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„Postsowjetische Identität“

Eine Einführung

zur Logik des Identitätsbegriffes

Wolfgang Krieger

Die Rede von einer „postsowjetischen Identität“ ist voraussetzungsvoll. Sowohl der Begriff des „Postsowjetischen“ als auch der Begriff der „Identität“ enthalten Implikationen, die klare, einheitliche und feststehende Merkmale suggerieren. Der Begriff der „postsowjetischen Identität“ suggeriert, dass es auf der Basis des gemeinsamen Schicksals der Beendigung des Sowjetreiches eine alle betroffenen Nationen und Ethnien gemeinsame neue kollektive Identität gäbe. Der Begriff des „Postsowjetischen“ postuliert ferner eine Abgeschlossenheit der sowjetischen Epoche, der sowjetischen Kultur, des sowjetischen Lebensgefühls etc., die unhinterfragt vorauszusetzen sicherlich höchst oberflächlich wäre.

Hingegen ist die Feststellung sicher richtig, dass in allen betroffenen Ländern durch diese Veränderung ein Orientierungsverlust eingetreten ist, eine Krise des kollektiven Selbstbildes, eine Krise der Werte und der Lebensentwürfe, die neue Antworten auf die Frage nach einer eigenen sinnorientierten Identität unter veränderten sozialen, wirtschaftlichen und kulturellen Verhältnissen notwendig machte. Denn der Prozess der sogenannten „postsowjetischen Transformation hat nicht nur wirtschaftliche und politische Dimensionen, er hat auch eine Dimension der gesellschaftlichen Sinnschöpfung und des Wertebewusstseins einerseits wie auch der individuellen Neuorientierung an Lebensidealen und -plänen andererseits. Beides steht miteinander in engem Zusammenhang.

Die Anforderungen an die Transformation lassen sich zunächst in vier Hauptveränderungen kategorisieren: In der Schaffung eines neuen Staatswesens anstelle der sowjetischen Überstaates in einer Situation nahezu anomischer Instabilität, in der Ersetzung der Planwirtschaft durch eine liberale kapitalistische Marktwirtschaft, in der zumindest formalen Ablösung eines autoritären Einparteiensystems durch ein demokratisches Mehrparteiensystem und schließlich in der Umwandlung einer klassenlosen kommunistischen Gesellschaft in eine schichtendifferenzierte kapitalistische Gesellschaft. Mit diesen Veränderungen hängen weitere zusammen, etwa in der Entstehung von neuen Risiken der Lebenssicherung, von Wettbewerb und Konkurrenzverhältnissen, von staatlicher Versorgung zu freien Dienstleistungs-beanspruchung, vom autoritären Geführtwerden zu partizipativem Handeln etc. All diese Veränderungen sind nicht nur von gesellschaftlicher Bedeutung, sondern sie stellen auch individuell neue Anforderungen an die Konstitution der Persönlichkeit, die sich mit diesen neuen Verhältnissen erfolgreich zu arrangieren hat und das eigene Vorankommen wie auch den gesellschaftlichen Fortschritt nun mit anderen Mitteln zu unterstützen gefordert ist.

Es ist eine historische Binsenweisheit, dass kulturelle Orientierungen ebenso wie soziale Institutionen oder auch schlicht das materielle Lebensumfeld der Menschen nicht von jetzt auf nachher und auch nicht in wenigen Jahren, eher Jahrzehnten gänzlich aufgelöst und durch Alternativen ersetzt werden können. Alles, was Menschen schaffen, beruht auf der (Weiter)verarbeitung dessen, was ihnen zu Händen ist und was sie schon kennen. Niemand kann seine Geschichte einfach abstreifen wie einen Mantel und einen neuen Mantel anziehen, sondern er kann nur in kleinen Schritten restaurieren und ersetzen, was nicht mehr „haltbar” ist. Auch zu Beginn einer neuen Epoche fällt nichts vom Himmel, sondern alles muss neu erworben und erkämpft werden, muss etabliert und stabilisiert werden. Und selbst dort, wo es gelingen mag, das Vorige in sein Gegenteil zu verkehren, bleibt die Gegenwart geleitet von einer vorbestimmten Richtung des Kontrastierens, die sich wiederum dem Vorigen verdankt und dem, was an ihm als änderungsbedürftig galt. Es gibt nichts Neues, dessen Substanz und Ursache nicht letztlich das Alte ist.

1. Das Postsowjetische als Identitätsträger

Ob es noch sinnvoll ist, den Begriff des „Postsowjetischen“ überhaupt zu benutzen, wird schon seit der Jahrtausendwende verschiedentlich in Frage gestellt. So wird beispielsweise der Begriff des „postsowjetischen Raums“ schon länger kritisiert, da die geopolitische Einheitlichkeit des ehemals sowjetischen Raumes sich in den so zusammengefassten Ländern nicht mehr feststellen lässt.1 Hier wird freilich postuliert, dass die sowjetische Einheitskonstruktion sich in der gegenwärtigen Lage dieser Länder immer noch, wenn auch in gewandelter Form, „postsowjetisch“ fortsetzen würde. Das ist sicherlich angesichts der so unterschiedlichen Entwicklungen in den Ländern nicht mehr zutreffend. Sinnvoll ist der Begriff des „Postsowjetischen“ aber sicherlich noch dann, wenn man ihn nicht aus der Gegenwart, sondern aus der Vergangenheit heraus begründet und zur Bezeichnung jener Länder und Kulturen verwendet, die ehemals der Sowjetunion angehörten, auch wenn man vom „Postsowjetischen“ heute nur noch im Plural sprechen kann. Alle so bezeichneten Länder haben dennoch eine vereinigende Geschichte des „gemeinsamen Schicksals“ und haben bis zum heutigen Tage auf den verschiedensten Ebenen das „Erbe“ der Sowjetunion zu bewältigen.

Wenn also von einer „postsowjetischen Epoche” die Rede ist, so ist zunächst einmal nicht mehr behauptet, als dass eine vorige Epoche – mit bestimmten Strukturen und Eigenheiten – beendet worden ist und – wie könnte es anders sein – auf ihren Trümmern wohl eine neue Epoche im Begriff ist errichtet zu werden. Doch ist ein solches Bild verfänglich: Aus heutiger Sicht mögen für viele die Überbleibsel der Sowjetzeit nur wie Ruinen erscheinen, wie die Säulen, Tempel und Sarkophage des Forum Romanum, die sich Touristen im Bewusstsein historischer Distanziertheit als Relikte einer vergangenen Epoche betrachten. Sehr anders verhält es sich mit den Ruinen der Sowjetzeit: In den postsowjetischen Ländern leben die Menschen in den sowjetischen Ruinen und das Maß an historischer Distanz ist den pragmatischen Zwängen entsprechend wohl eher gering.2 Das Erbe der Sowjetzeit ist „in Gebrauch”, im selbstverständlichen und daher oft auch unhinterfragten Gebrauch. Es mag Forscher*innen möglicherweise leicht fallen, die Merkmale der vergangenen Epoche zu beschreiben, denn über Jahrzehnte hinweg konnten sie beobachtet werden, konnten ihre Strukturen und Eigenheiten wahrgenommen, mit Begriffen erfasst, analysiert und in Kontroversen diskutiert werden3 – doch, was danach kommt, ist erst einmal ein unbeschriebenes Blatt, ein Vakuum des Wissens und der Erklärungen, des Verstehens, der Vertrautheiten und der sicheren Einschätzung und es bleibt schwer zu begründen, welche Sprache der Beschreibung des Neuen und Veränderten angemessen wäre.

In einer solchen Phase der Ungewissheiten nach etwas zu suchen, das mit sich selbst identisch ist, nach einer Identität, ist im Grunde ein Paradox. Identisch im Sinne eines Bleibenden, einer Konstante, ist allenfalls der Zustand der Ungewissheit selbst. Dieser macht sich bemerkbar in immer wiederkehrenden Verlegenheiten, in der erlebten Konfrontation mit dem Uneinschätzbaren und im Ausbleiben zuverlässiger Lösungen für die anstehenden Probleme. Wenn darüber hinaus etwas gefunden werden soll, das sich zu einer festen Struktur etabliert hat, dann kann dies nur möglich sein im kontrastierenden Rückblick, also nach einer gewissen Zeitspanne seit der Beendigung der vorigen Epoche und nach aufmerksamer Beobachtung der Entstehungsprozesse neuer Strukturen. Diese Beobachtung selbst muss möglicherweise auch neu gelernt werden, will sie nicht voreingenommen durch die Sichtweisen der Vergangenheit nur darauf ausgerichtet sein, im Neuen das Alte wieder zu erkennen. Daher kann eine neue Epoche auch dann erst „gesehen” werden, wenn sie mit neuen Augen gesehen wird.

So stellt der Auftrag, die für dieses Buch programmatische Ausgangsfrage nach der Existenz und Eigenart einer „postsowjetischen Identität” und den ihr zugrunde liegenden kulturellen Wertorientierungen zu beantworten, möglicherweise angesichts der tatsächlichen kulturhistorischen Realität eine überfordende Aufgabe dar. Mithin kann ein anderer Auftrag möglich sein zu bearbeiten, nämlich, den Stand der gesellschaftlichen Bewältigung einer Aufgabe zu dokumentieren, als die sich die Gewinnung einer neuen Identität nach dem Ende der sowjetischen Identität darstellt. Auch diese Aufgabe impliziert wiederum eine Ausgangsvoraussetzung, die zuerst zu konkretisieren wäre, bevor man sich der Aufgabe selbst zuwenden könnte. Vorausgesetzt wird, dass sich überhaupt eine „sowjetische Identität” konstruieren lässt, die ihre Plausibilität aus der Beobachtung der vergangenen gesellschaftlichen Realitäten in den Sowjetstaaten herzuleiten vermag. Dies geschieht in diesem Buch an vielen Stellen, an welchen neue Phänomene im Kontrast zur Vergangenheit dargestellt werden und die Suche nach neuen Lösungen der gesellschaftlichen Probleme in ihrer Gegensätzlichkeit zu alten Modalitäten artikuliert wird. Auch wenn die Beschreibung einer „sowjetischen Identität” hier nicht systematisch verfolgt warden kann, so klingt doch vielerorts an, was für sie konstitutiv war und im Prozess der Transformation verloren ging.4

2. Zur Logik des Identitätsbegriffes

Die Rede von Identität hat Voraussetzungen in vielerlei Hinsicht und zweifellos ist die wichtigste Voraussetzung eine logische, ohne welche der Begriff der Identität in jedem Falle keinen Sinn haben könnte, nämlich die Voraussetzung, dass eine Sache oder eine Person mit sich selbst identisch sein kann, ohne dass diese Aussage nur den banalen Inhalt hat, dass man etwas zweimal mit demselben Begriff bezeichnen kann. Zumeist wird das Mit-sich-selbst-identisch-Sein auf den zeitlichen Aspekt bezogen: Identität behauptet die Stabilität von Merkmalen über die Zeit hinweg. Wir erklären sie uns gern durch Essentialisierung, durch einen „harten Kern” des Ich, durch „unsere Natur”, unseren Charakter. „When people talk about identity,” schreibt Suny, „however, their language almost always is about unity and internal harmonyand tends to naturalize wholeness. It defaults to an earlier understanding of identity as the stable core. Almost unavoidably, particularly when one is unselfconscious about identity, identity-talk tends to ascribe behaviors to given characteristics in a simple, unmediated transference. One does this because one is that.”5

Die Rede von Identität hat logisch nur einen Sinn, wenn eine Differenz vorausgesetzt wird, durch die zwei zu beobachtende Phänomene verglichen werden und sodann doch als dasselbe in gewisser Hinsicht erkannt werden können. Hierfür seien sechs Varianten aufgeführt:6 sei es eine Differenz in der Zeit (etwas bleibt dasselbe oder kehrt wieder in einen Zustand zurück, den es schon einmal innehatte), sei es eine Differenz im Raum (etwas bleibt dasselbe, unabhängig von den Räumen und Situationen, in denen es auftaucht) sei es eine Differenz der Erscheinung auf unterschiedlichen phänomenalen Ebenen, in welchen doch ein Gemeinsames enthalten ist, sei es eine Differenz der Entitäten, die doch durch eine gemeinsame Geschichte vergleichbar sind, sei es eine Differenz zwischen der Erscheinung einer Sache oder Person und ihrer Herkunft, deren Wirksamkeit als unauflösbar gilt, mithin ihre Identität ausmacht, sei es eine Differenz zwischen zwei Beobachtungen, die etwas Verschiedenes als dennoch die gleiche Sache erscheinen lassen, weil es ein gemeinsames Merkmal gibt.

Veranschaulichen wir diese sechs Varianten der Differenz und das ihnen zuzuordnende Identitätsverständnis jeweils an einem Beispiel.

1 Herr Ivanov ist immer noch derselbe, so cholerisch und jähzornig, wie er schon als Kind war (Identität durch zeitliche Kontinuität),

2 Herr Ivanov ist derselbe, egal ob er zuhause herumschreit oder bei der Arbeit (Identität durch Unveränderlichkeit im Raum),

3 In beidem, sowohl in seinen Entscheidungen wie auch in seinen Fragen kann man erkennen, dass Herr Ivanov sich immer vom Prinzip der Gleichberechtigung leiten lässt (Identität durch eine übergeordnete Konstante),

4 Herr Ivanov ist durch und durch ein Moskauer Fußballer, denn er hat fünfzehn Jahre bei Spartak Moskau gespielt und ist immer dem Verein treu geblieben (Identität durch gemeinsames Schicksal bzw. Integration),

5 Auch wenn Herr Ivanov fünfzehn Jahre bei Spartak gespielt hat, so bleibt er doch ein Ukrainer in seinem Wesen (Identität durch Abgrenzung einer inneren Wesenheit),

6 Ob sie nun lang und dünn ist oder kurz und dick, wenn sie oben eine Öffnung hat und unten einen Fuß und man sie mit Wasser füllen kann, ist es eine Vase (Identität durch gemeinsame Merkmale).

Alle sechs Varianten – es mag noch weitere geben – zeigen, dass die Zuschreibungen von Identität zuvor die Setzung einer Nicht-Identität benötigen, also eine Unterscheidung voraussetzen. Kurzum: Ohne Differenz keine Identität.

Diese Setzung einer Nicht-Identität ist die Voraussetzung für den Vergleich der beiden Phänomene. Sie sind vereint in einem Dritten, welches ohne die Schaffung einer Differenz die beiden Phänomene noch gar nicht zu erkennen geben könnte. In unserem Beispiel ist die Beobachtung von Herrn Ivanov jenes Dritte, in welchem zwei Phänomene, etwa Herr Ivanov heute und gestern, hervortreten, indem die Einführung einer Beobachtung von zeitlicher Differenz seine Einheit spaltet. Diese Beobachtung einer zeitlichen Differenz ist regelrecht eine Operation des Unterscheidens jenes Dritten in zwei einander gegenübergestellte Phänomene, nämlich Herr Ivanov heute und Herr Ivanov gestern. Die Gegenüberstellung schafft die Basis für die Möglichkeit des Vergleiches, sie schafft dem Vergleich die Objekte einer weiteren Beobachtung, die nun ihrerseits weitere Unterscheidungen vollzieht.

Diese Betrachtung der Identität schließt an an die Logik des Unterscheidens von George Spencer-Brown in seinen „Gesetzen der Form”.7 Sie ist auch insofern für ein Konstrukt der „postsowjetischen Identität” bedenkenswert, als sie darauf hinweist, dass jede Operation des Unterscheidens und damit des Beobachtens auch einen „unmarked space”, einen Raum des Nichtbeobachteten hinterlässt, d. h., indem sie etwas Bestimmtes beobachtet, gerade anderes von der Beobachtung ausschließt. Jeder Unterscheidung, die vollzogen wird, geht eine andere Unterscheidung voraus, in der entschieden wird, was beobachtet werden soll und was nicht. Insofern ist jede Unterscheidung „voreingenommen”, „vorbelastet” durch eine nicht unbedingt bewusste Routine der Beobachtungsoperationen und einen nicht unbedingt reflektierten Beobachtungswillen.

Dieser Aspekt ist auch für die Suche nach identitätsrelevanten Parametern in Persönlichkeitsstrukturen, im sozialen Handeln, in sozialen Institutionalisierungs-prozessen und in kulturellen Ausdrucksformen in Rechnung zu stellen. Wer nach Identität sucht, bringt schon einen Fundus an Hypothesen mit über Faktoren, die er für den Fortbestand der Person, der Gesellschaft, der Kultur als wahrscheinlich unverzichtbar vermutet und die seine Suche daher immer schon in bestimmte Wege leiten. Die Begriffe, denen das Postulat von Identität zugesprochen wird (Persönlichkeit, Gesellschaft, Kultur) sind es nicht zuletzt auch selbst, die jene Voreingenommenheit schon konstituieren; denn sie rekurrieren auf relativ konstant bleibende Parameter, grenzen Systeme ab von anderen Systemen und verpflichten so schon zur Suche nach dem unveränderlichen Merkmal, das die Unterschiede ausmacht. „Identität” ist daher schon den Begriffen der Persönlichkeit, der Gesellschaft, der Kultur und vielen anderen Begriffen immanent, die in der Vielfalt der sich wandelnden Erscheinungen lebendiger Systeme das Stabile und Gleichbleibende auszeichnen.

Der Gebrauch des Begriffes Identität ist also auch hinsichtlich des Referenzobjektes vielfältig. Grundsätzlich kann man unterscheiden zwischen der Identität des Individuums und der Identität von Kollektiven (die auf Zuschreibungen des/der internen oder externer Beobachter*innen beruhen kann). Für den Begriff des „kollektiven Identität“ ist ferner zu unterscheiden, ob die Zuschreibungen dem Kollektiv selbst oder der Zugehörigkeit eines Indidivuums zu einem Kollektiv gelten. Für letztere gilt, dass das Individuum so viele kollektive Identitäten haben kann, wie es Mitglied von Kollektiven ist. Die kollektiven Identitäten des Individuums bilden zusammen mit der individuellen Identität seine „personale Identität“.8

Ein Beispiel: Von kollektiver Identität kann die Rede sein, wenn ein Kollektiv, etwa die Mitglieder einer bestimmten Ethnie, durch besondere Merkmale gekennzeichnet scheint. Beschrieben wird dann die „kollektive Identität“ dieses Kollektivs. Freilich gelten dann diese Merkmale auch für jedes Mitglied. Nun ist die „kollektive Identität“ Teil seiner „personalen Identität“ und bezeichnet eine Zugehörigkeit zum Kollektiv. Desweiteren aber enthält die „personale Identität“ auch die individuelle Identität im Sinne einer Vielzahl von Merkmalen, die in relativ einmaliger Kombination die Besonderheit des Individuums jenseits seiner kollektiven Identitäten beschreiben. Insofern Individuen mehreren Kollektiven zugehörig sind, kommen ihnen auch mehrere kollektive Identitäten zu,9 welche sie in ihrer „personalen Identität“ auf individuelle Weise gewichten und möglicherweise versuchen miteinander vereinbarlich oder für einander nützlich zu machen.

Die Konstruktionen kollektiver Identität lassen sich durch eine weitere Systematik hinsichtlich der wichtigsten Kriterien für die Zugehörigkeit unterscheiden. Sohst sieht ein historisches Entwicklungsmodell veschiedener Formen kollektiver Identität, die auf dem jeweils bestehenden Menschenbild der jeweiligen Epoche und den kulturell praktizierten Zuschreibungen von sozialen Zugehörigkeitsparametern beruhen. Für maßgeblich für die Art der Zugehörigkeitsattributionen hält er die zeitliche Orientierung der kollektiven Identität. Er unterscheidet eine „archaische Proto-Identität“, die etwa bis 40.000 Jahre vor Christus verbreitet gewesen sein dürfte und deren Zuschreibungen unabhängig von zeitlichen Differenzierungen erfolgt sind und sich auf die je aktuelle Zugehörigkeit zu einer Sippe oder Familie beschränkte, eine darauf folgende Abspaltung einer individuellen, wie sie etwa in der griechischen Antike in der „Erfindung des Individuums“ beobachtet werden kann, von einer „kollektiv-anzestral orientierten Identität“, für welche eine herkunfts- und damit vergangenheitsbezogene Orientierung kennzeichnend ist (etwa im Ahnenkult symbolisiert), sodann einer „präsentisch kollektiven und individuellen Identität“ ab etwa 1550, die die Zugehörigkeit durch gegenwartsbezogene Merkmale definiert, etwa durch die Nützlichkeit für die gegenwärtige Situation, wie sie der Utilitarismus des Hobbes’schen Rationalismus beispielweise beschwört, und schließlich einer „programmatisch zukunftsorientierten kollektiven wie auch individuellen Identität“, deren Zugehörigkeitsmerkmale auf der individuell gewollten Teilhabe an einem kollektiven Programm bzw. auf individuellen Zielen für einen zukünftig zu erreichenden Zustand beruht.10

Diese Typik bzw. „Entwicklungslogik“ der Identitätskonstruktionen lässt sich möglicherweise auch als analytisches Instrument zur Erklärung von Identitätsdifferenzen zwischen westlich-individualistischen Kulturen und östlich-kollekti-vistischen Kulturen heranziehen, da sie auf Merkmale rekurriert, die für die heutigen westeuropäischen Kulturen und die postsowjetischen Kulturen zumindest von sehr unterschiedlichem Gewicht sind, wenn nicht gar grundsätzlich differieren. So verweisen nationalistische und ethnizistische Identitätskonstruktionen stets in ihrem Kern auf den Typus einer „kollektiv-anzestral orientierten Identität“11, während Identitätskonstruktionen, die dem Gedanken einer individuellen Selbstverwirklichung und einer dem gesellschaftlichen Fortschritt dienlichen Lebensweise dem Typus einer „programmatisch zukunftsorientierten Identität“ zuzurechnen sind. Allerdings muss davon ausgegangen werden, dass die von Sohst mit dem Anspruch einer epochalen Begrenztheit erarbeiteten Typen in den heutigen pluralen Gesellschaften wohl überall in durchmischter Form anzutreffen sind und eben dies auch den Pluralismus der aktuellen Identitätskonstruktionen ausmacht.

3. Phänomenologie der personalen Identität

Der Gebrauch des Begriffes Identität im Blick auf den Menschen taucht auf zwei Ebenen auf, zum einen auf einer phänomenal empirischen Ebene, geleitet von der Frage, womit identifizieren sich bestimmte Menschen, was verstehen sie als ihre Persönlichkeit, als ihre Eigenart oder auch als ihre Rolle, welche Eigenschaften schreiben sie sich zu, welche Interessen und welches Ideal zeichnen sie von sich; zum zweiten auf einer interpretativ erklärenden Ebene, die quasi den Hintergrund bildet für die erstere, geleitet von der Frage, was steht hinter diesen Identifikationen, was macht sie wertvoll, was begründet sie, welche Werte existieren hinter diesen Identifikationen, warum sind sie überhaupt wichtig und welches allgemeine Bild vom Menschen, vom Sinn des Lebens und von der Gesellschaft und ihrer Kultur ist in ihnen enthalten.

Die Beobachtungen auf beiden Ebenen sind ferner zu unterscheiden nach der Frage, wer der Beobachter ist, das betreffende Subjekt selbst oder ein äußerer Beobachter (von welchem man freilich viele unterscheiden müsste). „Identität“ schreibt sich das Subjekt selbst zu, etwa in seinen Selbstkonzepten, aber „Identität“ schreiben ihm auch andere zu. Insofern lässt sich folgendes Schema erstellen:

Ebenen Selbstbeobachtung Fremdbeobachtung
Phänomenal empirisch Soziales Selbstkonzept Identifikationen mit… Rollenbewusstsein Wir-Gefühl Ideales Selbstkonzept, Selbstbewusstsein und Selbstwertschätzung Soziale Identität / Kollektive Identität Zugehörigkeit zu … Eingenommene Rollen Status und Image soziale Anerkennung Attribution von Orientierungen
Interpretativ erklärend Selbstverpflichtung Wertebewusstsein Menschenbild Lebenssinn Interessen und Werte vertreten Kulturelles Wissen/ Kulturelle Sinnhorizonte

Verschiedene humanwissenschaftliche Disziplinen beschäftigen sich mit diesen Fragen und zwar in der Regel mit beiden Ebenen zugleich, auch wenn sie ihr Augenmerk mit unterschiedlichem Gewicht und Interesse auf die beiden Ebenen richten. Theoriebildend für das Konstrukt „Identität“ ist vor allem einerseits die Soziologie, die Kulturologie und die Ethnologie engagiert und andererseits die Psychologie, daneben in bescheidenerem Maße auch die Politologie.12 In allgemeiner Hinsicht erörtern diese Fragen auch die Philosophie und alle Formen der Anthropologie, die vor allem für die interpretativ erklärende Ebene generelle Argumente beiträgt, insofern die Frage „wer ist der Mensch“ auch immer die Frage nach dem Potenzial des individuellen „Wer-bin-ich“ enthält. Es sollen hier in Blick auf dieses Thema nur zwei dieser disziplinären Sichtweisen herausgegriffen werden, nämlich die soziologische und die psychologische.13

Soziologie. Soziologisch interessiert am Phänomen der Identität vor allem die einheitsstiftende Wirkung identifikatorischer Konstrukte. Es wird zum Ersten postuliert, dass die Zugehörigkeit zu einer sozialen Gruppe, sei es einer Nation, sei es einer Berufsgruppe, einer Szene, sei es einer konkreten Familie, den Mitgliedern eine gemeinsame Spezifität verleiht und somit zu einem Symbol ihrer sozialen oder kollektiven Identität werden kann.14 Zum Zweiten untersucht die Soziologie, hier oft im Verein mit der Psychologie, die Frage, welche sozialisatorischen Einflüsse von sozialen Kohorten, sozialen Schichten und Teil- und Subkulturen auf die Ausbildung von subjektiven, sozial ausgerichteten Einstellungen und Haltungen bestehen und durch Identifikation identitätsbildend sind. Zum Dritten entwirft die Soziologie Zeitdiagnosen, die eine übergeordnete epochale Identität gesellschaftlicher Mitglieder in einer bestimmten Kultur annehmen lässt.15

Der Begriff „Identität“ taucht daher in Verbindung mit zahlreichen Etiketten auf wie in „nationaler Identität“, „ethnischer Identität“, „kollektiver Identität”, aber auch spezifizierender Weise etwa in „Lehreridentität“, aber auch „heterosexuelle Identität“, „avantgardistische Identität“, „moralische Identität“ und ferner auch „postmoderne Identität“ oder „traditionalistische Identität“ und vieles mehr. Auch der hier verwendete Begriff der „post-sowjetischen Identität“ benutzt eine Etikette, nämlich das Merkmal „des Post-Sowjetischen“, dem offenbar eine erklärende Qualität für die Besonderheit einer bestimmten beobachtbaren Identität zukommt. Es scheinen vor allem drei Kategorien geläufig zu sein, mittels derer Identitäten ausgezeichnet werden bzw. die man für bedeutsam genug hält, dass Menschen sich dadurch als mit sich selbst identisch wahrnehmen.

 Zugehörigkeit zu einer Gruppe. In diesem Sinne etwa versteht George Herbert Mead „soziale Identität“ als ein Konglomerat von sozialen, also rollengebundenen Teil-Identitäten, die ein Individuum einnimmt. Ihr stellt er die „personale Identität“ gegenüber als die einmalige Konstellation von individuellen Merkmalen einer Person und die biographisch einmalige Synthese von Rollenarrangements und Selbstkonzepten eines Individuums.16

 Fundamentale Orientierungen, Überzeugungen und Haltungen. Biologische und psychische Merkmale, die weitgehend kontinuierlich sind, mit welchen sich ein Individuum identifiziert und die in vielfacher Hinsicht für die eigene Lebensführung relevant werden zeigen zum einen dem jeweiligen Subjekt, zum anderen aber auch seinen externen Beobachtern an, „wofür jemand steht“.

 Epochale Homogenität. Insbesondere die Kultursoziologie erstellt immer wieder Zeitdiagnosen, die ein Konstrukt gesellschaftlicher Identität von hohem Allgemeinheitsgrad beinhaltet. Beispiele in Deutschland sind die Diagnosen einer „Risikogesellschaft“ von Ulrich Beck (1986), oder einer „Erlebnisgesellschaft“ von Gerhard Schulze (1992) oder auch der „beschleunigten Gesellschaft“ nach Fuchs, Iwer und Micali (2018), die ein „überfordertes Subjekt“ generiert.17 Ob der Begriff einer „post-sowjetischen Identität“, wenn er überhaupt sinnvoll ist, so verstanden werden kann, dass er eine epochal homogene Identität bezeichnet, wird zu prüfen sein.

Psychologie. Vor allem persönlichkeitspsychologische, entwicklungspsychologische und sozialpsychologische Zugänge haben sich mit dem Begriff der Identität befasst, zum einen in der Entwicklung des Konstruktes „Ich-Identität“ als der Summe von Selbstattributionen und -identifikationen eines Individuums, zum anderen in Hinsicht auf die entwicklungs- und lernpsychologischen Aspekte bei der Übernahme von Identifikationen und der Ausbildung von Selbstkonzepten. Einerseits spezifiziert sich also der psychologische Blick auf Phänomene des Bewusstseins einer Selbst-Identität, andererseits auf die Bedingungen zur Entwicklung dieses Bewusstseins in der Sozialisation und Erziehung junger Menschen.

Die psychologische Perspektive fokussiert vornehmlich die Fragen, in welcher Weise sich Menschen selbst „Identität“ zuschreiben und was dies für ihr Selbstverständnis bedeutet, wie die Selbstkonzepte und Idealkonzepte in der Entwicklung des Individuums entstehen18 und welche biographischen und sozialen Faktoren für die Selektion von Identitätsangeboten entscheidend sind. „Identität” wird also vor allem als Ergebnis einer Selbstsicht des Menschen verstanden, der bestimmte Dimensionen der Selbstreflexion zugrunde liegen. Für die Selbstzuschreibung von Identität ist wesentlich, dass es der Person gelingt, in diesen Dimensionen relativ konstante Selbstwahrnehmungen und relative konstante Identifikationen vorzufinden. Der Psychologe Hilarion G. Petzold hat in diesem Sinne fünf sogenannte „Säulen der Identität” entworfen, auf welchen die Zuschreibung von Menschen beruht, dass sie sich als eine einzigartige und stabile Persönlichkeit sehen können. Zu diesen fünf Säulen gehört das Erleben der eigenen Leiblichkeit und der eigenen Bedürfnisse, das soziale Netzwerk bzw. die sozialen Bezüge (soziale Zugehörigkeit), Arbeit und Leistung (die Identifikation mit der eigenen Tätigkeit), die materielle Sicherheit (materielle Ressourcen und vertrauter ökologischer Raum) und Werte und Normen (Wertorientierungen und Lebenssinn).19 Die fünf Säulen bezeichnen zum einen Bereiche, in welchen die Person wesentliche Bezugspunkte findet, um sich selbst zu identifizieren; sie bezeichnen zum anderen aber auch die für die Identitätsentwicklung schicksalhaften Felder der Sozialisation, in welchen sich die spezifischen Identitätsangebote, also die Potenziale, sich mit etwas zu identifizieren, vorgehalten werden.

Erik H. Erikson hat den Begriff der Ich-Identität benutzt, um die biographische Einmaligkeit des Individuums zu bezeichnen, die er vor allem als Ergebnis der Bewältigung von universellen Entwicklungskrisen verstanden hat, die aber auch wesentlich davon abhängt, inwieweit andere das Selbstbild einer Person anerkennen.20 Insofern ist auch in diesem Konzept die Entwicklung und Bewährung von Identität sozial vermittelt. Erikson sah vor allem die Jugendphase als die entscheidende Phase der Identitätsfindung an, in der relative dauerhaft stabile Positionen der Ich-Identität herausgebildet werden. Inzwischen ist die Annahme einer homogenen kontinuierlichen Ich-Identität21 in der Psychologie vielfach kritisiert worden und die Auffassung hat sich durchgesetzt, dass unter den pluralen und widersprüchlichen Bedingungen der Postmoderne einheitsstiftende Kriterien der Konstitution des Selbstbildes und der eigenen Identitätsdarstellung nicht mehr sicherzustellen sind, sondern Individuen auf unterschiedliche soziale und kulturelle Anforderungen mit situativen Identitäten reagieren. Hierfür gibt es keine traditionellen oder konsensuellen Lösungskonzepte. Ihre Individualität entwickeln sie vielmehr so in eigen-ständiger „Identitätsarbeit“, in welcher sie versuchen, Balancen zwischen ihren Teil-Identitäten zu arrangieren, die ihnen noch ein Mindestmaß an Selbstgleichheit und persönlichem Stil gewährleisten.

4. Der Identitätsbegriff im Wandel

Seit den Neunzigerjahren ist der Begriff einer „Patchwork-Identität“22 entstanden, der dem traditionellen Verständnis von Identität als einem konstanten Sich-selbst-treu-Bleiben und somit auch für andere Berechenbar-Bleiben widersprach und das Individuum nun als ein chamaeleonhaftes Wesen vorstellte, welches sich opportun den wechselhaften Anforderungen einer sozialen Umwelt anpasst und sich so in eine strategisch vorteilhafte Position bringt, die den Erwartungen und Erfolgskriterien anderer gegenüber möglichst angepasst war.

Dieser vor allem von Heiner Keupp konstruierte Begriff hatte – wohl nicht zuletzt wegen seines gegenüber einem „modernen“23 Begriff des selbst-identischen Subjekts schockierenden Widerspruchs – eine erhebliche Wirkung in der Fachdiskussion in der Jugendsoziologie. Zugleich war dieses sozial-psychologisch hergeleitete Konstrukt gut anschlussfähig an die identitätstheoretischen Entwürfe des Symbolischen Interaktionismus von George Herbert Mead und Erving Goffman und ihre Weiterentwicklung von Lothar Krappmann in Deutschland. Die pragmatistische Experimentalität sozialen Handelns, die schon William James und George Herbert Mead in den Vordergrund gerückt hatten, schien nun vollends gegenüber der Tugend individueller Charakterstärke den Sieg errungen zu haben; die Selbstdarstellung der Individuen hatte den Anspruch auf einen maximal möglichen Ausdruck individueller Orientierungen und Haltungen offenbar vollkommen verloren und war zu einem strategischen Manöver, ja Täuschungsmanöver im Umgang mit den Erwartungen anderer geworden. Keupp nannte dies das „impression management“. Was man traditionell noch als „Charakterschwäche“ kritisiert hätte, schien nun eine Erfolgskonzept eines „Identitäts-Marketings“ auf einem Markt der sozialen Anerkennungsmechanismen. Diese Sichtweise von Identität wird regelrecht paradigmatisch in den heutigen „Medien-Identitäten“ von jungen Menschen in den sozialen Medien. Selbstdarstellung in einer Vielfalt von Rollen und Outfits, Situationen und Beziehungen gespickt mit einem Quantum an Originalität und Kreativität, symbolische Anwandlungen aus der Welt der Stars, der realen und virtuellen Heroen, eventuell zugleich durch Selbstironie wieder infragegestellt, kennzeichnen den Habitus vor allem junger Menschen. Es ist augenscheinlich, wie dieser Habitus das Programm der Postmoderne erfüllt, indem die entlehnte Symbolik kaum mehr aus einem feststehenden Repertoire geschöpft wird, sondern aus dem symbolischen Fundus quasi aller Kulturen und Epochen zitiert werden kann, und indem den in der Selbstdarstellung aufgegriffenen Identifikationen keine wirkliche Verbindlichkeit und Kontinuität zukommt. Kurzum: Der Habitus solcher Selbstdarstellung präsentiert sich als ein Spiel und er spielt, wie jedes Spiel, auch mit der Versuchung ernst genommen zu werden.

Werfen wir einen kurzen Blick auf jene soziologische Identitätstheorie von Erving Goffman (1973) und Lothar Krappmann (1988), die einen solchen dynamischen Identitätsbegriff möglich gemacht hatte.

Lothar Krappmann hat – ausgehend von Meads Identitätskonzept – vier Grundqualifikationen des Individuums benannt, die für ein angemessenes Rollenhandeln erforderlich sind, nämlich 1.) die Fähigkeit zur Rollenübernahme und zur Empathie in das Selbstverständnis anderer Rolleninhaber als Träger von Absichten, Denkweisen, Interessen und Emotionen, 2.) die Fähigkeit zur Rollendistanz, d. h. zu einem reflektierenden Umgang mit Rollenerwartungen im Einklang mit den eigenen Bedürfnissen und dem Selbstbild, 3.) die Ambiguitätstoleranz als die Fähigkeit, mit dem eigenen Rollenverständnis in Widerspruch stehende Erwartungen, die in Folge von kulturellen oder sozialen Differenzen möglich sind, wahrzunehmen und im eigenen Handeln zu berücksichtigen und 4.) die Fähigkeit zur Identitätsdarstellung, d. h. zum Ausdruck des eigenen Verständnisses von der personalen Identität.

Gerade letzteres, Identitätsdarstellung, findet bei Jugendlichen und jungen Menschen – so meine These – inzwischen aber bereits selbst in einem „kulturell sanktionierten Raum“ statt, insbesondere in neuen sozialen Medien, d. h. oftmals mittels der Nutzung von Klischees, die eben nicht eine überraschende originelle, vom Erwartbaren abweichende Individualität zulassen, sondern vereinnahmt sind von einem homogenen Identifikationsrepertoire, aus dem die jungen Menschen die Symbole ihrer Identität schöpfen müssen, wenn sie Anerkennung erfahren wollen. Hier gibt es meines Erachtens zum Ersten eine Differenz zwischen dem Osten und dem Westen, aber auch zum Zweiten eine Differenz zwischen den Generationen sowohl in Ost und West.

Es war wiederum Krappmann, der den Begriff „Identität“ dynamisiert hat mit seiner Annahme, dass die „präsentierte Identität“ keine universelle, konstante Form hat, sondern in Abhängigkeit zu den Interaktionspartnern modifiziert wird.24 Somit ist es möglich, dass Personen ihre Identität in bestimmten Situationen vollkommen anders darstellen als in anderen Situationen, etwa am Arbeitsplatz ganz anders als im Freundeskreis, in den neuen sozialen Medien ganz anders als innerhalb der Familie. Gerade diese Feststellung macht es nun schwierig, von einer allgemeinen „post-sowjetischen Identität“ zu sprechen, denn in all ihren Manifestationen spielt eine Rolle, vor welchem Publikum eine solche Identität dargestellt wird. Dennoch ist es vielleicht möglich, hinter der Vielfalt phänomenaler postsowjetischer Identitäten eine Allgemeinheit einer interpretativ erklärenden postsowjetischen Identität zu finden.

Zu beachten ist ferner, dass „Identität“ immer auch eine „ausgehandelte Identität“ ist, also auf einem Anpassungsprozess in der Verwendung von bestimmten Symbolen in bestimmten Kontexten beruht. „Symbolische Identität“ muss von anderen verstanden werden, sie muss gewissermaßen auf einer gemeinsamen Sprache aufbauen, die a) von den Kommunikationspartnern als eine Sprache der Selbstdarstellung erkannt wird und b) deren Symbole im einzelnen verstanden, bestimmten Kontexten und Konnotationen zugeordnet werden können. Sie ist allerdings auch strategischen Erfolgsbedingungen unterworfen. Sie ist ein symbolisches Angebot an die Kommunikationspartner*innen, um eigene Ziele zu erreichen, insbesondere um sozialen Gruppierungen und Statusklischees zugeordnet zu werden und um Anerkennung zu erhalten, vielleicht auch Macht und Einfluss zu erlangen. Insofern korrespondiert der Prozess der Aushandlung von Identität mit der Willkür einer kollektiven „Kultur des Gefallens und Anerkennens“, auf welche der Einzelne keinen Einfluss nehmen kann. Andererseits spiegelt die Identitätspräsentation des Einzelnen gerade deshalb auch jene kollektive Kultur, ihre Klischees und ihre Wertorientierungen wider, in welche die Selbstdarstellung des Einzelnen eingebettet ist. Insofern besteht zwischen der individuellen Selbstdarstellung und der “Identitätskultur” einer Gesellschaft in gewissem Umfang ein determinativer Zusammenhang, der es zum einen gestattet, auch unter den Bedingungen der Postmoderne eine “kollektive Identität” als kulturellen Gehalt zu rekonstruieren, zum anderen erlaubt, in den individuellen Selbstdarstellungen eine kulturelle Kriterienbasis für die Verstehens- und Akzeptanzvermutung herauszuarbeiten.

5. “Postsowjetische Identität” als Idealtypus im Sinne Webers

Der Begriff der „Identität“ beansprucht von sich aus eine Logik der Generalisierung und alles, was über eine Identität ausgesagt wird, erstarrt gewissermaßen zum Unveränderlichen, zum Allgegenwärtigen und zum „harten Kern“ des bewegten Lebens allein dadurch, dass das Merkmal des Mit-sich-selbst-Gleichen ihm zugesprochen wird. Insofern ist der Begriff der „Identität“ auf eine ganz andere Weise voraussetzungshaft als der Begriff des „Postsowjetischen“, da er nicht an der Fraglichkeit einer historischen Analyse zu prüfen ist, sondern an der Angemessenheit des generalisierenden Behauptens selbst.

Zugleich macht die Verwendung des Begriffes der „postsowjetischen Identität“ doch einen Sinn, wenn man sich der Konstruktqualität des Begriffes bewusst ist und „postsowjetische Identität“ nicht als einen Begriff zur treffenden Beschreibung der gesamten gesellschaftlichen Realität versteht, sondern ihn im Sinne Max Webers als idealtypischen Begriff25 verwendet, durch welchen wesentliche, meist neue Merkmale der sozialen Wirklichkeit – möglicherweise mit überzeichnender, ja utopischer Prägnanz – herausgehoben und in ein ordnendes System eingebracht werden. Der Idealtypus ist, wie Weber sagt, eine “gedankliche Konstruktion”, keine empirisch vorfindliche Ausprägung einer Form, sondern ein durchaus einseitig übersteigerndes Beobachtungsprodukt, welches im Wirrwarr des unüberschaubaren Konzertes der Phänomene das Stimmige herausstellt. Der Idealtypus steht zur Wirklichkeit in einem selektiven Vehältnis, er schneidet heraus, was sich zu einer Einheit unter der Prämisse einer voraus angenommenen Sinnhaftigkeit zusammenfügen lässt.

Gewonnen wird dadurch zum einen ein Instrument, ein Medium zur Analyse der sozialen Realität, quasi ein spezifischer Blick auf das Gegebene, der Besonderheiten in Erscheinung treten lässt, die ohne ihn nicht sichtbar würden, zum anderen ein richtungsweisender Ansatzpunkt für Hypothesen, der die Basis für Forschungskonzepte und für kulturvergleichende Betrachtungen bilden kann.26 Der Idealtypus ist ein Instrument des Vergleichens, er kann der empirischen Wirklichkeit in vergleichender Weise gegenübergestellt werden, um einzelne Phänomene infolge ihrer Ähnlichkeit mit dem Gesetzten hervortreten zu lassen und sie dadurch zu bestätigenden Momenten der idealtypischen Konstruktion zu qualifizieren. In diesem Sinne verstehen wir die Konstruktion einer „postsowjetischen Identität“ als eine idealtypische Begrifflichkeit,

Der Idealtypus der „postsowjetischen Identität“ ist zum einen jene Folie, die an die beobachtete Wirklichkeit der postsowjetischen Realität angelegt wird, um zu entdecken, was sich zu einem stimmigen und damit hintergrundsreichen Typus zusammenfügen lässt, er ist aber auch selbst der Revision durch die Praxis des Vergleichens ausgesetzt, insofern das, was mittels seiner Anwendung zum Vorschein kommt, auch auf ganz anderes hindeuten kann als das vorab Angenommene. Insofern unterliegt der Idealtypus einem Mechanismus der hermeneutischen Selbstkorrektur; die Prüfung der Ähnlichkeiten kann auch etwas entdecken lassen, was dem Kriterium des Ähnlichen gar nicht entspricht, sondern den Forschenden aus anderen Gründen “ins Auge springt” und sie womöglich veranlasst, den Idealtypus um Neues zu bereichern oder zu korrigieren. Daher soll der Idealtypus nicht als ahistorisches Instrument der Analyse verstanden werden, sondern als eine in der Auseinandersetzung mit der zu analysierenden Wirklichkeit mitwachsende Konstruktion.

Der Idealtypus erlaubt, eine sinnhafte Stimmigkeit (im Sinne von Webers Begriff der Rationalität) sozialer Phänomene ausfindig zu machen, indem er vorab schon annimmt und sich dementsprechend formiert, dass soziale Phänomene aufeinander derart Einfluss nehmen, dass sich eine solche Stimmigkeit über die Zeit hinweg herausbildet. Sie unterliegen einer Rationalität gegenseitiger Vereinbarlichkeit, die sich den Zwängen gesellschaftlicher Selbstorganisation verdankt.27 Dies postulieren wir ebenfalls, wenn wir den Begriff einer „postsowjetischen Identität“ als idealtypisches Instrument den Analysen in diesem Buch zugrunde legen.

Die Entwicklung solcher Stimmigkeit braucht Zeit, wie jegliche Selbstorganisationsprozesse Zeit benötigen, um ein funktionierendes strukturelles Ergebnis hervorzubringen. Diese Zeit umfasst im Blick auf die Chance, unter den Bedingungen der neuen Realität in den postsowjetischen Gesellschaften soziokulturelle Formationen hervorzubringen, die gesellschaftlich als „erfolgreich” wahrgenommen werden können, nun drei Jahrzehnte seit dem Ende der Sowjetunion. Es lässt sich daher annehmen, dass in der Bewältigung der Krisen und der Kompensation der Verluste im gesellschaftlichen Leben und in den kulturellen Errungenschaften neue Sinnschöpfungen und Ordnungen im Entstehen begriffen sind, die sich zumindest wahrnehmen lassen.

Sicherlich bleibt der Begriff der „postsowjetischen Realität“ in jenem Sinne immer „verfänglich“, dass er mit der epochalen faktischen Wirklichkeit postsowje-tischer Staaten heute gleichgesetzt wird und damit in den Anspruch gestellt wird, einen „Realtypus“ möglicher sozialer Wirklichkeit zu kennzeichnen. Auch bleiben real- und idealtypische Anwendungen des Begriffs nicht selten vermischt oder werden ohne systematisch konsequente Abgrenzung in eins gesetzt. In solcher Praxis werden gewissermaßen die Eigenheiten des „Blickes“ mit jenen der beobachteten Wirklichkeit vertauscht, die Heuristik mit den analytischen Ergebnissen selbst verwechselt, der idealtypische Begriff wird ontologisiert. Wissenschaftliche Sorgfalt muss aber darauf zielen, in ihren beschreibenden, ordnenden und analysierenden Operationen und in der Verbindlichkeit all ihrer Aussagen über die Wirklichkeit die Grenzen eines idealtypischen Begriffs zu beachten und sich der relativierenden Konstruktivität ihres begrifflichen Instrumentariums bewusst zu bleiben. Dies ist eine Aufgabe stetiger Rückbesinnung auf den Ausgangspunkt der idealtypischen „Kreation“, bei deren Erfindung noch die entdeckende Eigenleistung klar wahrgenommen und die Beschränkung des eigenen Blicks beim „Heraussehen“ des Typischen unschwer zu reflektieren war.

Bei der Lektüre dieses Buches tut daher der Leser, die Leserin sicherlich gut daran, die beschreibenden und erklärenden Aussagen zur postsowjetischen Identität auf ihre idealtypischen Vorannahmen hin zu untersuchen und die impliziten typologisierenden Raster soweit als möglich zu identifizieren, die die wissenschaftliche Beobachtung geleitet haben. Er/sie wird dabei feststellen, dass in den verschiedenen Beiträgen in diesem Buch keineswegs das immer gleiche Modell des Idealtypus bzw. die gleichen Typologien zur Anwendung gebracht werden, vielmehr eine der wesentlichen Leistungen der wissenschaftlichen Produktivität gerade darin besteht, im Anschluss an die schon bestehenden immer neue idealtypische Semantiken hervorzubringen und zur Diskussion zu stellen. In diesem Sinne wünschen wir dem kritischen Leser, der kritischen Leserin eine spannende und den Blick immer neu schärfende Lektüre.

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Postsowjetische Identität?  - Постсоветская идентичность?

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