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CHO-OYU-SÜDWAND 1982: DER KAMPF UMS ÜBERLEBEN
ОглавлениеUm Bulle stand es kritisch, er war schwer höhenkrank und immer wieder bewusstlos. Er musste so schnell wie möglich ins Tal transportiert werden, aber alle Mühe, ein Yak aufzutreiben, war vergeblich, und zum Selber-Gehen war er nicht mehr in der Lage. Am Abend sah er zwar etwas besser aus, wir hofften, er sei jetzt „über den Berg“. In der Früh dann der Rückschlag: deutliche Anzeichen einer Lungenentzündung. Er war bewusstlos.
Sofort schickte ich den Sherpa Maila Pemba im Eiltempo nach Namche Bazar, um von dort über Funk einen Hubschrauber anzufordern. Mit zwei langen Stangen und Skistöcken bauten wir dann eine Tragbahre und banden den Schwerkranken darauf. Für ihn begann ein unbeschreiblicher Leidensweg. Nach sechs Stunden auf der Moräne waren wir nahe bei Gokyo. Bulles Lunge rasselte, wir dachten, er würde die nächsten zwei Stunden nicht überleben, wenn nicht ein Wunder geschähe. Reinhard, Rudi und ich flüchteten in schwarzen Humor. Reinhard sagte, es würde ihm nichts ausmachen, hier zu sterben und begraben zu werden, dann könnte seine Witwe regelmäßig eine schöne Reise nach Nepal machen!
In Gokyo geschah das Wunder. Dort trafen wir zwei Schweizer Ärzte, die sich sofort um Bulle kümmerten. Er hatte seit zwei Tagen nicht uriniert. Katheter war keiner vorhanden, so stachen sie die Nadel einer Spritze direkt in die Bauchhöhle und drückten den Urin heraus, gaben ihm mehrere Spritzen und erklärten sich bereit, mit uns weiter abzusteigen.
Ich lief voraus zum Khunde-Hospital, um Sauerstoff zu holen, falls am nächsten Tag kein Hubschrauber kommen sollte. Von Gokyo nach Khunde rechnet man mit zwei Tagesmärschen – ich brauchte fünf Stunden. Bei jeder Mani-Mauer stammelte ich ein hastiges „Om mani padme hum“. Immer wieder flogen schwarze Kolkraben um mich herum, und ich musste an das Lied von Ludwig Hirsch denken: „Komm, großer, schwarzer Vogel …“.
Beim Dorfeingang von Khunde gaben die Batterien meiner Taschenlampe den Geist auf. Zwei zufällig entgegenkommende Buben leuchteten mir für zehn Rupien den Weg zum Khunde-Hospital. Doktor Jamie Uhrig, dem ich erklärte, wer ich sei und was ich brauche, richtete mir sofort eine Sauerstoff-Ausrüstung und Medikamente her, falls am nächsten Tag kein Hubschrauber fliegen konnte. Ich brachte keinen Bissen hinunter, nur trinken, trinken, trinken. Dann schlief ich erschöpft ein.
Die 3000 Meter hohe Südwand des Cho Oyu vom Gokyo Peak gesehen
Sobald es hell wurde, schickte der Khunde-Doktor Bulle und seinen Begleitern einen Träger entgegen. Ich folgte, voller Ungewissheit, ob der Schwerkranke die Nacht überlebt hatte. Um etwa 8:30 Uhr kam tatsächlich der rettende Hubschrauber taleinwärts geflogen und flog kurze Zeit später wieder hinaus, ins Krankenhaus nach Kathmandu. Aber immer noch war da die Ungewissheit, ob Bulle den Flug überleben würde, ob nicht doch „der große schwarze Vogel“ siegen würde.
Erst im Lager der Sherpas erfuhr ich: Bulle ist am Leben. Ich musste zur Seite gehen, da mir Tränen in den Augen standen.
Tage darauf machten wir uns daran, den Plan für den Gipfelsturm über die Cho-Oyu-Südwand aufzustellen, aber alles sollte anders kommen.
Reinhard und ich schliefen in einem Zelt. Rudis Platz in der Mitte war frei, er war mit Zahnschmerzen abgestiegen und sollte nachkommen. Wir hatten am Abend unsere Flaschen mit Tee gefüllt. „Dieses Achttausender-Bergsteigen geht mir langsam auf die Nerven“, hatte Reinhard gesagt: „Wir werden ihn einfach machen, diesen Cho Oyu, und dann ist Schluss, zumindest für dieses Jahr“, fügte er hinzu.
Mit Reinhard Karl vor dem Zelt
Ich schlief tief und fest und wachte um 5 Uhr früh auf. Reinhard steckte den Kopf zum Zelt hinaus: „Wolkenlos – heute und morgen packen wir’s!“
Ich drehte mich zur Seite und zog mir den Schlafsack über die Ohren. Reinhard lag auf dem Rücken, ein wenig hatten wir noch Zeit, bis das Eis im Gaskocher geschmolzen war. Aber plötzlich ein Rauschen und Dröhnen – ich hörte Reinhard noch sagen, „was ist das?“, und dann fiel über uns eine Eislawine, so gewaltig und so schnell, dass wir keine Zeit hatten, nur irgendwie zu reagieren. Ich hielt die Hand über den Kopf, versuchte, meine Füße zu bewegen, aber sie waren eingeklemmt wie in einem Schraubstock. Ich hörte und roch Gas ausströmen. Es war dunkel um mich, ich rief „Reinhard, Reinhard, Reinhard“, aber es herrschte Stille, nur das Gas strömte. „Eigentlich ist Sterben gar nicht schwer“, dachte ich, und es war wie eine Erlösung, als ich in Bewusstlosigkeit fiel.
Noch erscheint alles friedlich: Wolfi und Reinhard am Vorabend des Unglücks
Später wird langsam alles um mich herum klar. Ich liege in drei Schlafsäcke eingewickelt im Zelt der Sherpas. „Wo ist Reinhard?“, stammle ich. Große Augen, steinerne Gesichter. „How is Reinhard?“, quäle ich heraus. „Not good, not bad“, antwortet Maila Pemba. Langsam versuche ich mich aufzurichten. Den rechten Fuß kann ich kaum bewegen, jede Bewegung tut mir weh. Langsam begreife ich, ich bin am Leben, ich lebe noch. „Is Reinhard dead?“, frage ich, obwohl ich es schon in Maila Pembas Augen sehe. „Yes, he is dead.“