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Ein Heiliger und seine Vita werden gemacht

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Warum diese Überlegungen zu den frühen Darstellungen des Apostel Jakobus als Pilger? Interessanterweise fällt die Entstehungszeit dieses Bildtypus genau zusammen mit der Wirkungszeit von Diego Gelmirez, und damit mit der eigentlichen Entstehung der Wallfahrt im frühen 12. Jahrhundert. Erzbischof Diego II. Gelmirez von Santiago de Compostela (um 1069–1149) darf gewiss als die herausragende und prägende Gestalt in der gesamten Geschichte der Jakobuswallfahrt bezeichnet werden. Ebenso genial wie skrupellos und tatkräftig, hat er Santiago de Compostela von einem abgelegenen Wallfahrtsort am Ende der damals bekannten Welt zu einem der drei wichtigsten Pilgerziele in der damaligen christlichen Ökumene gemacht. Ohne ihn gäbe es auch die heutigen Jakobswege in Europa nicht, und es würden wohl keine Pilger aus Europa und dem Rest der ganzen Welt ihre Hand in die Vertiefungen am Mittelpfeiler des Pórtico de la Gloria legen, wie dies bei ankommenden Pilgern seit Langem Brauch ist.

Erzbischof Diego Gelmirez war auch der wichtigste Initiator für die Zusammenstellung des Liber Sancti Jacobi, auch Codex Calixtinus genannt, das vor der Mitte des 12. Jahrhunderts in Santiago entstand und einen enormen Einfluss auf Propagierung und die Gestaltung der Jakobuswallfahrt in den folgenden Jahrhunderten ausübte. Darüber ist mittlerweile so viel geschrieben worden, dass eine ausführliche Erörterung des Themas an dieser Stelle unterbleiben kann. Verwiesen sei in diesem Zusammenhang auf die Publikationen von Klaus Herbers, vor allem Der Jakobuskult des 12. Jahrhunderts und der »Liber Sancti Jacobi« von 1984, dessen von ihm zusammen mit Manuel Santos Noia herausgegebene Edition des Liber Sancti Jacobi. Codex Calixtinus von 1998 und die ausgezeichnete, kurz gefasste Darstellung Jakobsweg – Geschichte und Kultur einer Pilgerfahrt von 2007.

Hinzu kommt eine kaum mehr überschaubare Literatur zu den Anfängen der Jakobusverehrung und der Jakobuswallfahrt in Spanien. Darunter ragt noch immer das Standardwerk Las Peregrinaciones a Santiago de Compostela, vorgelegt 1949 von Luis Vazquez de Parga, Jose M. Lacarra und Juan Uria Riu, heraus. In jüngster Zeit wurde die Bedeutung von Erzbischof Gelmirez für die Jakobuswallfahrt durch die Ausstellung und das begleitende Handbuch Compostela and Europe – The Story of Diego Gelmirez (Englisch und Spanisch, 2010) auf dem neuesten Stand der Forschung eingehend gewürdigt.

Es ist heute, ungeachtet der nach wie vor unterschiedlichen Standpunkte zur Echtheit der Jakobusreliquien, Konsens, dass sich die Pilgerfahrt nach Santiago seit dem 9. Jahrhundert in mehreren Etappen von einem lokalen Pilgerziel unter dem programmatischen Namen Santiago de Compostela zu einem Wallfahrtsort von europäischem Rang, neben dem nur Jerusalem und Rom noch Geltung beanspruchen durften, entwickelte.

Als die erste Etappe stellt sich die Auffindung der Gebeine des Apostels zu Beginn des 9. Jahrhunderts, in der Zeit des Bischofs Theodemir von Iria Flavia, dem heutigen Padrón, und des Königs Alfons II. von Asturien dar. Diese Auffindung wird in der genannten Literatur eingehend geschildert. Damals fand ein Einsiedler unter wundersamen Begleiterscheinungen an einem von Padrón nicht weit entfernten Ort die Gebeine des Apostels Jakobus, der nach der Legende schon zu seinen Lebzeiten in Spanien gepredigt hatte, jedoch nach Misserfolgen nach Jerusalem zurückgekehrt war, wo er 44 n. Chr. unter König Herodes Agrippa I. den Märtyrertod erlitt. Gefährten brachten ihn zum Strand und legten ihn in ein Boot, das ihn in nur sieben Tagen an die Küste Galiziens brachte, wo er, nicht weit vom Landungsort entfernt, im späteren Santiago de Compostela in einem noch aus älterer Zeit vorhandenen Marmorgrab beigesetzt wurde. Das ging nicht ohne die Überwindung lokaler Widerstände, vor allem vonseiten der heidnischen Königin Lupa, die aber durch Zeichen und Wunder von der Macht des Heiligen überzeugt und schließlich sogar bekehrt wurde.

Entsprechende Quellen aus dem 9. Jahrhundert liegen, mit Ausnahme der Grabplatte des Bischofs Theodemir, die bei Grabungen in der Kathedrale gefunden wurde, nicht vor. Allerdings sprach sich die Nachricht von der Auffindung eines Apostelgrabes in Galizien in gelehrten Kreisen Europas durchaus herum, und im Spiegel dieser indirekten Bestätigung kann davon ausgegangen werden, dass nach dem Bau einer kleinen Kirche über dem Bestattungsort ein lokaler Kult um das Apostelgrab einsetzte. Genauere Nachrichten zur Auffindung liegen erst aus dem 11. Jahrhundert vor. Eine Urkunde von 1077, als die Jakobuswallfahrt bereits eine europäische Dimension erlangt hatte, nennt erstmals Einzelheiten der Auffindung. Ergänzend liefert ein Brief eines Papstes Leo aus dem 9. Jahrhundert weitere Details, der allerdings erst im 12. Jahrhundert im Liber Sancti Jacobi erscheint und hinter dem einmal mehr der Einfluss und die Ziele von (Erz-)Bischof Gelmirez aufscheinen. Wie immer man zu der Erhebung der Gebeine des Apostels im 9. Jahrhundert steht: Die Anfänge der Jakobusverehrung und des Jakobsweges in Spanien sind in jedem Fall ins 9. Jahrhundert zu datieren.

Es war zu dieser Zeit keineswegs leicht, zum Grab des Apostels zu gelangen. Bis auf einen schmalen Streifen im Norden war Spanien seit 711 muslimisch geworden, und die Streitkräfte des Emirs von Córdoba und anderer muslimischer Machthaber beherrschten und kontrollierten den größten Teil der Region, durch die heute der spanische Jakobsweg verläuft. Das sollte sich bis zum Ende des Kalifats von Córdoba kurz nach der Jahrtausendwende auch nicht ändern. Die zweite Etappe bei der Etablierung der Jakobswallfahrt datiert denn auch erst in die Zeit König Sanchos »des Großen« von Navarra (1000/1004–1035), der die alte Römerstraße von den Pyrenäen über Pamplona nach Astorga und Lugo mit teilweise veränderter Streckenführung wieder für Pilger aus ganz Europa öffnete und als Weg von den Pyrenäenpässen nach Santiago de Compostela neu anlegte.

Die dritte Etappe schließlich fällt fast ausschließlich in die Wirkungszeit von Diego Gelmirez. Schon unter seinen Vorgängern war ab ca. 1077 mit dem Bau der heutigen Kathedrale von Santiago de Compostela begonnen worden. Gelmirez trat 1093 ins Rampenlicht, als er, mit Wissen und Wollen des Königs, während zweier Vakanzen des Bischofsstuhles zum Administrator der Kirche von Santiago ernannt wurde. Als er 1100 zum Bischof von Santiago gewählt wurde, machte er die Rangerhöhung seines Bischofssitzes und die europaweite Förderung der Jakobuswallfahrt zu seiner Hauptaufgabe. Dabei hatte er nicht nur die Würde des Apostelgrabes, sondern auch seine eigene Rangerhöhung im Auge. Die intensive und auch finanziell abgesicherte Pflege der Beziehungen zu den in dieser Zeit in der abendländischen Christenheit dominierenden Mächten, zum Papsttum und zum burgundischen Kloster Cluny, führten ihn schließlich zum Ziel. 1120 wurde er zum Erzbischof mit eigenem Metropolitansprengel erhoben.

Auf dem Weg dorthin war er alles andere als zimperlich. Bestechung und Urkundenfälschung waren auch im Mittelalter keineswegs unüblich. Sein Reliquienraub 1102 aus der Kathedrale von Braga, wo er mit zwei priesterlichen Kumpanen die Reliquien des hl. Fructuosus sowie der Märtyrer Cucufaz, Sylvester und Susanna entwendete, wurde später, gewiss auf Veranlassung des Hauptübeltäters, in der Historia Compostellana als pium latrocinium, als frommer Diebstahl bezeichnet. Er beraubte diese ihrer kostbarsten Schätze. Das war auch für die Zeitgenossen ein dreistes Bubenstück, aber der Erfolg schien die Tat zu rechtfertigen. Lediglich bei dem Versuch, dem Erzbischof von Toledo die Primatialgewalt für ganz Spanien streitig zu machen, scheiterte Gelmirez. Mit dem von ihm initiierten Codex Calixtinus legte er sowohl eine Rechtfertigung seines Handelns wie auch zugleich eine geniale Propagandaschrift vor, welche die Jakobuswallfahrt im Mittelalter auf ihren Gipfelpunkt führte.

Es ist eine kaum zu bestreitende Tatsache: Ohne das Wirken und die Machenschaften von Erzbischof Diego Gelmirez, die große Teile Europas einbezogen und sogar bis in das gerade erst von den Kreuzfahrern eroberte Jerusalem reichten, hätte die seit dem 11. Jahrhundert durchaus schon florierende Pilgerfahrt zum Grab des Apostels Jakobus niemals diesen Aufschwung genommen. Er brachte sie vom 12. bis zum 16. Jahrhundert gleichrangig neben die uralten Pilgerziele Jerusalem und Rom, wo immerhin Christus selbst an den Stätten seines irdischen Daseins bzw. die Apostelfürsten Petrus und Paulus verehrt wurden. Gelmirez begründete zwar nicht die neue Kathedrale von Santiago, trieb aber ihren Bau bis kurz vor deren Vollendung voran. Klug wusste er die geistlichen Mächte des christlichen Abendlandes, die Päpste und den hl. Abt Hugo von Cluny, seinen Zielen dienstbar zu machen, wobei insbesondere die engen Verbindungen sowohl des Erzbischofs wie auch der Könige von Asturien/Léon die spanische Geschichte in der Epoche von Diego Gelmirez nachhaltig bestimmten.

Angesichts des Erfolges von Diego Gelmirez schien der Satz »Quien va a Santiago y no a Salvador visita el criado y deja al Señor – Wer zum heiligen Jakob geht und nicht zum Erlöser, der besucht den Knecht und versäumt den Herrn«, zumindest auf dem Weg nach Santiago de Compostela, keine Gültigkeit zu haben. Der Spruch war auf die bis ins 12. Jahrhundert spürbare Konkurrenz zwischen der alten Königsresidenz Oviedo mit ihrem Salvatorpatrizinium und dem aufstrebenden Santiago de Compostela bezogen. Seitdem aber, nicht zuletzt, weil durch die Beschreibung im Liber Sancti Jacobi der Jakobsweg auf die Strecke von Burgos über León und Astorga nach Santiago festgelegt war, geriet Oviedo, wie so viele andere Wallfahrtsorte an den Jakobswegen, gegenüber Santiago ins Abseits.

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