption der Sitten und Einrichtungen als Ergebnis mangelnden Wissens und fehlender Einsichtsfähigkeit interpretiert werden kann. Platon hat aber nicht nur die politischen Zustände des zeitgenössischen Athen als Auswirkungen einer spezifischen, im Mangel eines bestimmten Wissens begründeten politischen und moralischen Inkompetenz verstanden. Auch wenn man über Athen hinausblickt, findet man keine besseren Verfassungen, keine bessere Gesetzgebung, keine bessere Regierung. Das Zusammenleben der Menschen befindet sich grundsätzlich und – so würden wir heute sagen – weltweit im Zustand der politischen Verwahrlosung. Denn der Zustand des Nichtwissens ist ein allgemeinmenschliches Schicksal: der Mensch als solcher befindet sich im Stand des Nichtwissens. Und darum redet Platon im siebten Brief auch nicht von der philosophischen Rettung Athens oder von der Rettung der griechischen Stadtstaaten, er redet von den ‘anthrópina géne’, also von der menschlichen Gattung, so Schleiermacher, von der Menschheit, so Apelt, von den Generationen der Menschen, so die immer um möglichst genauen Wortlaut bemühte Übersetzung von Kurz, oder noch genauer: von den menschlichen Geschlechtern, die nicht vom Elend befreit werden, bevor nicht das "Geschlecht der wahr und auf rechte Art Philosophierenden“ die Herrschaft erlangt und die Ämter besetzt oder die Machthaber, "die Klasse der in den Städten Herrschenden“, durch göttliche Fügung wahrhaft zu philosophieren beginnen.

Es ist uns vertraut, wie es ist, im Zustand des Nichtwissens zu sein. Wir bringen unser ganzes Leben in ihm zu. Wir alle wissen dies nicht und das nicht. Ein solches Nichtwissen ist banal. Wir wissen zumeist, wie wir das Nichtwissen abstellen können, wenn wir wollen; oft aber wollen wir gar nicht, weil dieses Wissen für uns nicht sonderlich von Belang ist und uns das Nichtwissen nicht stört. Wenn es uns aber stört, werden wir halt die nötigen Investitionen vornehmen, um uns in den Stand des Wissens zu bringen; dies gilt für theoretisches und praktisch-technisches Wissen gleichermaßen. Daß wir dabei selbst bei großer Geschicklichkeit, nie nachlassendem Eifer und einem langen Leben zumindest in unseren nachenzyklopädischen Zeiten nie dahin kommen werden, all das zu wissen, was Menschen bereits wissen, beunruhigt uns ebenfalls nicht.

Neben diesem Nichtwissen, dem durch Übung und Informationssammlung abgeholfen werden kann, gibt es ein anderes Nichtwissen, das sich weder durch Übung noch durch Informationssammlung überwinden läßt. Es ist das Nichtwissen, das aus einem Mangel an entscheidenden Gründen, besseren Argumenten besteht, das das Feld des Gewußten durchwandert und an die Grenzen des Wissens gelangt. Diese Grenzen des Wissens mögen bestehen aus Einsicht in die Bedingungen des überhaupt Wißbaren, somit aus begriffener Unbegreiflichkeit, oder aus Aporien und Antinomien, da sich hier These und Gegenthese unerfreulicherweise auf Dauer die Waage halten. Das Wissen, das hier seine Grenzen erfährt, ist nicht von der vorigen Art des Nichtwissens. Ihm eignet Grundsätzlichkeit, daher prallen die Strategien des pragmatischen Umgangs mit störendem Nichtwissen wirkungslos an ihm ab, daher sind an der Grenze dieses Nichtwissens vornehmlich philosophisch interessierte Mitmenschen anzutreffen, Skeptiker, Aporetiker, Agnostiker, nicht hingegen Leute, die einen Zusatzkurs belegen oder sich ein Nachschlagewerk anschaffen. Beiden Formen des Nichtwissens ist gemeinsam, daß man sich dem Nichtwissen vom Wissen her nähert, es entweder verringernd und in Wissen überführend oder als Grenze des Wissens überhaupt erfahrend. Nichtwissen ist hier in beiden Fällen gewußtes Nichtwissen.

Von diesem gewußten Nichtwissen ist ein nicht-gewußtes Nichtwissen zu unterscheiden. Nicht-gewußtes Nichtwissen besagt, daß man gar nicht weiß, daß man im Stand des Nichtwissens ist; daß man zu wissen glaubt, in Wirklichkeit aber nicht weiß. Das Nicht-Wissen, das das Elend der menschlichen Geschlechter bewirkt und sie an einer grundlegenden Verbesserung ihrer Lage behindert, ist von dieser Art. Es ist nicht-gewußtes Nicht-Wissen. Ihm steht das Wissen der Philosophen gegenüber. Und diese Konstellation ist von beträchtlicher Brisanz. Es ist nicht schwierig, dem wissenden Nichtwissen durch Wissen abzuhelfen; wie soll aber sich das Wissen dem um sein Nicht-Wissen nicht Wissenden offenbaren? Wie soll es sich demgegenüber als Wissen ausweisen, der von einem Wissen jenseits seines Wissens, von den Grenzen seines Wissens gerade nicht weiß, denn genau das ist das Charakteristikum des um sich selbst nicht wissenden Nicht-Wissens; es kennt nicht die Grenzen seines Wissens, hält für Wissen, was von jenseits der Grenzen her betrachtet nur den Status von Meinung, Mutmaßung, Vermutung haben kann, sieht dort Grund, wo Abgrund ist, festen Halt, wo Bodenlosigkeit droht.

Philosophisches Wissen, Wissen, das um sich, um das Nicht-Wissen der anderen und um das Nichtgewußtsein des Nicht-Wissens der anderen weiß, ist genötigt, seinen Selbstausweis mit der Reflexion des problematischen Abstandes zwischen sich und dem nicht-gewußten Nichtwissen unauflöslich zu verbinden, die Besonderheit seiner selbst im Unterschied zum angemaßten Wissen der anderen klar herauszustellen und die Bedingungen seiner Verwirklichung zu bedenken. Nur das wissende Nichtwissen wird das Wissen als Bereicherung seiner eigenen Lage empfangen. Zwischen dem nicht-gewußten Nicht-Wissen und dem Wissen gibt es jedoch keinerlei Kommunikationskanäle. Der platonische Philosoph ist kein Interpret der immer schon geteilten Überzeugungen, keiner, der die undeutlich gewordene Metaphysik individueller und kollektiver Selbstdeutungen expliziert und ins harte Licht der kritischen Überprüfung erhebt. Er ist kein Hermeneut der allgemeinen Vernunft, der die in die Rationalverfassung von jedermann eingesenkten normativen moralischen und politischen Verpflichtungsmuster zur abgesonderten Darstellung bringt.

Die Grundlagenkrise hat alle Fundamente unbrauchbar gemacht; nichts ist mehr da, auf das man sich verlassen kann, an das man anknüpfen kann; es bedarf einer radikalen Neubegründung, die sich mit der Formulierung von Grundsätzen und Prinzipien nicht begnügen kann, die allen einsichtig wären und von jedermann angewandt werden könnten. Die politische Bedeutsamkeit der Philosophie läßt sich nicht auf ein entscheidungslogisches Prinzip reduzieren. Sie zeigt sich in der spezifischen Kompetenz der Philosophie, das Wesen und die wahre Wirklichkeit der Dinge zu erkennen und dieses Wissen für die Gestaltung des Gemeinwesens und des persönlichen Charakters in Anwendung zu bringen. Die Untersuchung der Gerechtigkeit ist darum auch eine Erörterung des besonderen Wissens der Philosophie und damit eine Selbstdarstellung der Philosophie im allgemeinen.

Der thematische Reichtum der Politeia ist damit aber bei weitem noch nicht erschöpft. Was enthält dieses Werk nicht alles? Eine Theorie der Gerechtigkeit, die in Verknüpfung eines moralischen und eines politischen Untersuchungsstrangs eine spiegelbildliche Darstellung der Grundzüge eines gerechten Charakters und eines gerechten Gemeinwesens entwickelt. Eine uns Kantianer höchst irritierende Erörterung des Zusammenhangs von Glück und Gerechtigkeit, die das ganze Buch wie eine Klammer umfaßt, sowohl die Ouvertüre bildet als auch den Ausklang, in der nach dem Lohn der Gerechten im Leben wie nach dem Tode gefragt wird, und die insgesamt mit allerlei Beweisen dafür aufwartet, daß es nur dem gerechten Menschen wahrhaft gutgeht, der ungerechte Mensch hingegen wider allen Augenscheins ein höchst unglücklicher Mensch sei und der ungerechteste von allen, der Tyrann, sicherlich als der elendeste Mensch auf der ganzen Welt betrachtet werden müsse. Eine Theorie der Seele, die den Aufbau der Seele freilegt, die unterschiedlichen Formen gelingender und tadelnswerter Seelenhaushaltsführung aufzeigt und der Bedeutung ihrer Unsterblichkeit nachsinnt. Eine sozialevolutionäre Skizze gesellschaftlicher Komplexitätssteigerung und Funktionsdifferenzierung, die die Genese der Polis von den ersten Anfängen bis zur Gerechtigkeitsordnung in mehreren Schritten rekonstruiert. Eine Lehre der vier Kardinaltugenden. Eine Lehre von den Verfassungen und ihrem entwicklungsgeschichtlichen Zusammenhang. Eine hochinteressante politische Psychologie, die in Anwendung des methodologischen Hauptprinzips der Politeia, des Dualismus von politischer Ordnung und Seelenordnung, den Verfassungstypen Charaktertypen zuordnet und eindrucksvolle physiognomische Skizzen des demokratischen, des oligarchischen, timokratischen und tyrannischen Menschen entwirft. Einen Erziehungsplan für Sicherheitskräfte und Herrscher, der neben einer philosophischen Theologie und einer Theorie der Musik auch die berühmte politische Kritik der Dichtkunst umfaßt, die die Auswirkungen von Rhythmik, Versmaß und den unterschiedlichen Formen sprachkünstlerischen und dramatischen Ausdrucks auf die Erziehung der politischen Funktionseliten betrachtet und den Dichter, den Wirklichkeitsnachahmer und Virtuosen des Scheins, aus der Polis verbannt. Den Entwurf eines Ausbildungsgangs des Philosophen, der im Rahmen von drei berühmten Gleichnissen genau in der Buchmitte wissenschaftstheoretische und erkenntnistheoretische, ontologische und metaphysische Erörterungen verknüpft und in eine Selbstdarstellung der Philosophie mündet, die ihrerseits durch allgemein philosophiesoziologische Bemerkungen abgerundet wird, die das Verhältnis der Philosophie zur politischen Wirklichkeit und den Stand des Philosophen in der Gemeinde der selbstgefällig Meinenden untersuchen. Und dann ist da natürlich noch die Untersuchung der Verwirklichungsbedingungen der politischen Gerechtigkeit, deren zumutungsvolle Ergebnisse auch denen bekannt sind, die sonst nichts von der Politeia wissen, nämlich zum einen die berüchtigte Forderung der Frauen- und Kindergemeinschaft mit eugenetischer Auslese und pythagoreischer Zahlenmystik und zum anderen eben der berühmte Satz von der Notwendigkeit, den Philosophen die politische Herrschaft anzuvertrauen.

Es gibt nur ein Werk der politikphilosophischen Tradition, das der Politeia an thematischer Vielfalt nahekommt und wie diese in einem gewaltigen Begründungsentwurf anthropologische und psychologische, moralphilosophische und politikphilosophische, wissenschaftstheoretische, erkenntnistheoretische und philosophiemethodologische Erörterungen miteinander verknüpft: Thomas Hobbes’ Leviathan von 1651. In der Darstellungsform jedoch könnten beide kaum verschiedener sein. Während Thomas Hobbes eine stilistisch homogene, strikt durchargumentierte und methodologisch streng kontrollierte wissenschaftliche Darstellung gibt, die dem zeitgenössischen mathematisch-analytischen Methodenideal verpflichtet ist und jeden Gedankenschritt aus seinen Voraussetzungen zu erklären versucht, bietet die Politeia eine stilistisch sehr komplexe, literarisch überaus vielschichtige Darstellung, die in einem, seinerseits in eine Rahmenerzählung eingebetteten Dialogbericht Argumente und Erzählungen, Sprachbilder, Gleichnisse und Mythen miteinander verknüpft. Während Thomas Hobbes sich im direkten methodischen Zugriff der philosophischen Wahrheit nähert, entwickelt Platon in der Politeia eine philosophische Rhetorik der Umwege und einer von Gleichnissen und Mythen umstellten, nicht unmittelbar zugänglichen Mitte.

Die literarische Dramaturgie der platonischen Dialoge hat viele Formvarianten entwickelt. Einige Dialoge sind raffiniert konstruierte Gesprächs- und Diskussionsdramen; andere nur Monologien, die von unbedeutenden und für den Darstellungsgang gänzlich funktionslosen Einwürfen begleitet werden. Einige sind in eine Rahmenerzählung eingebettet, andere enthalten nur den Wortwechsel. Einige geben eine Darstellung des Dialogs, andere hinwiederum bestehen aus einem Dialogbericht. Wieder andere verbinden Rahmenerzählung mit Dialogbericht. Normalerweise ist Sokrates die dominierende Figur der Dialoge, aber gelegentlich tritt er auch hinter andere Philosophen zurück, so im Timaios, im Sophistes und im Politikos; und in den Nomoi tritt er überhaupt nicht auf. Gemeinhin werden die platonischen Dialoge in vier Gruppen eingeteilt. Da sind zuerst die Frühdialoge, mit denen Platon irgendwann nach Sokrates’ Tod seine philosophische Schriftstellerei begonnen hatte. Es sind dies die Tugenddialoge, die den historischen Sokrates zeigen, der seine Athener Mitbürger über ihre moralischen Überzeugungen befragte und, wie es in der Verteidigungsrede, in der Apologie heißt, den Orakelspruch, daß niemand weiser wäre als er, an dem Wissen der Staatsmänner, Dichter und Handwerker überprüfen wollte. Zu diesen frühen Dialogen gehören Laches, der von der Tapferkeit, Charmides, der von der Besonnenheit, und Euthyphron, der von der Frömmigkeit handelt. Eine Eigentümlichkeit dieser frühen und immer sehr kurzen Dialoge ist ihr aporetischer Ausgang. Dann haben wir eine zweite Gruppe, die die Dialoge des Übergangs und Aufstiegs umfaßt; zu ihnen gehören die Dialoge Protagoras und Menon, Gorgias und Euthydemos; sie gleichen den frühen Dialogen noch in vielerlei Hinsicht, sind aber in ihrer Themengestaltung allgemeiner und gleichsam eine Reflexionsstufe höhergestiegen, denn nicht um einzelne Tugenden geht es hier, sondern vornehmlich um den Begriff der Tugend, um richtige und falsche Weisen des Tugendverständnisses und um das Erlernen der Tugend, um die Wege erfolgreicher Tugenderziehung. Dann kommen die mittleren Dialoge, die in der Jubiläumsausgabe des Artemis Verlages auch als Meisterdialoge bezeichnet werden, der Phaidon, der Phaidros, das Symposion, wohl auch der Timaios und natürlich der meisterhafteste von allen, die Politeia. Hier findet sich nicht mehr der fragend prüfende Sokrates der frühen Dialoge, hier folgt die Dialogführung auch nicht dem Weg des sokratischen Elenchos, der Widerlegung vorgeblichen Wissens. Der Sokrates der Meisterdialoge ist nicht mehr der neugierige Frager, sondern der philosophische Lehrer.

Bei einem Philosophen wie Kant können wir mit beträchtlicher Sicherheit sagen, daß der Philosoph eine aufregende philosophische Entwicklung durchgemacht hat und sich in unterschiedlichen Werken unterschiedliche Entwicklungsstadien seines Denkens zum Ausdruck bringen. Das geht aber nur, weil Kant zum einen durchgehend in eigener Sache und in eigener Verantwortung gesprochen hat, so daß hinsichtlich der Autorschaft der in seinen Schriften geäußerten Gedanken und dargestellten Überzeugungen keinerlei Zweifel möglich sind, und weil Kant zum anderen nie gezweifelt hat, philosophische Argumente, Beweise und Erkenntnisse angemessen, nachvollziehbar und allgemein lernbar zur Darstellung zu bringen. Für Platon gilt beides hingegen nicht. Platon spricht nie in eigener Sache und in eigener Verantwortung. Platon ist der Autor der Dialoge, gewiß, aber damit von Gedanken, Überzeugungen, Lehrstücken, die gerade nicht seine sind, sondern von den Figuren des Dialogs vorgetragen werden. Von den uns bekannten Philosophen ist Platon der unbekannteste; keiner hat sich so gründlich hinter seinen Texten versteckt wie er. Ein berichteter Bericht hat immer den Bericht eines anderen zum Inhalt. Wir machen einen Protokollanten für das Protokollieren, aber nicht für das Protokollierte verantwortlich. Zwischen den Leser des Dialogs und den Autor des Dialogs werden von Platon viele Brechungen geschoben. Man schaue sich nur die Politeia an: Da schreibt jemand, der Platon heißt, den Bericht eines anderen, der Sokrates heißt, auf, in dem dieser eine genaue Darstellung eines Gesprächs nebst seines Anlasses gibt, das er am Vortag mit verschiedenen jungen Leuten in Athen geführt hat. Interessant ist, daß hier der Gesprächsbericht von einem Gesprächsteilnehmer gegeben wird, noch dazu von dem Teilnehmer, der das ganze Gespräch dominiert hat. Daß beispielsweise die nach Thrasymachos wichtigsten Gesprächspartner aus der Anfangsphase des Gesprächs, nämlich Glaukon und Adeimantos, Brüder des Autors sind, erfährt der Leser ebensowenig wie den Zeitpunkt, an dem das Gespräch stattgefunden hat. Manche Interpreten nehmen den Hinweis auf das Fest der thrakischen Göttin Bendis (327a und 354 a) auf und datieren das Gespräch auf das Jahr 435 v. Chr. Da Platon den Dialog vermutlich 375 v. Chr. abgefaßt hat, berichtet er in ihm also von einem 60 Jahre zurückliegenden Gespräch.

Wie merkwürdig dies alles ist, wieviel nachüberlegende Aufmerksamkeit allein die literarische Form der philosophischen Texte Platons dem Leser abverlangt, zeigt ein einfacher Vergleich etwa der Politeia mit der Kritik der reinen Vernunft. Wenn wir die Kritik der reinen Vernunft untersuchen, dann untersuchen wir ihre Kompositionsprinzipien und ihren argumentativen Aufbau, dann überprüfen wir die Stimmigkeit der Argumente und die Überzeugungskraft der Beweise; dann legen wir die internen Voraussetzungen der Argumente frei und würdigen sie im Rahmen umfassenderer Überlegungen; möglicherweise fragen wir uns noch, von wem Kant beeinflußt war, wessen Sichtweisen er übernommen, gegen wen er sich gewandt und wie er den zeitgenössischen Diskussionskontext wahrgenommen hat. Nie werden wir jedoch die Authentizität des vorliegenden Textes bezweifeln; gelegentliche arg verdorbene Textstellen mögen wir vielleicht einem unachtsamen Setzer anlasten wollen. Aber abgesehen von solchen gänzlich unbedeutenden externen Authentizitätsrisiken bietet die Kritik der reinen Vernunft ohne jeden Zweifel Kants Konzeption einer transzendentalphilosophischen, erkenntniskritischen Begründung objektiver Erfahrungserkenntnis, und wenn wir uns mit diesem Werk beschäftigen, springen wir am besten mitten in die Argumentation hinein, denn Kant folgt dem Prinzip der hermeneutischen direttissima, spricht den Leser direkt an, errichtet zwischen sich und dem Publikum keinerlei Hürden, schlägt keine Umwege ein, weicht nicht in indirekte, uneigentliche und bildhafte Rede aus. Bei Platon hingegen müssen wir erst einen ganzen Wall von Authentizitätsrisiken überwinden, bevor wir uns auf den argumentativen Gehalt der Dialoge einlassen können; und all diese Authentizitätsrisiken sind interner Natur, durch die literarische Form erzeugt, die Platon gewählt hat. Was ich hier als Authentizitätsrisiko bezeichne, sind mögliche Quellen von Irreführung, Verstellung und Verfremdung. Wenn wir uns fragen, ob sich Kant vielleicht geirrt hat, dann beziehen wir uns auf uns nicht einsichtige Passagen seiner Argumentation. Wir meinen damit nicht, daß er sich vielleicht bei der Niederschrift seiner Gedanken geirrt hätte, etwa in dem Sinne, wie man sagen könnte, daß sich jemand beim Lauschen auf seine innere Stimme verhört hat oder die Bekundungen seines Gewissens mißinterpretiert hat. Bei Platon hingegen macht diese Frage Sinn. Wenn jemand über einen Dialog berichtet, ist die Frage, ob der Dialog wahrheitsgemäß wiedergegeben worden ist, durchaus sinnvoll. Wenn jemand nur einen Dialogbericht wiedergibt, gibt es gleich zwei Authentizitätsrisiken. Wenn dazu noch derjenige, der den Dialogbericht, über den der Autor berichtet, gibt, selbst ein Dialogpartner ist, was er ja nicht sein muß, um einen Dialogbericht zu geben, über den seinerseits berichtet wird, verstärkt sich noch das durch die Reflexion erzeugte zweite Authentizitätsrisiko, da jetzt die Gefahr der subjektiven Färbung und Parteilichkeit des Dialogberichts offenkundig ist und es zumindest nicht unvernünftig ist, dem Bericht mit Argwohn zu begegnen. Dieses eigentümliche Zurückweichen und Verschleiern, das mit der literarischen Form des Dialogs verbunden ist, prägt auf charakteristische Weise auch die Leserrolle. Nicht nur der philosophische Autor des Dialogs tritt hinter das berichtete Dialoggeschehen zurück, auch der Leser eines Dialogs wird an den Rand geschoben. Während der Autor einer philosophischen Abhandlung direkt den Leser anspricht, beide unmittelbar Beteiligte des durch die Veröffentlichung der Lehrschrift angebahnten Diskurses sind, drängt sich in den philosophischen Dialogen das Dialoggeschehen selbst in den Vordergrund, das ja immer schon seine eigenen Autoren und eigenen Zuhörer hat und letztlich weder des philosophischen Aufschreibers noch des Lesers bedarf. Der Leser eines Dialogs wird nicht angesprochen, er tritt hinzu, zu den anderen, die die Diskutierenden umstehen; und er muß nicht nur zuhören, er muß auch das Geschehen beobachten.

Denn anders als eine Lehrschrift vom Format der Kritik der reinen Vernunft teilen platonische Dialoge oft auch durch explizite Schilderungen den pragmatischen Kontext des Dialoggeschehens mit und eröffnen damit Erkenntnischancen, die über den propositionalen Gehalt der wiedergegebenen Diskussion hinausgehen. In einem solchen Dialoggeschehen hat eine Aussage nicht die Festigkeit, die ihr die Lehrschrift gibt; wann immer man dort zu ihr zurückkommt, sie ist dieselbe. Im Dialog hingegen wird sie in eine von ihr verursachte Reaktionsgeschichte hineingerissen, in der sie sich unaufhörlich verändert. Diese sich überlagernden und unterschiedliche Schnittmengen ausbildenden Kontexte werden nicht nur als narrative Rahmenbedingungen eingeführt, sie zeigen sich vor allem auch in der Art der Dialogführung. Die Kontextpragmatik des Dialoggeschehens versieht jede Aussage mit einem ganzen Strauß von Zusatzelementen, von der Mimik und Gestik bis zu den Reaktionen auf den Gesichtern Dritter, die in das Überzeugungswerk eingehen, die aber selbst propositional nicht erfaßbar sind und auch in der Darstellung des Dialogs nicht aufgegriffen werden können. Damit weist der Dialog über sich hinaus auf den von ihm nur unvollkommen abbildbaren Realkontext des von ihm geschilderten realen Dialoggeschehens. Eine derartige Transzendierung des Textes ist nur Dialogen, nicht hingegen Traktaten eigen. Welche Möglichkeiten hat nicht der rhetorisch versierte Sprecher, durch das Wie seines Sprechens, durch Ton, Ausdruck, Betonung, Pausen und Schnelligkeit, durch Gestik und Mimik, durch Körpersprache und Kontaktsuche mit dem Publikum über das von ihm Gesprochene hinweg dieses zu kommentieren? Und diese Kontextkommentare können so drastisch von dem Gemeinten und Glaubengemachten abweichen, daß sie den Redner geradezu widerlegen, ihn in einen performativen Widerspruch verwickeln. Oder in einen physiognomischen Widerspruch. Ich würde euch ja gern glauben, ruft Nietzsche den Jüngern der christlichen Religion zu, wenn ihr nur erlöster aussehen würdet. Viel zeigt sich im Dialoggeschehen, was nicht durch die Mitteilungen aufgefangen wird.

Daher ist eine angemessene Interpretation der Politeia gehalten, nicht nur dem philosophischen Inhalt, sondern auch seiner literarischen Form, seiner dialogisch-dramatischen Kontextualisierung und seiner rhetorischen Färbung gebührende Aufmerksamkeit zu schenken, darf sich dabei aber nicht zu Überinterpretationen, flächendeckender Bedeutsamkeitsfahndung und übermäßiger Allegorisiererei hinreißen lassen und jedes Komma, jede Dialogwendung und jedes Stirnrunzeln als philosophische Anspielung oder versteckten philosophischen Kommentar des gerade Vorgebrachten auslegen.

Noch einige abschließende Bemerkungen zum anschließenden Interpretationsgang durch die Politeia. Meine Darstellung verfolgt drei Ziele: Zum einen bemüht sie sich um eine klare Konturierung und kritische Diskussion der vorgetragenen Einzelargumente. Zweifellos ist Platon ein Gott der abendländischen Philosophie; und möglicherweise ist diese selbst auch nur eine Fußnote zu seinem Werk, wie Whitehead einmal bemerkt hat. Aber weder Verehrung noch historischer Abstand sollten uns daran hindern, Platons Argumente mit allem uns zur Verfügung stehenden Scharfsinn zu prüfen und zu würdigen und dabei alle für diese Aufgabe wichtigen Untersuchungsperspektiven zu berücksichtigen: die innere, auf Konsistenz achtende, die äußere, den Zusammenhang beleuchtende, und die systematische, an sachlicher Brauchbarkeit interessierte. Zum anderen verfolgt die Darstellung das Ziel, den Aufbau des Werks und den Rhythmus der Gedankenführung freizulegen. Und drittens wird die texterschließende Untersuchung mit pointierten Vergleichsskizzen und systematisch-historischen Konfrontationen angereichert, um durch angemessene Kontextualisierung die systematische Eigentümlichkeit und den philosophiegeschichtlichen Ort der platonischen Politeia genau bestimmen zu können.

Die Politeia ist ein gewaltiges, vieldimensionales Werk, und die Forschungsliteratur allein zu diesem Dialog ist kaum noch zu überblicken. Eine Interpretation, die sich um eine vollständige, dem Darstellungsgang Argument für Argument, Lehrstück für Lehrstück, Buch für Buch folgende Texterschließung bemüht, wird nicht zugleich auch einen Forschungsbericht geben und Interpretationskontroversen gewichten können. Ich habe mich daher auf eine kohärente Textinterpretation, kritische Analyse und systematische Würdigung der platonischen Argumente und Lehrstücke konzentriert und nur gelegentlich auf einschlägige Literatur verwiesen. Da diese Werkinterpretation zur sorgfältigen Lektüre der Politeia anregen möchte, muß sie den Zugang zu ihr ebnen und die Arbeit mit ihr erleichtern. Daher ist dem Interpretationstext ein ungewöhnlich detailliertes Inhaltsverzeichnis vorangestellt worden, das nahezu wie ein Register verwendet werden kann; daher ist aber auch auf griechische Zitation in Originalsprache wie in Umschrift verzichtet worden; nur gelegentlich, bei zentralen Begriffen, wird der griechische Originalausdruck in deutscher Umschrift mitgeteilt. Die Politeia-Zitate werden in der Übersetzung von O. Apelt wiedergegeben (Platon, Der Staat, in: Platon: Sämtliche Dialoge, Bd. V, Hamburg: F. Meiner Verlag 1993).1

Platons

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