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Der Matamoros muss warten
ОглавлениеIn der älteren Literatur ist häufig zu lesen, dass die Entfaltung des Jakobuskultes in einem engen Zusammenhang mit der Reconquista, der Rückeroberung der 711 an die Muslime verlorenen Gebiete der Iberischen Halbinsel stehe. Davon kann nach heutiger Auffassung keine Rede sein. Zwar fanden zwischen Muslimen und den christlichen Territorien im Norden seit dem 8. Jahrhundert permanent kriegerische Auseinandersetzungen, meist in Form von Überfällen und Scharmützeln, statt, es gab aber immer auch Friedensperioden, in denen man miteinander Handel trieb und sich bisweilen sogar miteinander verbündete. Selbstverständlich suchten beide Seiten ihre Macht, ihre Einflusssphäre und ihre Territorien, auch mit Gewalt, auf Kosten der anderen zu vergrößern. Von gezielten Eroberungsversuchen im Sinne dessen, was später als Reconquista bezeichnet wurde, konnte aber vor dem Zusammenbruch des Kalifenreiches zu Beginn des 11. Jahrhunderts keine Rede sein.
Auf der Iberischen Halbinsel standen sich nach 711 auch keine zwei gleichsam monolithischen Machtblöcke gegenüber, die christlichen Staaten im Norden und die Muslime im Rest von Spanien. Vielmehr boten die Staaten, Herrschaftsbereiche und Territorien ein sehr heterogenes Bild. Auf muslimischer Seite standen frühzeitig die aus dem Orient gekommenen Araber in einem Gegensatz zu den nordafrikanischen Berbern, welche bei der Eroberung der Iberischen Halbinsel militärisch die Hauptlast getragen hatten und den Herrschaftsanspruch der Araber immer infrage stellten. Hinzu traten Teile der alten westgotischen Elite, die, um ihre lokalen Machtbereiche zu erhalten, sich mit den Eroberern arrangierten und zum Islam übertraten. Auch Sondergruppen wie Söldnersklaven und Normannen mischten sich tatkräftig in die Auseinandersetzungen der rivalisierenden Gruppen ein. Nicht vergessen darf man auch die Mozaraber, die immer noch zahlreichen Christen unter muslimischer Herrschaft, denen zwar einflussreiche Positionen verwehrt waren, die aber als Unterstützer und Sympathisanten durchaus eine Rolle spielen konnten.
Der Glanz und die Machtfülle des Kalifenreiches von Córdoba vermochten vor allem in der Zeit des Kalifen Abd ar-Rahman III. (929–961), dieses Konfliktpotenzial zeitweise in Schach zu halten. Doch diese Periode währte nur etwa 50 Jahre und endete schon 982, als Al-Mansur bi-llah und seine Söhne die Kalifen zunächst von der Machtausübung verdrängten, bis nach deren Tod das Kalifenreich im Bürgerkrieg versank und mit Kalif Hischam III. 1031 ein Ende fand. Schon vor der Errichtung des Kalifats war es im späten 9. und 10. Jahrhundert zu Aufständen und längeren Herrschaftsperioden lokaler Machthaber gegen die Emire von al-Andalus gekommen, von denen die der Ban6 Quasp von Zaragoza, der Ban6 Marwan von Badajoz und Mérida sowie von Umar ibn Hafsun in Ronda und Málaga größere Bedeutung erlangten. Mit der Reconquista hatten diese inneren Wirren im muslimischen Machtbereich nichts zu tun, auch wenn ein groß angelegter Feldzug Abd ar-Rahmans III. gegen das Königreich Léon 939 mit einer schweren Niederlage für den Kalifen endete.
In den christlichen Staaten des Nordens war die Situation kaum besser. Zwischen Asturien, Galizien, dem späteren Königreich Léon, Navarra sowie den Grafschaften von Kastilien und Aragón kam es ungeachtet der engen Verwandtschaft und Verschwägerungen immer wieder zu Bruderkriegen und Erbauseinandersetzungen, die eine konsequente gemeinsame Politik gegen die muslimischen Territorien weitgehend verhinderten. Zwischen 953 und 984 zählte man allein drei »leonesische Erbfolgekriege«, welche die Schlagkraft des Königreiches gegen das im Zenit seiner Macht stehende Kalifenreich nicht gerade erhöhten. Die einzelnen Staaten machten meist, nicht ohne einige bemerkenswerte lokale Erfolge, Politik auf eigene Faust und handelten nicht im Sinne einer christlich motivierten Konzeption der Wiedereroberung des einst westgotischen Spaniens.
Hinzu kam, dass die Emire und Kalifen im südlichen Córdoba der weiten, vom Duero durchflossenen und kaum besiedelten Ebene zwischen dem Kantabrischen Gebirge und dem Kastilischen Scheidegebirge nur geringe Aufmerksamkeit schenkten. Es fiel deshalb den nördlichen Königreichen nicht schwer, in diesem bis ins 10. Jahrhundert fast als Niemandsland zu bezeichnenden Gebiet ihre Territorien zu erweitern. Die vom Norden her gesteuerte Wiederbesiedlung, auch entlang des späteren Jakobsweges, nahm denn auch den langen Zeitraum vom 9. bis zum 11. Jahrhundert ein und hat mit der erst danach einsetzenden Reconquista ebenfalls wenig zu tun. Dass in den vielen Kämpfen und Scharmützeln bisweilen auch der Apostel Jakobus um Beistand gebeten wurde, ist im Mittelalter eine Selbstverständlichkeit. Da bat jeder den Heiligen um Hilfe, dem er nach Herkunft oder persönlichem Empfinden nahestand. Unter diesen war auch Jakobus d. Ä. nur einer von vielen, allerdings mit wachsender Bedeutung. Ein Matamoros, ein Vorkämpfer gegen den Islam, war er vor dem 12. Jahrhundert noch nicht.