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VI. Der äußere und der innere Konsequentialismus der Gerechtigkeit

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Das Lob der Ungerechtigkeit benennt die Aufgaben, die die Philosophie zu erfüllen hat, um ein überzeugendes Bild von der Gerechtigkeit zu malen, das die communis opinio beschämt und das Gerede der Dichter zum Schweigen bringt. Schauen wir noch einmal auf die beiden Reden der Brüder zurück. Welche Thesen haben sie präsentiert? 1. Gerechtigkeit ist der Ungerechtigkeit des Unrechtleidens vorzuziehen. 2. Gerechtigkeit ist der Ungerechtigkeit des Unrechttuns nicht vorzuziehen. 3. Daher wird jeder ungerecht handeln, wenn er glaubt, es straffrei tun zu können. 4. Der Normalgerechte ist also ein Scheingerechter, ein Ungerechter, der sich den Schein der Gerechtigkeit zulegt, der nicht um der Gerechtigkeit willen gerecht ist, sondern allein, um die üblen Folgen der Ungerechtigkeit zu vermeiden. Nicht die interne Qualität der Gerechtigkeit also, sondern allein das rationale Motiv der Vermeidung äußerer Übel, sei es die Strafe, sei es die gesellschaftliche Ächtung, sei es die wirtschaftliche Benachteiligung, läßt ihn die Gebote der Gerechtigkeit beachten. 5. Gerechtigkeit ist ohnehin nichts anderes als der Inbegriff der Gesetze, die die Menschen zur Beendigung des gesetzlosigkeitsbedingten Unrechtleidens einvernehmlich etabliert haben.

Das Lob der Gerechtigkeit kann in vielen Tonarten gesungen werden. Wenn der vollendet Ungerechte, der klug seine Interessen wahrnehmende Ungerechte gerecht zu scheinen versucht, muß er in dem Gerechtscheinen einen Vorteil sehen. Insofern ist auch jeder Ungerechte, der sich darum bemüht, gerecht zu scheinen, ein Lobredner der Gerechtigkeit. Das Lob, das er singt, ist extern konsequentialistisch. Wenn Adeimantos aber davon spricht, daß bislang das Lob der Gerechtigkeit immer nur die äußeren Güter benannt habe, die man mit Gerechtigkeit erwerben kann, z. B. Ruhm, Ehre und Geschenke, dann ist auch dieses Lob extern konsequentialistisch, aber von anderer Art. Hier geht es um genuine gesellschaftliche Gratifikationen, die den Gerechten unter den Bürgern, den Bürgern, die sich um die Gemeinschaft verdient gemacht haben und ein Vorbild an moralisch-politischer Exzellenz und Gerechtigkeit sind, zuteil werden. Die Bürger, die hier wegen ihrer Gerechtigkeit bewundert und geehrt werden, unterscheiden sich von den Gyges-Typen, von den Ungerechtigkeitswölfen im Gerechtigkeitsschafspelz. Sind diese nur gerecht, um die mit Ungerechtigkeit verbundenen Kosten zu vermeiden, so sind die ersten gerecht, weil sie Gerechtigkeit als eine genuine gesellschaftliche Erfolgsstrategie erkannt haben. Beide freilich sind nicht gerecht um der Gerechtigkeit willen, beide wählen die Gerechtigkeit nicht um ihrer Seele willen, beide sind nicht aus Selbstsorge, sondern nur aus Selbstinteresse gerecht, betrachten Gerechtigkeit nur als Strategie zur Verbesserung ihrer äußeren Ertragssituation. Von beiden ist der Gerechte also zu unterscheiden, der die Gerechtigkeit um ihrer selbst willen schätzt.

Aber was heißt das: die Gerechtigkeit um ihrer selbst willen zu schätzen und zu befolgen? Was jemanden antreibt, der die Gerechtigkeit um ihrer äußeren Konsequenzen willen befolgt, wissen wir. Was aber treibt jemanden an, der die Gerechtigkeit um ihrer selbst willen befolgt? Um ihrer selbst willen ist die Gerechtigkeit sinnvollerweise nur dann erstrebenswert, wenn ungeachtet der äußeren Konsequenzen derjenige, der gerecht handelt, sich besserstellt. Und wenn diese Besserstellung sich nicht als äußere Ertragssteigerung zeigen darf, dann muß sie sich auf den inneren Zustand des Menschen, auf seine innere Beschaffenheit auswirken, dann muß sie sich als Verbesserung des Seelenzustandes bemerkbar machen. Eine konsequentialistische Würdigung der Gerechtigkeit ist also unerläßlich. Das Gerechtigkeitslob, das sich die Freunde der Gerechtigkeit vom Philosophen erhoffen, kann gar nicht anders als konsequentialistisch ausfallen. Die Gerechtigkeit ist wegen ihrer Folgen zu loben und nur wegen ihrer Folgen. Nur müssen neben den äußeren Konsequenzen auch die inneren Auswirkungen der Gerechtigkeit betrachtet werden. Und die letzteren sind nicht nur darum wichtig, weil sich allein auf die gesellschaftlichen Auszahlungen gerechten Verhaltens zu beschränken zu einem verkürzten konsequentialistischen Gerechtigkeitsprofil führen würde; sie sind vor allem darum wichtig, weil nur dann das Wesen der Gerechtigkeit angemessen getroffen werden kann, wenn wir uns auf die Auswirkungen der Gerechtigkeit auf das Innere, das Seelenleben konzentrieren.

Die äußeren Folgen der Gerechtigkeit sind gerechtigkeitstheoretisch verbrannt und für eine Verteidigung der Gerechtigkeit wertlos, da sie nicht nach der Gerechtigkeit selbst verlangen, sondern auch durch prätendierte Gerechtigkeit hervorgerufen werden können. Jede Verteidigung der Gerechtigkeit muß sich also von ihnen unabhängig machen. Sokrates geht dabei so weit, daß er die künstlichen Belohnungen und Bestrafungen der gesellschaftlichen Gerechtigkeitspraxis nicht nur allein ignoriert. Er behauptet sogar, daß die Gerechtigkeit auch dann vorzuziehen sei, wenn all die Strafen drohen, die die Gesellschaft bei anscheinender Ungerechtigkeit verhängt; und daß die Ungerechtigkeit auch dann nicht wünschenswert sei, wenn sie all die Belohnungen enthielte, die der Anschein der Gerechtigkeit verschaffen kann. Selbst für Gyges lohnt es sich nicht, ungerecht zu sein; selbst für Hiob lohnt es sich, gerecht zu sein. Weder vermögen die äußeren Vorteile der Ungerechtigkeit für die innere Verderbtheit der Ungerechtigkeit zu entschädigen, noch vermögen die äußeren Nachteile der Gerechtigkeit die innere Güte der Gerechtigkeit zu schmälern. Die seelische Zustandsbilanz bleibt von jeder äußeren Erfolgsbilanz unberührt. Das ist aber nur möglich, wenn Gerechtigkeit und Ungerechtigkeit ihren Lohn und ihre Strafe in sich tragen und die Güte des inneren Gerechtigkeitslohns zum einen und die Höhe der inneren Ungerechtigkeitsstrafe zum anderen weder durch den äußeren Erfolg des für gerecht gehaltenen oder gar unsichtbar und daher straffrei agierenden Ungerechten noch durch die äußere Pein des für angebliche Ungerechtigkeit bestraften Gerechten aufgewogen werden können. Ihren Lohn und ihre Strafe können Gerechtigkeit und Ungerechtigkeit aber nur insofern in sich tragen als sie als seelenformierende und charakterbildende Lebensprinzipien in Betracht kommen, als sie unmittelbare, durch keinerlei gesellschaftliche Konventionen vermittelte und durch keinerlei gesellschaftliche Praxis unterstützte Auswirkungen auf den Zustand und die Qualität des inneren Seelenlebens haben.

Hier ist noch einmal die systematische Bedeutung der Gyges-Parabel hervorzuheben. Der Ring des Gyges stellt ein Ungerechtigkeitsideal dar; davon träumen die Ungerechten, davon träumen wir alle: ungestraft das tun zu können, was wir möchten. Gyges ist der ideale Ungerechte, da ihm der Ring einen optimalen Ungerechtigkeitsertrag beschert und er immer straffrei davonkommt. In der Gyges-Parabel steckt die Herausforderung, die Sokrates bestehen muß. Gyges ist der gerechtigkeitstheoretische Härtetest; hier genau verläuft die Frontlinie, an der sich der interne Konsequentialismus der Gerechtigkeit der ethischen Selbstsorge und der externe Konsequentialismus der Gerechtigkeit des rationalen Selbstinteresses gegenüberstehen. Und nur dann kann der interne Konsequentialismus der ethischen Selbstsorge siegreich sein, wenn der ethische Gerechtigkeitsgewinn letztlich den optimalen Ungerechtigkeitsertrag überwiegt und sich das Gerechtsein selbst gegenüber optimal profitablem Ungerechtsein als die vorteilhaftere Strategie erweist. Glaukon hat mit dieser Parabel für Sokrates die Latte also sehr hoch gelegt. Denn Sokrates muß mehr tun, als den normalen Menschen davon zu überzeugen, daß Gerechtigkeit in seinen alltäglichen Belangen allemal den besseren Weg darstellt; er muß Gyges den Ring aus der Hand reden. Das kann aber nur dann gelingen, wenn interner Konsequentialismus und externer Konsequentialismus agathologisch kommensurabel sind; wenn sie ihre unterschiedlichen Ertragsanalysen ineinander konvertieren können. Wenn rationales Selbstinteresse und ethische Selbstsorge zwei unterschiedliche Sprachen sprechen, wird kein Vergleich möglich sein; wenn keine übergeordnete Rationalität existiert, die die Belange des rationalen Selbstinteresses und der ethischen Selbstsorge gegeneinander abwägen kann, wird kein Philosoph es je vermögen, Gyges den Ring aus der Hand zu reden. Wenn rationales Selbstinteresse und ethische Selbstsorge unterschiedliche und nicht ineinander übersetzbare Wichtigkeitsvorstellungen und Wertigkeitsskalen besitzen, haben wir zwei gegeneinander abgeschottete Diskurse; dann gibt es nur grundlose, dezisionistische Übergänge zwischen ihnen. Dann kann Gyges nur aufgrund eines Bekehrungserlebnisses, nicht jedoch infolge eines philosophischen Lehrvortrags seinen Ring aus der Hand legen. Wir benötigen also eine integrale Vernunft, die die Belange des Selbstinteresses und der Selbstsorge aneinander zu messen versteht; und wir benötigen eine einheitliche, die rationalen und ethischen Separatwertungen homogenisierende eudämonistische Währung, die nichts Geringeres zu leisten hat, als die rationale bonum maximum-Orientierung und die ethische summum bonum-Orientierung vergleichbar und gegeneinander aufrechenbar zu machen. Und wenn es in der platonischen Philosophie einen Kandidaten für diese integrierende teleologische Perspektive gibt, dann ist es die praxiserschließende Idee des Guten.

Diese Überlegung zeigt auch, daß sich Sokrates’ Antwort nicht mit dem weltverachtenden Radikalismus zufriedengeben darf, den einige Stoizismus-Fraktionen pflegen. Nur dann kann die communis opinio über den guten lebenspraktischen Sinn strategischer Anpassung, über die Vorzugswürdigkeit einer im rationalen Selbstinteresse verankerten Gerechtigkeitsordnung sich als widerlegt betrachten, wenn sie die ihr offerierten neuen Bewertungs- und Gewichtungsperspektiven mit ihren Beurteilungsroutinen vermitteln kann, wenn die Nützlichkeit, die sowohl die Gerechtigkeit der ethischen Selbstsorge als auch die Gerechtigkeit des rationalen Selbstinteresses für sich in Anspruch nimmt, in einem semantisch homogenen Verständnis des Guten und Nützlichen verankert ist. Wir werden sehen, wie der Lehrvortrag des Sokrates sich im Lichte dieser Überlegenheit ausnehmen wird, und zu prüfen haben, ob das von ihm ausgebreitete Verständnis über den Nutzen der Gerechtigkeit eine zufriedenstellende Antwort auf das angeschnittene Widerlegungsproblem gegeben und das spannungsvolle Verhältnis zwischen der Gerechtigkeit der ethischen Selbstsorge und der Gerechtigkeit des rationalen Selbstinteresses einer Klärung zugeführt hat.

Freilich werden wir auf diese Prüfung lange warten müssen; denn erst gegen Ende des Lehrvortrags, im neunten und im zehnten Buch, nimmt Platon das Thema der Ouvertüre wieder auf und antwortet auf die Fragen, die in den Gesprächen mit Polemarchos, Thrasymachos, Glaukon und Adeimantos aufgeworfen wurden. Erst gegen Ende der Politeia kehrt der Gedanke zur wichtigsten aller Fragen zurück, zur Frage nach der richtigen Führung des eigenen Lebens, um sich an einer abschließenden Klärung des Verhältnisses zwischen gelingendem individuellen Leben, Gerechtigkeit, Glück und Erfolg im Diesseits wie im Jenseits zu versuchen. Zwischen beiden, zwischen dem individualethischen Prolog und dem individualethischen Epilog redet Sokrates ausschließlich über die Gerechtigkeit im Staat7, in der Polis, im Gemeinwesen. Denn um der Herausforderung von Glaukon und Adeimantos angemessen begegnen zu können, läßt Sokrates erst einmal den tugendethischen Diskurs fallen und schlägt einen Umweg ein, einen Umweg, der die individualethische Erörterung von dem Wert eines gerechten Lebens unterbricht und ein umfangreiches politisches Zwischenspiel einschaltet.

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