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Prolog
Zeitsprung

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Jean Claude steuerte sein Binnenschiff durch den Nebel. Der Franzose hatte kein gutes Gefühl auf diesem letzten Teil der Reise. Durch die leicht geöffnete Tür des Ruderhauses drang das gleichmäßige Geräusch des Dieselmotors.

Seine Kollegen hatten ihm schon viel von diesem Fluss erzählt. Durch den Nebel warf er einen kurzen Blick auf die Beschriftung der riesigen Halle der Cruise Liner Werft. Über diesen schmalen Fluss manövrierten sie die Kreuzfahrtschiffe zur Nordsee?

Bei der Abfahrt in Delfzijl war die Ems noch sehr breit gewesen, aber mit jedem Kilometer in Richtung Leer und Papenburg wurde das Fahrwasser des Flusses enger.

Jean Claudes Frau stellte zwei dampfende Kaffeetassen auf den kleinen Tisch am Ruder.

»Marie, schau mal, hier bauen sie die schönen Kreuzfahrtschiffe.«

»Warum bauen sie die nicht gleich an der Küste?« Typisch Marie. Immer vernünftig und überlegt.

»Ich weiß auch nicht – soll man die Deutschen hierfür bewundern …«

»… oder für verrückt erklären?«, vollendete Marie seinen Satz. »Nichts gibt es umsonst. Oder sind dir noch nicht die starke Strömung und das schmutzige Wasser aufgefallen? Die baggern sicher auf Teufel komm raus.«

Natürlich hatte er es bemerkt. Hoffentlich setzte ihm der Schlick nicht die Kühlleitungen zu. Bei dieser Strömung ein Motorausfall – nicht auszudenken. Ohne Maschinenantrieb würde das Schiff sofort aus dem Ruder laufen.

Mit einem flauen Gefühl im Magen steuerte Jean Claude sein Schiff weiter durch den Nebel und verdrängte die düsteren Gedanken.

Normalerweise fuhr er nicht bei Dunkelheit und Nebel in einem fremden Gewässer. Für diesen Fluss hatte er nicht mal das erforderliche Patent und sich entschlossen, die Kosten für den vorgeschriebenen Lotsen dann auch gleich noch zu sparen.

Seine Frau hatte ihn angefleht, den Lotsen an Bord zu nehmen, und es war wieder mal zum Streit gekommen, weil einfach nicht genug Geld da war. Jean Claude hatte die Hoffnung gehabt, mit einer frühen Abfahrt in Delfzijl einer Kontrolle zu entgehen. Man hatte ihn schon einmal ohne Lotsen erwischt und er konnte sich noch gut an das hohe Bußgeld erinnern. Außerdem hatte er damals bis zum Eintreffen des Lotsen eine Zwangspause einlegen müssen. Marie hatte sich gewaltig aufgeregt.

Das Schiff befand sich in Bergfahrt, direkt vor ihnen lag die Halter Brücke. Nach der Brücke waren es nur noch einige Flusskilometer, dann wäre die erste Schleuse der Kanalstrecke erreicht. Für das anschließende Kanalgebiet reichte sein Patent aus.

Marie war noch immer sauer auf ihn, weil er ohne Lotsen losgefahren war. Jean Claude hatte auf die dringende Überholung der Hauptmaschine und die gestiegenen Internatskosten für die Kinder hingewiesen. Die Frachtpreise waren durch die billige Konkurrenz aus dem Osten im Keller, deshalb musste er inzwischen Transporte auch in diese für ihn zu entfernten Gebiete annehmen. Die Kanalgebühren, der Sprit und die Lotsgelder verringerten den Gewinn. Eine kaufmännische Katastrophe.

»Vielleicht hätten wir uns doch nicht selbstständig machen sollen«, sagte Marie. Zum wievielten Mal?

»Du tust gerade so, als hätten wir eine Wahl gehabt, Marie. Du weißt doch noch, was der Disponent der Reederei mir vor zwei Jahren gesagt hat: ›Entweder Sie übernehmen das Schiff oder wir sind gezwungen, Sie zu entlassen.‹«

»Jean Claude, wir haben die Unterhaltskosten einfach unterschätzt, als wir das Schiff gekauft haben.«

»Sie werden uns so viel geben, dass wir gerade überleben können«, sagte Jean Claude bitter, »aber nicht mehr. Zum Sterben zu viel und fürs Leben zu wenig! Wir sind genauso abhängig wie vorher, nur dass wir jetzt die Kosten für das Schiff tragen müssen. Es hilft doch nichts, Marie. Versuch, positiv zu denken.«

»Wie weit ist es denn noch bis zur Schleuse Herbrum? Ich bin froh, wenn wir aus dieser fiesen Strömung rauskommen.«

Jean Claude sah auf das Radarbild und verglich es mit der Seekarte. »Wir sind direkt vor der Halter Straßenbrücke. Ich leuchte mal den Brückenpegel an. – Sieben Meter Luft. Kein Problem, Marie. Nur noch ein paar Kilometer und wir haben es geschafft.«

Immer ein mulmiges Gefühl unter einer Brücke, dachte Jean Claude.

Er erstarrte, als ein dumpfer Schlag das Ruderhaus traf.

»Jean Claude! Ich denke, wir hatten genug Platz unter der Brücke!«, rief Marie erschrocken.

»Halt bitte das Ruder. Ich seh nach!«

Jean Claude riss die linke Ruderhaustür auf und starrte nach oben. Für einen Moment konnte er durch den Nebel die Brücke erkennen und glaubte, den Schatten einer Person am Geländer zu sehen.

Er warf einen Blick auf den vorderen Mast und die Radarantenne. »Alles heil geblieben, Ich sagte doch: genug Platz.« Erst jetzt bemerkte er, wie blass das Gesicht seiner Frau war. »Marie, es ist alles in Ordnung. Beruhige dich.«

Im selben Augenblick sah Jean Claude, worauf seine Frau starrte: Die Scheibenwischer zogen einen blutroten Schmierfilm über das Fenster des Ruderhauses.

»Marie, achte auf den Kurs. Ich sehe auf dem Dach nach. Es ist sicher ein Dummejungenstreich. Bestimmt ein Farbbeutel!« Sein Magen verkrampfte sich, als er nach draußen ging und über die Leiter auf das Dach des Ruderhauses kletterte.

Ein länglicher Gegenstand lag auf dem Dach. »Oh Gott, nein. Bitte nicht.«

Mit zittrigen Knien ging er darauf zu. Was sein Unterbewusstsein bereits registriert hatte, wurde nun zur Gewissheit. Ein menschlicher Körper lag in verkrümmter Haltung auf dem Dach, mit dem Bauch in einer Blutlache, die langsam über die Kante lief.

Er zwang sich, den Körper umzudrehen. Vielleicht war es ein Selbstmörder und man konnte ihm noch helfen. Jean Claude starrte sekundenlang in das Gesicht des Fremden. Wie sollte er sich verhalten? Der Anblick verursachte Grauen und Übelkeit. Trotzdem zwang er sich, nach dem Puls am Hals des Mannes zu fühlen.

Es gab keinen Zweifel: Diesem armen Kerl war nicht mehr zu helfen. Jetzt erst fiel Jean Claude eine klaffende Wunde am Hals des Toten auf. Vorsichtig schob er die offene Strickjacke des Mannes beiseite und fand weitere Wunden. Jean Claude war kein Fachmann, aber ein Selbstmord war das nicht. Dieser Mann war erstochen worden.

Der Franzose dachte an die dunkle Gestalt, die er kurz am Brückengelände gesehen hatte.

Ein Toter auf seinem Schiff. Das bedeutete eine Menge Ärger. Was sollte er nur tun? Seine Gedanken überschlugen sich. Er wusste nur eins: Die Leiche musste sofort verschwinden, mit dieser Sache durfte und wollte er nichts zu tun haben.

Er rannte zurück ins Ruderhaus. »Marie, kommst du klar? Ich sagte doch: Dummejungenstreich. Ich bring das in Ordnung.«

Jean Claude schaltete die Sicherung für den kleinen Bordkran an und stieg zurück aufs Dach. Mit der Fernbedienung steuerte er den Kranausleger in die Nähe der Dachmitte. Er zog dem Toten die ohnehin schon halb ausgezogene Strickjacke mit dem Greenpeace-Symbol herunter und wischte damit die Blutlache auf. Dann legte er die Jacke auf das Gesicht des Toten. Er schwenkte den Ausleger mit dem darauf liegenden Körper nach außenbords und ließ ihn hin und her schwingen, bis der Körper endlich vom Ausleger hinunter in den Fluss rutschte.

»Mein Gott, Jean Claude, was treibst du da draußen?« Maries ungeduldige Stimme drang aus dem Außenlautsprecher an Deck.

»Die haben uns Schlachtabfälle aufs Dach geworfen, echt eklig. Ich mach nur noch etwas sauber.« Etwas Besseres war ihm so schnell nicht eingefallen. Marie durfte niemals die Wahrheit erfahren. Sie hätte darauf bestanden, die Polizei zu alarmieren. So eine Geschichte konnte das Ende ihrer Ehe bedeuten.

Er wollte Marie und sein Schiff nicht verlieren und es reichte, wenn einer Albträume hatte.

Jean Claude zwang sich, seine Gefühle unter Kontrolle zu bekommen, als er das Ruderhaus betrat. Marie blickte ihn nicht an, wie hypnotisiert starrte sie auf den Scheibenwischer. Kein gutes Zeichen. Jean Claude ging hinunter in die Kombüse und wusch sich die Hände. Im Ruderhaus zurück, streichelte er beruhigend ihre Schulter und schaltete den Autopiloten ein.

Sie drehte sich zu ihm um und er nahm sie in die Arme und drückte sie fest an sich. »Du, wir hatten einfach nur Pech, dass wir gerade unter der Brücke waren und uns die Sachen aufs Dach gefallen sind.«

Emsgrab

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