Читать книгу Begegnungen am Jakobsweg - Wolfgang Metternich - Страница 13
Der hl. Jakobus und die Reconquista
Der Matamoros
ОглавлениеDie Burg von Clavijo von Norden.
Hoch über der weiten, vom Ebro durchflossenen Ebene der Rioja liegt südlich von Logroño auf einem steil aufragenden Felsen eine Burgruine, direkt oberhalb eines kleinen Dorfes. Steigt man von den Häusern der Ortschaft zu den Mauern der alten Burg empor, so gewahrt man zunächst auf dem nach Norden über einer jäh abfallenden Felswand die Anlage begrenzenden Turm ein großes, schmiedeeisernes Kreuz. Seine Kreuzbalken scheinen in Speerspitzen auszulaufen und die beiden Arme des Querbalkens sind von je zwei geschwungenen, nach innen gebogenen Schwingen, ähnlich einem Ankerkreuz, eingefasst. So ungewöhnlich die Gestalt des Kreuzes auf den ersten Blick erscheinen mag, entlang des spanischen Jakobsweges trifft man bis hinein in die Kathedrale von Santiago de Compostela allenthalben darauf. Nach Auskunft einiger ikonografischer Handbücher handelt es sich um das Jakobskreuz. Besser bekannt ist es als das Clavijo-Kreuz, dessen Name sich von der Burg und der gleichnamigen Ortschaft herleitet.
Clavijo liegt nicht unmittelbar am Jakobsweg. Jakobspilger suchen die Burg so gut wie nie auf. Es wäre auch ein beschwerlicher Umweg von mehr als 30 Kilometern mit einem steilen Anstieg. Gleichwohl ist Clavijo nahezu jedem, der sich auch nur oberflächlich mit der Geschichte der Jakobuswallfahrt befasst hat, ein Begriff. Clavijo gilt immer noch vielen als der Ort, an dem der Apostel Jakobus erstmals nach der Auffindung seiner letzten Ruhestätte nachhaltig in den Konflikt zwischen dem muslimischen Spanien und den christlichen Staaten im Norden der Halbinsel eingegriffen hat. So nebulös und legendenhaft sich die mit Clavijo verbundenen Ereignisse des 9. Jahrhunderts auch darstellen, haben sie doch bis zum heutigen Tag tiefe Spuren nicht nur in der Jakobusverehrung, sondern auch in der Geschichte Spaniens und sogar Lateinamerikas hinterlassen.
Lassen wir zunächst die Legende zu Wort kommen. Nach Aussage von König Ramiro I. von Asturien (Regierungszeit 842–850) habe dieser es als Schande empfunden, dass die christlichen Könige des Nordens sich den Frieden mit den Muslimen bisher durch eine Tributzahlung erkauft hätten. Jedes Jahr habe man 100 christliche Jungfrauen, 50 aus dem Adel und 50 aus dem einfachen Volk, an die Muslime übergeben müssen. Ramiro I. habe diesen Tribut verweigert und sich mit seinem Heer zum Kampf gestellt. In der Nähe von Clavijo, auf dem Campo de la Matanza, soll daraufhin am 23. Mai 844, nur gut zwei Jahrzehnte nach der Begründung des Jakobuskultes, eine Schlacht zwischen christlichen und muslimischen Streitkräften stattgefunden haben. Andere Angaben datieren das Ereignis schon auf das Jahr 834.
Das christliche Heer wurde vom König persönlich angeführt, die muslimische Armee vom Emir von Al Andalus, Abd ar-Rahman II. (Regierungszeit 822–852). Zu Beginn der Schlacht, in einiger Entfernung von Clavijo, sei das christliche Heer in große Bedrängnis geraten und habe sich dann auf der Flucht bei Clavijo neu gesammelt. In dieser Notsituation sei der Apostel Jakobus dem König im Traum erschienen und habe ihm für die Schlacht am folgenden Tag seine Hilfe versprochen. Die christlichen Truppen seien dann mit dem neuen Schlachtruf »Dios ayuda e Sant Yaque – Hilf uns Gott und heiliger Jakob« in den Kampf gezogen und hätten einen großartigen Sieg errungen. Während des Kampfes sei der Apostel selbst auf einem Schimmel mit dem Schwert in der Hand vom Himmel herabgestiegen, habe die Christen ermutigt und die Feinde in Angst und Schrecken versetzt. Allein 70.000 Muslime seien getötet worden. Zum Dank habe der König in Calahorra ein Gelübde, das »Voto de Santiago«, getan, wonach künftig der Jakobskirche in Santiago von der Bevölkerung eine Abgabe zu entrichten sei, welche die ersten Früchte von Feldern und Weinbergen sowie einen Anteil an der Beute aus Kämpfen mit den Muslimen umfasste. Diese Abgabe sei von da an jedes Jahr fällig geworden.
Die zeitgenössischen Quellen des 9. Jahrhunderts wissen jedoch nichts von einer Schlacht bei Clavijo. Allein angesichts der Opferzahlen hätte dieses Ereignis zumindest im damaligen Spanien Aufsehen erregen müssen. Bei 70.000 getöteten Muslimen wären das Emirat von Al Andalus und seine Hauptstadt Córdoba von Kämpfern praktisch entblößt und den christlichen Heeren dann schutzlos preisgegeben gewesen. Selbst wenn man bei Zahlenangaben die üblichen mittelalterlichen Übertreibungen in Rechnung stellt und man statt der 70.000 nur den Begriff »viele« verwendet, bleibt das Ganze unglaubwürdig. Frühmittelalterliche Heere waren allein schon aufgrund der geringen Bevölkerungsdichte sehr klein, weshalb eine so große Anzahl von Kämpfern und Gefallenen mit Fragezeichen zu versehen ist.
Das arabische Spanien im 10. Jahrhundert.
Abgesehen von wenigen Autoren, welche die Schlacht von Clavijo 844 noch immer als historische Tatsache ansehen, besteht heute in der Forschung Einigkeit darüber, dass diese Auseinandersetzung nie stattgefunden hat. Die Urkunde mit dem Schlachtbericht ist mit einiger Sicherheit eine Fälschung von Pedro Marcio, Kanoniker an der Kathedrale von Santiago de Compostela, aus der Mitte des 12. Jahrhunderts. Bezeichnenderweise fehlt sie noch im Tumbo A, dem 1129–1131 angelegten Kartular der Kathedrale von Santiago. Allenfalls ist über die Jahrhunderte die Erinnerung an eines der vielen Scharmützel entlang der Grenze zwischen muslimischem und christlichem Machtbereich wachgeblieben. Auch die – historisch gesicherte – Schlacht von Simancas bei Valladolid vom 8. August 939, in der mit Ramiro II. von León und dem Kalifen Abd ar-Rahman III. im »Feldzug der Allmacht« die mächtigsten Herrscher des christlichen und des muslimischen Spanien aufeinander trafen und in der die christliche Seite den Sieg errang, mag die Legende von der Schlacht bei Clavijo befördert haben.
Kehren wir nun von der Legende zur Burgruine von Clavijo zurück, so zeigen sich weitere Fakten, welche den der Schilderung zugrunde liegenden historischen Hintergrund, die Ereignisse von 844 (oder 834) ganz und gar unglaubwürdig werden lassen. Clavijo ist nämlich keine Burg der Herrscher in den nicht-muslimischen Staaten Asturien/León und Navarra. Steinerne Burgen dieser Art erscheinen im christlichen Abendland erst am Ende des 10. Jahrhunderts. Clavijo ist eine der muslimischen Grenzfestungen entlang des Duero bis zum Ebro, welche das südlich davon liegende Reich der Kalifen von Córdoba gegen Raubzüge und Überfälle aus den christlichen Reichen des Norden sichern sollten. Die Gestalt des Burgtores mit seinem Hufeisenbogen im Kalifatstil gibt einen deutlichen Hinweis. Dieser Portaltyp mit Hufeisenbogen und rechteckiger Rahmung kommt sowohl an der großen Moschee von Córdoba vor als auch an der gewaltigen muslimischen Festung von Gormaz von 965, unmittelbar nördlich des Duero gelegen.
Die Anfänge der Burg von Clavijo dürften allerdings früher als im 10. Jahrhundert liegen, da schon im Jahr 923 von einer Eroberung der Burg durch die Christen die Rede ist. Sie hat bis zum Ende des 10. Jahrhunderts, bis in die Zeit der Feldzüge von Abu Amir Muhammad ibn Abdallah ibn Abi Amir, genannt Al-Mansur bi-llah, der mit seinen Heeren alljährlich den Norden heimsuchte und bis Santiago de Compostela, León und Pamplona vorstieß, noch mehrmals, so als die Burg 960 in navarresischer Hand war, den Besitzer gewechselt. Schließlich konnte man von dieser Burg fast die gesamte Rioja überschauen und kontrollieren, was auch bedeutete, dass der Jakobsweg in seinem heutigen Verlauf angesichts der Grenzsituation und der muslimischen Gefahr nur mit hohem Risiko begangen werden konnte. Diese Situation an der Militärgrenze, der beiderseits ein ausgedehnter Streifen nahezu siedlungsfreien Landes vorgelagert war, dürfte mindestens bis zum Tod Al-Mansurs 1002, vielleicht auch bis zum Untergang des Kalifenreiches ab 1009, angedauert haben. Unter Sancho III. von Navarra, genannt »der Große« (Regierungszeit 1000/1004–1035), kam es dann zu einer Sicherung der Pilgerwege und einer endgültigen Sicherung der Rioja gegen die arabische Bedrohung.
Wenngleich die Legende vom Eingreifen des Apostels Jakobus in der Schlacht von Clavijo eines historischen Fundamentes entbehrt, hat sie doch von ihrem Ursprung im 12. Jahrhundert an bis weit ins 20. Jahrhundert hinein für die Geschichte Spaniens und des Jakobsweges keine geringe Rolle gespielt. Die gefälschte Urkunde des Kanonikers Pedro Marcio steht zunächst in der Nachfolge des Bemühens von Erzbischof Diego Gelmirez, gegen Toledo den Primat über das ganze christliche Spanien zu erlangen. Die von Pedro Marcio zum Vorteil von Erzbischof und Kathedralkapitel von Santiago de Compostela erhobene »Siegessteuer« wurde auf Anordnung König Alfons VII. von Kastilien-Léon ab 1150 zunächst über Jahrhunderte im ganzen christlichen Spanien erhoben. Damit wurde der Apostel auf dem Umweg über eine erfundene Abgabe auf dem fiskalischen Weg zum Patron von ganz Spanien, nicht nur von Galizien, wo sich seine vermeintliche Grabstätte befand, sondern auch von León-Kastilien, Aragón, Katalonien und allen eroberten Gebieten, die vorher zum muslimischen Machtbereich gehört hatten. Das war eine einzigartige Geldquelle für die Stadt und ihre Kathedrale.