Читать книгу Maria Magdalena von Friedrich Hebbel: Reclam Lektüreschlüssel XL - Wolfgang Keul - Страница 10
Meister Anton
ОглавлениеMeister Anton blickt mit seinen 60 Jahren (III,8; S. 90) auf ein langes Berufsleben als redlicher Tischler zurück, der in der Stadt hohes Ansehen genießt (I,7; S. 58). Früh Halbwaise geworden, haben ihn die Erfahrungen seiner Kindheit – Armut, Schwäche, Hilflosigkeit, Existenzangst – nachhaltig geprägt. Aus seiner Sicht kann er gegen eine als Bedrohung empfundene Umwelt nur bestehen, indem er sich gegen Anfeindungen wappnet. Schlüsselmetaphern sind sein »steinernes Herz« (II,1; S. 62) sowie die Stacheln eines Igels, die er sich zur Abwehrhaltung nach außenAbwehr gegen außen zugelegt hat (I,5; S. 52).
Antons Inneres ist Selbstschutz und Lebenskampfverletzlich; seinen »Tränenbrunnen« habe er zwar »verstopft«, er bekomme aber immer wieder »einen Riss« (I,5; S. 53). Darin argwöhnt er eine Schwäche, so dass er sich zum Selbstschutz mit einem Panzer versieht. Denn das Leben empfindet er als Kampf, als einen »Mühlstein«, den er am Hals trägt (I,5; S. 50). Seinen Broterwerb besorgt er »mit schwerer Mühe im Schweiß seines Angesichts« (I,6; S. 57) – genau wie Adam nach der Vertreibung aus dem Paradies (Altes Testament, 1. Mose 3,19).
Eigentlich zeichnet sich Antons Wesen durch Moralische PflichtMitmenschlichkeit und Hilfsbereitschaft aus; von Natur aus ist er ein rechtschaffener, grundanständiger Mensch. Als Junge nahm ihn der Tischlermeister Gebhard unentgeltlich in die Lehre und ermöglichte ihm den sozialen Aufstieg zu bescheidenem Wohlstand. Ihm fühlt er sich zeitlebens zu Dankbarkeit verpflichtet; als Gebhard in Schulden gerät, hilft er ihm mit einem Darlehen aus, das er bis zu dessen Tod nie zurückfordert (I,5; S. 52–54) – auch wenn seine Tochter nun ohne Mitgift dasteht. Kapitalistisches Gewinnstreben ist ihm im Gegensatz zu Leonhard fremd; er kann seine innere Ruhe nur finden, wenn er seine moralischen Verpflichtungen erfüllt hat.
Scheinbar festen Halt findet »Meister« Anton in den Ehrbarkeit der ZunftEhrbarkeitsregeln des Zunfthandwerks, nach denen er seine ethischen Vorstellungen ausrichtet. Als zentrale Wertbegriffe sieht er seine untadelige Rechtschaffenheit in Beruf und Lebensführung sowie sein Ansehen in den Augen der Mitbürger an, das er durch Arbeit, Fleiß und eine gottesfürchtige Lebensführung zu erzielen hofft. Geradezu zwanghaft klammert er sich an diese Leitbilder. Obwohl im Dramentext nicht explizit angesprochen, spielt hier die ökonomische Bedrohung des traditionellen zünftigen Handwerks durch die um sich greifende Gewerbefreiheit eine wichtige Rolle;4 tief im Inneren ist Anton sich bewusst, verzweifelt und wohl auch vergeblich eine Stütze in unwiederbringlich Vergangenem zu suchen.
In dieser althergebrachten Welt sucht Anton Schutz und Sicherheit. Es ist ein Symbol für seine Abschottung von der Welt, dass er sich beruflich auf Särge spezialisiert hat; denjenigen seiner Frau nagelt er eigenhändig zu (II,1; S. 61). Und in seinem Kummer sucht er Zuflucht im abgeschiedenen Gebirge (II,1; S. 66).
Doch er unterliegt einem Trugschluss. Die schützenden Mauern seines Hauses sind durchlässig; die Außenwelt, die er nicht kontrollieren kann, findet Zugang – sei es durch seinen Sohn Karl, der die ehrbaren Prinzipien des Vaters verwirft, oder durch den windigen Galan seiner Tochter. Problematisch ist Antons fremdgeprägtes Ehrverständnis; er fühlt sich abhängig von seinem guten Abhängigkeit vom öffentlichen AnsehenRuf. Hier mag eine tief sitzende Unsicherheit zutage treten, da er die Bestätigung durch seine Mitwelt für unabdingbar hält. Ihm mangelt es an Souveränität, darüber hinwegzusehen, wenn sich ein Ganove wie der Pocken-Fritz bei ihm anbiedern will (II,1; S. 64).
Übertriebene Fröhlichkeit und Lebensbejahung sind für Anton Zeichen potenzieller Sündhaftigkeit: »Aber ein Handwerksmann kann nicht ärger freveln, als wenn er seinen sauer verdienten Lohn aufs Spiel setzt« (I,6; S. 57). Darin folgt Anton einem Protestantische Pflichterfüllung statt Vergnügenfreudlosen Protestantismus in der Tradition des französischen Reformators Jean Calvin (1509–1564). Dieser sah den Sinn des Lebens allein in Arbeit und Pflichterfüllung, durch welche der Christ mit seinem Nächsten verbunden sei und ihm diene.
Nach Karls Verhaftung offenbart Anton einen Grundzug seines Wesens, der bereits bei der Hausdurchsuchung (»Schließt auf! […] Ein Beil her!« – I,7; S. 58) oder bei Leonhards ablehnendem Brief an Klara (»Bravo, Lump!« – I,7; S. 59) zutage tritt: seinen SarkasmusSarkasmus. Statt sich zu verkriechen, sucht er ein masochistisches Bad in der Menge: »Wir wollen Spießruten laufen, straßauf, straßab!« (I,7; S. 60).
Konsequenz aus dem Bewusstsein seiner Angreifbarkeit ist seine allzu starrsinnige Fixiertheit auf Anschauungen, die aus der Zeit gefallen sind; die bürgerliche Moral, im 18. Jahrhundert (auch im bürgerlichen Trauerspiel) Richtschnur für beispielhafte Lebensführung, ist in unerbittlichen Gesinnungszwang umgeschlagen. In seinem Haus herrscht Anton als übermächtiger Patriarch der FamiliePatriarch – fast könnte man sagen: gottähnlich –, doch ohne die neutestamentliche Gnade oder Vergebung. Dominant und autoritär, wie er ist, duldet er weder Widerspruch noch Abweichungen. Seine Familie wird unter seiner Knute gebeutelt, in erster Linie die Kinder, die gemäß dem vierten Gebot Vater und Mutter zu ehren haben. Für Klara wiegt der Selbst- und Kindsmord aus diesem Grund weniger schwer als der indirekte Mord am Vater.
Antons restriktive Haltung gegenüber seinen Kindern bedeutet: Erfüllen sie seine Erwartungen nicht, wird ihnen die Vaterliebe entzogen. Kritisches Verhältnis zu KarlKarl, der sein Leben nicht an überkommenen Vorstellungen orientiert, bereitet ihm Verdruss; in seinen Augen untergräbt er Antons Wertvorstellungen. Er unterstellt Karl charakterliche Defizite, und so besteht für ihn nicht der geringste Zweifel an dessen Schuld, als er eines Diebstahls bezichtigt wird (I,7; S. 59).
Einen erheblichen Teil seiner Reputation bezieht Anton aus der moralischen Untadeligkeit seiner Hohe Erwartungen an KlaraTochter, die auf ihn zurückwirkt – so sein unverrückbares Dogma. Daher wacht er argwöhnisch über ihren Lebenswandel. Ihre vermutete Reinheit dient ihm sogar dazu, sich von Karls vermeintlicher Schuld reinzuwaschen: »dann wird man sprechen: an den Eltern hat’s nicht gelegen, dass der Bube abseits ging, denn die Tochter wandelt den rechten Weg« (II,1; S. 64).
Als in ihm ein böser Verdacht über Klaras Schwangerschaft aufkeimt, will er nicht wahrhaben, dass auch sein zweites Kind auf die schiefe Bahn geraten ist. Klara hat ihm einen vielsagenden, eigentlich unmissverständlichen Fingerzeig gegeben:
»MEISTER ANTON. […] Er [Leonhard] sagt sich von dir los! […] Lass ihn!«
KLARA. Vater, Vater, ich kann nicht!« (I,7; S. 59)
Wenn sie ein Kind zur Welt brächte, wäre die Tugendhaftigkeit seiner Familie ad absurdum geführt. Daher flüchtet er sich vor der bitteren Wahrheit – auch sprachlich. Das zeigt sich in der Verwendung von Sprachliche Flucht: AposiopesenAposiopesen: Er lässt seine Sätze abbrechen, bevor die wesentliche Information ausgedrückt ist: »Wer weiß, ob die Tochter nicht – […]. Bist du – […] und du – du –« (I,7; S. 58; S. 59). Anton scheut davor zurück, das Fürchterliche in Worte zu fassen. Denn Zweifel hegt er keine: »Dein Bruder ist der schlechteste Sohn, werde du die beste Tochter!« (II,1; S. 63). Und: »Werde du ein Weib, wie deine Mutter war« (II,1; S. 63 f.) – er sagt »werde«, nicht etwa »sei«! Freilich: Wie Klara die Wiederherstellung ihrer Reinheit bewerkstelligen soll, lässt er offen.
Antons Ambivalentes VerhaltenVerhalten ist ambivalent. Obwohl oder auch gerade weil er sich das Undenkbare vorstellen kann, nötigt er Klara mit brachialer seelischer Gewalt, an der Leiche der Mutter – makabre Szene! – ihre Unschuld zu beschwören (I,7; S. 60); ein weiterer Skandal um seine Familie, so droht er, werde ihn umbringen (II,1; S. 64). Allerdings überhört er, dass Klara den Schwur umformuliert und damit entschärft (I,7; S. 60); er betrügt sich selbst, um der Wahrheit nicht ins Auge blicken zu müssen. Als der sterbende Sekretär ihn anfleht, die leidgeprüfte Tochter nicht zu verstoßen, wird Anton das Undenkbare, dessen er bereits sicher war, bestätigt, und er wiederholt seinen Schwur (III,11; S. 94). Doch man muss bezweifeln, ob er sein Vorhaben verwirklicht.
Meister Anton erweist sich als Einerseits: ignoranter Kleinbürgerpedantischer, bornierter Kleinbürger, der an konventionellen ethischen Überzeugungen festhält. Er verlangt, dass sich seine Mitmenschen bedingungslos seinen Vorstellungen beugen; Verständnis für andere und Toleranz sind ihm fremd. Die bürgerliche Tugend, ehemals beispielhaft im Kontrast zum Adel, ist zu hartherziger Selbstgerechtigkeit erstarrt. Anton nimmt den Tod seiner Tochter billigend in Kauf (III,11; S. 94), wenn nur sein Renommee fleckenrein bleibt. Als Klaras Selbstmord erwiesen ist, ergeht er sich in Selbstmitleid: »Sie hat mir nichts erspart […]! Ich verstehe die Welt nicht mehr!« (III,11, S. 95). Anton realisiert, dass seine bürgerliche Moral einem Zersetzungsprozess unterliegt.
Andererseits beweist Anton – je nach Lage der Dinge – auch Charakterzüge, die von Andererseits: menschliche Größemenschlicher Größe zeugen: Aufrichtigkeit, Verlässlichkeit, Mitgefühl und Dankbarkeit. Dies zeigt sich in seiner Beziehung zu seinem ehemaligen Lehrmeister Gebhard.
So ist Antons Wesen als Antons Wesen: zwiespältigzwiespältig zu beurteilen. Zwar wollte der Autor Hebbel ihn offenbar rein positiv verstanden wissen, wie seine Briefe an Elise Lensing bezeugen: »ein prächtiger Kerl« (15. März 1843), »ein Held im Kamisol [Strickweste]« (26. März 1843), »ein Riese« (5. Dezember 1843).5 Doch diese eindimensionale Sicht des Autors wird der Komplexität der Figur nicht gerecht.