Читать книгу Maria Magdalena von Friedrich Hebbel: Reclam Lektüreschlüssel XL - Wolfgang Keul - Страница 4
1. Schnelleinstieg
Оглавление»Ich verstehe die Welt nicht mehr!« (III,11; S. 95) – mit diesem Satz schließt das Drama; Meister Anton bleibt allein zurück – verstört, seelisch Trümmer einer Existenzzerbrochen, mit seiner Weltanschauung in tiefem Zwiespalt. In diesem berühmten Schlusswort ist das zentrale Thema des Dramas gebündelt.
Was ist geschehen? Meister Anton, ein rechtschaffener Bürger, allseits geschätzt in seinem Metier als Tischler, ehrbarer Familienvater und geachtetes Mitglied der städtischen Gesellschaft, erlebt binnen einer Woche den Zusammenbruch all seiner Überzeugungen, die sein festgefügtes Weltbild ausmachten. Die bürgerlichen Moralvorstellungen von Sitte und Tugend, die für ihn unverrückbare Gültigkeit besaßen, scheinen in Auflösung bürgerlicher TugendvorstellungenAuflösung begriffen. Sein Sohn Karl wird eines Diebstahls bezichtigt. Die Tochter Klara ist schwanger; der Erzeuger des Kindes verweigert die Heirat, die den Fehltritt vor der Öffentlichkeit kaschieren würde, und sie begeht Selbstmord. Die Bloßstellung der Familie ist unausweichlich.
Man könnte meinen, dass eine derartige Problematik in der heutigen Zeit hoffnungslos Problematik: Veraltet oder aktuell?veraltet ist. Wer nimmt heutzutage noch an einer unehelichen Schwangerschaft Anstoß? Und dennoch erfreut sich das Stück auf deutschsprachigen Bühnen nach wie vor ungebrochener Beliebtheit. Dafür muss es Gründe geben.
Über Klara äußerte sich Hebbel 1839 in einem Tagebucheintrag: »Durch Dulden Tun: Idee des Weibes.«1 Und in einem Brief an seine damalige Lebensgefährtin Elise Lensing2 bekannte er am 26. März 1843, er sei erschüttert, »wie sie [Klara] aus der Welt herausgedrängt wird«.3 Die Frau als passives Objekt widriger gesellschaftlicher Umstände, der kein selbstbestimmtes Leben zugestanden wird – diese Sichtweise lässt jede nur halbwegs Weibliche Emanzipation?emanzipierte Frau unserer Tage befremdet die Stirn runzeln. Der brisante Kontrast zwischen den unterschiedlichen Geisteshaltungen des 19. und 21. Jahrhunderts verleitet dazu, die Stellung der modernen Frau vor der historischen Folie kritisch zu reflektieren.
Meister Anton wird in der Sekundärliteratur durchgängig als ein Mensch gedeutet, der engstirnig an überholten Tradition und ErneuerungTraditionen festhält, so dass er an der gesellschaftlichen Fortentwicklung, wie sie unvermeidlich ist, zerbricht. Das Defizit in seinem Wesen bestehe somit in seiner Unfähigkeit bzw. Unwilligkeit zu flexibler Wandlung und Anpassung.
Fraglos kann eine derartige Einstellung auf viele Menschen in heutiger Zeit übertragen werden. Der dynamische Gesellschaftlicher Wandel heuteWandel gesellschaftlicher Anschauungen, der neue Normen definiert, raubt dem Althergebrachten seine Gültigkeit; folglich büßen viele Menschen den Halt und die Sicherheit ein, den die Geborgenheit des Althergebrachten seither vermittelte.
In unserer Gesellschaft herrscht Konsens darüber, dass Innovationen weitgehend per se positiv betrachtet werden. Was aber, wenn das nicht ohne Weiteres zutrifft? Wie ist das mit der Gentechnik, mit dem Datenschutz im Internet, mit sozialen Netzwerken und Mobbing?
Auch gegenwärtig erkennt man Entwicklungen zuhauf, die in manchen Menschen Verunsicherung und Orientierungslosigkeit erzeugen, weil bisher allseits anerkannte Normen ihre Gültigkeit verlieren: sei es die Lockerung des Familienverbandes, mit der ein Verlust an Geborgenheit und Zuwendung einhergeht; sei es die Öffentlichkeit persönlicher Daten in sozialen Netzwerken, die Reduzierung von Face-to-face-Kontakten infolge der Internetnutzung, die vertraute Gewohnheiten infrage stellen.
Im angelsächsischen Raum wird derlei Unbehagen als ›German angst‹ milde belächelt. Doch sollte man das Problem nicht leichtfertig bespötteln, da es sich um ein weit verbreitetes Phänomen handelt. Die allgemeine Verunsicherung und Orientierungslosigkeit führen vielfach zu einem Festklammern an Althergebrachtem und Gewohntem, weil man anderweitig keinen Halt mehr zu finden glaubt.
Trotzdem muss das Mitgefühl für Meister Anton in einer zentralen Hinsicht infrage gestellt werden. Wie er die Vorgaben bürgerlicher Tugendprinzipien verabsolutiert, ist äußerst zweifelhaft, ja inakzeptabel: Moralische Makellosigkeit sowie das untadelige Bild seiner Familie in der Öffentlichkeit dulden für ihn keine Trübungen, gleich welcher Art. Als Klaras Freitod zunächst als Unfall erscheint, entfährt ihm Verstörendes: »[S]o ist alles gut« (III,11; S. 94). Man traut seinen Ohren nicht: Wenn nur der Schein der Reputation gewahrt bleibt, wird der Tod der Tochter billigend in Kauf genommen. Moralische Leitbilder und FanatismusMoralischer Rigorismus schlägt um in Eiferei.
Wie ist eine sittliche Richtschnur zu bewerten, wenn sie derlei Fanatismus hervorzubringen vermag? – Können von hier aus Parallelen zu den gegenwärtigen Exzessen des Islamismus gezogen werden, der sich zur Rechtfertigung terroristischer Gewalt auf seine Religion beruft?
Maria Magdalena – nur verstaubte Literaturgeschichte?